Dr. Gerald Bär schrieb uns am 03.06.2005
Thema: Esther Kilchmann: Im Dickicht der Motivgeschichte
Geräusche aus der Wunderkammer
Manchmal sagen Rezensionen weit mehr über den Rezensenten aus als über das zu besprechende Werk. So auch im Falle von Esther Kilchmanns Artikel „Im Dickicht der Motivgeschichte“ über mein Buch Das Motiv des Doppelgängers als Spaltungsphantasie in der Literatur und im deutschen Stummfilm. Darin geht sie erst gar nicht auf das interdisziplinäre Erkenntnisinteresse des Autors (S. 1-8) ein, sondern suggeriert ihrem Leser eine Fragestellung, die sich der Autor in dieser Form gar nicht gestellt hat, nämlich „an welchen Schnittstellen [?] ein bestimmtes Motiv auftaucht und welche diskursiven Funktionen es erfüllt“. Wenn mit der Frage nach den „Schnittstellen“ die Analyse der Stellen im jeweiligen literarischen Text gemeint ist, an denen der Doppelgänger zum Vorschein kommt, dann meine ich genau das mit meinen kommentierten Zitaten geleistet zu haben.
Was Arbeiten anbelangt, deren Ansätze sich auf die Diskursanalyse gründen, so kann diese zweifellos strukturellen Defiziten vorbeugen und den Text wie ein Leitfaden vereinfachend durchziehen. Besonders amüsant finde ich aber, wenn sich bei guten (nicht nur diachronen) Untersuchungen dieser Art unweigerlich herausstellt, dass sich die vom eifrigen Philologen so puristisch-künstlich herausgeschälten Diskurse gegenseitig „kontaminiert“ (!) haben.
Offensichtlich hätte sich Kilchmann aber einen solchen Ansatz für die Motivgeschichte des Doppelgängers gewünscht und es würde mich freuen und auch nicht wundern, wenn eine solche demnächst unter diesen Vorzeichen erscheinen sollte.
Weniger amüsant finde ich den Versuch, meine Arbeit mangels diskursanalytischer Elemente und durch aus dem Zusammenhang gegriffene Verweise auf die Titel einiger Kapitel in den Bereich der Unwissenschaftlichkeit zu drängen. (Sollte J.M.R. Lenz mit seiner im Neuen Menoza geäußerten Kritik an der engstirnigen Systemtreue der Deutschen etwa doch recht gehabt haben?) Natürlich ist es schwierig, eine angemessene Buchkritik in wenigen Zeilen zu verfassen, auch müssen in einem Rezensionsforum Beiträge auftauchen, die für Diskussionsstoff sorgen, aber wer über wissenschaftliche Werke urteilt, sollte sich nicht ausschließlich am eigenen Erwartungshorizont orientieren, sondern den Text auch an den Zielsetzungen des Autors messen.
Gefreut hat mich allerdings, dass Kilchmann mein Buch denjenigen empfiehlt, die sich weiter mit dem Motiv des Doppelgängers beschäftigen wollen. Damit hätte meine beinahe unwissenschaftliche „Rohfassung“ nicht nur gezeigt, „wie der Film ein neues Paradigma des Phantastischen und damit des Doppelgängers schafft“, sondern darüber hinaus noch den ‚wissenschaftlichen Diskurs’ gefördert. Was will man mehr?
Noch ein Tipp: Wem Webbers gute Darstellung über literarische Doppelgänger (immerhin ca. 400 Seiten), deren Ansatz eher im Einklang mit Kilchmanns Vorstellungen steht, nicht „konzise“ genug ist, kann sich in einer einschlägigen Motivgeschichte (z.B. die von E. Frenzel) darüber informieren.
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