Leserbriefe zur Rezension

Von betrunkenen Barbaren, königlichen Dummköpfen und pittoresken Landschaften

Frauke Geyken über die Deutschlandbilder der Briten im 18. Jahrhundert

Von Tilman Fischer


Bernhard Feistel schrieb uns am 24.06.2004
Thema: Tilman Fischer: Von betrunkenen Barbaren, königlichen Dummköpfen und pittoresken Landschaften

Sehr geehrte Damen und Herren,

Das Problem der meisten Rezensenten besteht darin, dass sie neben dem zu besprechenden Buch nicht auch noch die Quellen des Autors kontrollieren koennen. Gerade bei Wissenschaftlern hofft man, sich verlassen zu koennen.
Waehrend ich den letzten Teil von Tilman Fischers Rezension nur bestaetigen kann, soll die vorliegende Rezension als Ergaenzung dienen:
Frisierte Bilder - gesiebte - Wahrnehmungen - gefundene Stereotypen

Frauke Geyken ist es in Gentlemen auf Reisen. Das britische Deutschlandbild im 18. Jahrhundert auf beeindruckende Weise gelungen, aus einem vielschichtigen, interessanten und bunten Material eine Schwarzweißaufnahme herauszufiltern. Abgesehen davon, daß auch einige nicht unbedeutende Ladies in Deutschland unterwegs waren, ergibt sich das britische Deutschlandbild keineswegs allein aus einer selektiven Anthologie stereotyper Vorstellungen.
Die auf den ersten Blick beeindruckende Fülle des aufgeführten Quellenmaterials steht in eklatantem Widerspruch zu den daraus gewonnen Erkenntnissen, welche wiederum in einem viel zu absoluten Ton vorgetragen werden. Worte wie "keinerlei", "uneingeschränkt", "allumfassend", "stets" oder "nirgendwo" bringt Geyken gelegentlich in einem einzigen Satz unter. Man hat oft den Eindruck, die Autorin hätte im Index oder Inhaltsverzeichnis ihrer Quellen herumgeblättert, um nach Belegstellen für vorher festgelegte Thesen zu suchen. Es wimmelt von Widersprüchen und sachlichen Unrichtigkeiten, die teilweise die Dimension ungewollter Satire erreichen, besonders dann, wenn Geyken den benutzten Autoren Unkenntnis unterstellt oder sie gar verbessert.
Behauptungen oder Grundaussagen wurden häufig mit Zitaten aus einer völlig anderen Zeit illustriert, diese wiederum oft verstümmelt oder gelegentlich gar eingesetzt um das Gegenteil der ursprünglich beabsichtigten Aussage zu "beweisen". Beobachtungen vieler Reisender versetzte Geyken zumeist ins Jahr der Buchauflage (und nicht immer der ersten!), was besonders dann schief ging, wenn sie Übergänge zeitlich genau festlegen wollte; vor allem aber hat sie Wahrnehmungen vieler Reisender, die ihren simplen Thesen widersprochen oder diese zumindest relativiert hätten, souverän ausgeblendet.
Um sich besser auf das Herausarbeiten von Stereotypen konzentrieren zu können, gab die Autorin vor, daß es "keineswegs Gegenstand dieser Arbeit" war, zu untersuchen, ‘ob die einzelnen Ereignisse treffend dargestellt wurden’. Im Royal Plural verkündet sie: "Wir wollen nicht wissen, wo Rutzenbuttel liegt, sondern herausfinden, warum der britische Reisende es nicht kennt und welche Aussagen dies über ihn selbst zuläßt." Es ist schon seltsam genug, daß Geyken nur wenige Seiten später, und sogar in einer Kapitelüberschrift, genau diese Frage stellt; ihr Argumentationsgebäude wird aber durch die Tatsache auf den Kopf gestellt, daß einige britische Reisende Ritzebüttel (Teil des heutigen Cuxhafen, B.F.), welches mit seiner Lage an der Elbmündung für britisch/hannoversche Interessen auch nicht unerheblich war, ausführlich beschrieben. Wieso ist zudem ein Ort unbekannt, weil er im Lexikon steht?
Die Autorin meint, weil sich ”die Kenntnis der geographischen Gegebenheiten dem heutigen Leser orthographisch verschleiert präsentiert”, wären Orte nicht bekannt oder identifizierbar. Während man sich über derartige Worte aus der Feder einer Historikerin ohnehin wundern muß, die "amüsiert" von Boxtehude liest, und Grypswalde "als eine durchaus passende Bezeichnung empfindet", ist hinzuzufügen, daß die meisten Reisenden in der Regel verschiedene Schreibweisen angaben und nicht selten lateinische, slawische und deutsche Varianten.
