Leserbriefe zur Rezension

Lieber runterkippen

Eine kurze Polemik gegen das Krimigenre

Von Peter O. Chotjewitz


Wolfgang Körner schrieb uns am 06.09.2005
Thema: Peter O. Chotjewitz: Lieber runterkippen

Nana, nichts gegen die intelligenten Sprachspiele eines Raymond Queneau, aber sein schönstes Buch Zazie dans le Metro lebt, was denn sonst, von seinen hinreissenden Figuren und dem plot, in dem eine ganze Menge passiert. Leser wollen in erster Linie Geschich-ten, in denen sie zum Beispiel mit der aufsässigen Göre Zazie durch Paris spazieren können. Wenn das so raffiniert erzählt ist, wie dieser Queneau - um so besser. Den plot für unerheblich zu erklä-ren, heißt, das Kind mit dem Bade ausschütten.
Es ist ein Plädoyer für formalistische Texte, für die sich bestenfalls Spezialisten interessieren, die über hinreichde literarische Erfah-rung verfügen. Sie ist Voraussetzung, solche meist arg lebensfernen Texte zu rezipieren. Nichts gegen den formal und sprachlich über-zeugend gestalteten Text. Aber ein Text, mit dem mir der Autor in erster Linie vorturnt, wie großartig er den tückischen deutschen Konjunktiv zu handhaben versteht und wie raffiniert er Textelemente zu permutieren vermag, interessiert mich - nun ja, bestenfalls am Rande. Sind etwa Hermann Hesses Steppenwolf oder sein Siddharta sprachliche Kunstwerke, die man genießerisch wie ein Glas Wein über die Zunge rollen läßt? Nein, der plot ist es, der noch immer Millionen junge Menschen fasziniert - und erfreulicherweise jenen Kunsthonig subventioniert, ohne den der literarische Con-naisseur nicht leben mag. Nichts dagegen: das kleine Medium Buch ermöglicht noch immer eine Vielfalt, zu der Massenmedien nicht fähig sind. Eine Literatur ohne der Ripley der Highsmith, ohne den Marlowe Chandlers und, ja, den dünnen Mann Hammetts wäre für mich eine ärmere Literatur. Sollten wir es nicht besser den Ranickis überlassen, die eigene subjektive Meinung ähnlich zu handhaben, wie Herr Prokrustes sein zurecht gefürchtetes Bett?


Wolfgang Haan schrieb uns am 22.09.2005
Thema: Peter O. Chotjewitz: Lieber runterkippen

Wie wahr, wie wahr; leider!

Bei der Polemik von Hr. Chotjewitz fehlen mir allerdings zwei Punkt zugunsten der Lektüre von Kriminalromanen, die möglicherweise die aufgeführten Qualitätsmängel ausgleichen könnten. Lassen Sie mich also in die Bresche springen für die zeitgenössische Kriminalliteratur.

Der erste und möglicherweise lebensrettende ist das Erlangen von fundierten Kenntnissen der menschlichen Anatomie, medizinischen Fach- und Grundbegriffen aus der Forensik und Pathologie sowie chemischer, biologischer und physikalischer (Zersetzungs)-Prozesse.

Gehörten früher "Pschyrembel" und medizinische Ratgeber á la "Wie Sie Ihren Arzt davon abhalten, Sie umzubringen" (Vernon Coleman - Kopp - März 2005) in jeden repräsentativ ausgestatteten Bücherschrank, so reicht es heutzutage völlig aus, und übertrifft in der detaillierten Darstellung fast jede medizinische Vorlesung, sich mit den Standardwerken zeitgenössischer Kriminalliteratur einzudecken, um für (fast) jeden Fall gerüstet zu sein.

Und darüber hinaus könnte durch diese Lektüre endlich auch wieder ein unverfängliches Gespräch mit den pubertierenden Kindern möglich werden; unvergeßlich und herzerwärmend der seit Jahren verloren geglaubte staunende, ja fast bewundernde Kinderblick wie weiland bei der weihnachtlichen Bescherung, wenn man mit Biologie-Leistungskurs-Niveau über komplizierteste anatomische Prozesse beim gemeinsamen Mittagessen referiert oder fachmännische Kommentare beim gemeinsamen Horror-Video-Abend über sämtliche Waffenarten, Kampftechniken und Wirkungen auf die korrekt benannten Körperteile und Organe abgibt.

Falls Ihre Kenntnisse noch nicht ausreichend ausgebildet sind, empfehle ich hier Romane von Mo Hayder, Patricia Cornwell oder Kathy Reichs.

Der zweite wichtige Punkt ist die Zeitersparnis beim Lesen von Krimis. Herr Chotjewitz führt an, dass sich ein guter Text erst bei der Langsamkeit der Lektüre offenbart, ja dass ein guter Text sogar als schlecht erscheinen kann, wenn man ihn zu schnell genießt.

Aber mal ehrlich gefragt: wer hat denn dazu heute noch Zeit? Arno Schmidts Rechnung, wie viele Bücher in einem Leben gelesen werden können, mag ja noch in den sechziger Jahren Gültigkeit gehabt haben. Die Realität hat diese Rechnung jedoch schon längst überholt und vervielfacht.
Wer glaubt denn, dass irgend ein Krimileser die ganzen Banalitäten liest, die er selber jeden Tag beobachtet und lebt?

Ein progressiver Krimileser geht doch folgendermassen vor: Alles, was nicht in direkter Rede erzählt oder geschrieben steht, wird überlesen, da in diesen Textpassagen ohnehin nichts weiter passiert als das der Kommissar von A nach B fährt um mit C zu reden. Meistens ist das fruchtlos weil in der Zwischenzeit D bei E angerufen hat und der Verdacht nun auf F fällt. Dies wird Kommissar A bei seiner Rückkehr von E erzählt - in direkter Rede.
Auch die Einführung von sogenannten "Konferenzen" oder Teambesprechungen in Krimis ist ein genialer Schachzug.
Jeder, der beruflich regelmäßig an solchen Treffen teilnehmen muss, weiß, dass bei diesen ohnehin nichts besprochen wird, was nicht schon besprochen wurde. Somit führt der Krimi durch diesen Kunstgriff zwei elementare Dinge ein: zum einen die Realitätsnähe und zweitens die Psychologie; was ich evtl. vorher beim Überblättern verpaßt habe, werde ich, wie im wahren Leben, irgendwann nochmal vorgekaut bekommen (das kollektive Unterbewußtsein läßt grüssen).

Wenn man als Leser diesen Punkt erfolgreich anwendet, ist es problemlos möglich, an einem Tag mehrere Romane z. B. von Mankell durchzulesen; und für diejenigen, denen auch das noch zu langsam geht, gibt es ja noch sogenannte Literaturverfilmung im Fernsehen.