Auf S. 119 mokiert sich Geyken über den Reisenden Blainville, weil dieser den Fürstbischof von Bamberg "fälschlicherweise" als Kurfürsten bezeichnete. Aber der Bischof von Bamberg, Lothar Franz von Schönborn, war eben gleichzeitig Kurfürst von Mainz, und Blainville gab selbst dessen Alter korrekt an.
Wenn die Autorin auf S. 272 den "Wandel der Naturbetrachtung" zwischen 1743 (Taylor) und 1794 (Gray) am Beispiel von Bonn "sehr deutlich" belegt, kann der Leser nicht wissen, daß auch Taylor die Gegend bei Bonn ähnlich begeistert beschrieben hatte wie "gut 50 Jahre später" Gray. Um zu vertuschen, daß es sich nicht um dieselbe Lokalität handelt, hat sie zusätzlich Taylors exakte Entfernungsangaben verändert, und das 2 leagues von Andernach entfernte Zinzick, bei dem die Autorin auf S. 60 noch fragte, "in welchem Winkel der Welt" es sich befindet, einfach durch Bonn ersetzt.
Aber es sind nicht nur Manipulationen der Quellen die auffallen, häufig widerspricht sich die Autorin auch selbst. Hierfür ein charakteristisches Beispiel: Von Thomas Nugent berichtet sie auf S. 70, daß er in den 1750er Jahren Deutschland ausführlich bereist hätte, um ihn dann auf S. 283 zu jenen Autoren zu zählen, die Deutschland nach 1763 erstmals bereisten.
Wie viele inkorrekte Informationen Geyken wiederum bei Lady Montagu auf kürzestem Raum unterbringen kann, läßt sich höchstens damit erklären, daß sie eigentlich nur von Gentlemen berichten wollte. Abgesehen davon, daß die "hämische Lady" außer antikatholisch bisweilen auch sehr england- und gesellschaftskritisch war, ist ihr "sehr persönlich geprägtes Reisejournal" eben gerade nicht erhalten, sondern einige Briefe, welche wiederum, wenn sie Deutschland betrafen, nicht aus der Türkei, sondern aus den jeweiligen deutschen Städten geschrieben wurden. Die Reise selbst fand nicht 1714-1716, sondern 1716-1718 statt, was zur Zeit der Hannoverschen Thronfolge kein geringer Unterschied war. Selbst das schöne Bild von den ‘rotten teeth, dirty rags’, welches Geyken in dem benutzten Brief von Lady Montagu vom Schrein der Heiligen Drei Könige im Kölner Dom inspiriert sein läßt, hat den Schönheitsfehler, daß in dem entsprechenden Brief vom Dom überhaupt nicht die Rede ist, sondern von der Jesuitenkirche und St. Ursula.
Es würde ein Buch ähnlichen Umfangs erfordern, sämtliche Inkorrektheiten anzuzeigen, den ursprünglichen Zusammenhang wiederherzustellen und relativierende Gegenbeispiele zu bringen; wenn aber ein Zitat ‘Rain, rain, eternal rain, and wind …’ als Erklärung für die Benutzung von Öfen oder eines kälteren Klimas herangezogen wird, es sich aber tatsächlich um ein Sommergewitter während einer Floßfahrt von München nach Wien handelte, ist das nur noch höherer Blödsinn, ebenso wie unerklärte Behauptungen, "man wußte über Deutschland so wenig wie über Indien", (wo sich die Autorin ausgerechnet auf Edmund Burke berief), und von Luther nicht viel mehr, als daß er "kein Quaker [sic!]" sei.
Wenn die Autorin den Spannungsbogen zwischen "Unkenntnis und Desinteresse" der Briten am Anfang des 18. Jahrhunderts und einer Deutschlandbegeisterung ab dessen Ende nur durch Unterschlagung und Verfälschung von Quellen herstellen kann, entzieht sie ihren Thesen den Boden. Es bleibt einem daher nichts anderes übrig, als den Leser auf die Originalliteratur zurückzuverweisen. Vieles dürfte durch Filmreproduktionen auch außerhalb Großbritanniens relativ leicht zugänglich sein, während bei einigen Autoren Nachdrucke, Neuauflagen und sogar deutsche Übersetzungen existieren.
Besonders empfehlenswert erscheinen John Toland, Lady Montagu, Thomas Lediard, John Wesley, Richard Pococke, John Douglas, Jonas Hanway, James Boswell, Charles Burney, John Moore, Hester Lynch Piozzi oder Nathan Wraxall. Aber auch so frühe Autoren aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wie John Ray oder Edward Browne hatten eine Detailkenntnis von Deutschland, von der man sich nach der Lektüre des vorliegenden neuesten Standes der Forschung keine Vorstellung machen kann.