Leserbriefe zur Rezension

Die Geheimnisse im Bernstein

Günter Grass' Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel"

Von Peter Mohr


Armin Erlinghagen schrieb uns am 30.08.2006
Thema: Peter Mohr: Die Geheimnisse im Bernstein

In Sachen Mitgliedschaft Günter Grass in der Waffen-ss ein Urteil zu fällen, gleich in welchem Sinne, ist leicht; ich überlasse es anderen, dies zu tun. Mein Beitrag zur Wahrheitsfindung innerhalb der zu erwartenden Kontroverse beschränkt sich auf eine Erinnerung, die mir darum unerlässlich zu sein scheint, weil sie beweist, dass man sich in der fraglichen Sache auch ganz anders hätte verhalten können – anders verhalten hat – als Günter Grass. Dass das gemeinte Gegenbeispiel, der Autor Heinz Küpper, Jahrgang 1930, in Deutschland weitgehend vergessen ist, beweist nichts: es ist Teil des Problems. In unseren Nachbarländern und in Russland ist er keineswegs vergessen. Dass der Vorgang so lange zurückliegt, besagt noch weniger, weil genau darin die Pointe meiner Einlassung liegt.
Im Figaro Littéraire (Paris) erschien im Frühjahr 1967 ein längeres Interview mit dem Titel „Endlich ein Deutscher, der sich erinnert, Nazi gewesen zu sein!“ („Enfin un Allemand qui se souvient d’avoir été nazi!“). Gegenstand des Gesprächs, das der renommierte französische Fernsehjournalist Pierre Dumayet mit dem deutschen Autor Heinz Küpper, damals 36 Jahre alt, führte, war dessen Roman „Simplicius 45“ (Köln 1963; Neuausgabe Weilerswist 1997), in dem dieser am Beispiel eines rheinischen Provinzstädtchens den alltäglichen Faschismus in Deutschland in den Jahren 1938 bis 1944 aus der Perspektive eines 8- bis 16jährigen sprachmimisch perfekt, wenn auch in vielfältiger Brechung und Spiegelung, darstellt. (Der Roman war gerade in französischer Übersetzung erschienen; Übersetzungen ins Italienische, Englische, Amerikanische lagen bereits vor, Übersetzungen ins Niederländische, Dänische, Polnische und Russische, teils in hohen Auflagen, folgten.) In besagtem Interview findet sich folgende Passage:
P.D.: Was wollten sie einmal werden?  
H.K.: SS-Offizier.
P.D.: Und wann, denken Sie, hätten Sie diesen Rang erreicht?
H.K.: 1948.
Der zitierte Dialogausschnitt ist, außer durch seinen Inhalt, vor allem darum von Interesse, weil er in der strittigen Sache die Identität des Autors mit dem fiktiven Ich-Erzähler des genannten Romans belegt. Der Dialog nimmt an dieser Stelle offensichtlich Bezug auf eine Sequenz aus dem (im Kern autobiographischen) Roman „Simplicius 45“; sie lautet: „Ich konnte wegen Kurzsichtigkeit nicht zur Luftwaffe, aber ich hatte etwas viel Besseres, ich wurde Offizier der Waffen-SS. Jedoch wann? 1948. Dann war der Krieg bestimmt schon aus. Zwar munkelte man, für freiwillige Meldungen würde das Alter auf sechzehn herabgesetzt, aber auch das nützte mir jetzt so wenig wie die Aussicht, dass die Erde schon in zwei und nicht erst in drei Milliarden Jahren wieder vergehen würde.“ (S.35) Der Roman zeichnet in anschaulicher Weise das Bild eines jungen Deutschen, der bereits als Kind SS-Mitglieder bewundert und beneidet, als Jugendlicher – in den Worten des Vaters – „darauf brennt“, endlich zum Mitglied der Waffen-SS zu werden und mit fortschreitendem Alter von sich als „zukünftigem SS-Offizier“ spricht.
Pierre Dumayet, der französische Interviewer des jungen Heinz Küpper, berichtet in der Einleitung zu seinem Interview: „Wir haben die deutsche Nachkriegsliteratur geliebt, weil sie beseelt war von Schuldbewusstsein (culpabilité). Dieses Schuldbewusstsein finden wir hier [in Heinz Küppers „Simplicius 45“] wieder in der Entschlossenheit, dem Willen die Wahrheit öffentlich zu machen.“ Solcher Wille zur Wahrheit hat aber, nach meinem Urteil, zur unerlässlichen Voraussetzung, dass der Autor sich selbst in den Prozess der Wahrheitssuche mit einschließt. Zu konstatieren ist aber: Günter Grass, der imponierende Aufklärer, hat sich selbst von der Aufklärung ausgeschlossen. Warum, frage ich mich, ist Heinz Küppers (nach nahezu einhelligem Urteil der Kritiker im In- und Ausland) vorzüglicher Roman „Simplicius 45“ in Deutschland alsbald vergessen worden, während ihm in anderen Ländern, zumal in Frankreich, aber auch anderenorts – 65.000 verkaufte Exemplare allein in der Sowjetunion – ein nachhaltiger Erfolg beschieden war? Sollte dies jenem Grass-Syndrom geschuldet sein? (Er hat doch nur das unterlassen, was beinahe alle unterlassen haben.)
Vilma Sturm, die vormalige Literaturkritikerin der FAZ, beschloss ihre Rezension des „Simplicius 45“ (vom 13. Juni 1964) mit folgenden prognostischen Worten: „Wahrscheinlich wird auch dieses Höchstmaß an Grauen die Verstockten noch nicht erreichen – so wie die damaligen Knaben auf die ersten Fotos aus den KZ-Lagern nur mit einem Achselzucken und dem Ausruf „Morgenthau-Plan!“ reagierten. Die schon und noch immer erschrecken, wird es, noch einmal heilsam verstören – nicht zuerst wegen seines Inhalts, sondern weil es mit Kunstverstand, mit sprachlicher Intelligenz und Kraft gemacht ist und somit das Werk eines Autors, dessen Weg wir aufmerksam verfolgen sollten.“
Die direkte, darum unmissverständliche, Aussage des Ich-Erzählers von Küppers „Simplicius 45“, gleich auf der ersten Seite, lautet: „Ich war Nazi [...]“, und dieser Satz wird zum basso continuo des gesamten Romans. klare Ansage nennen Jugendliche heute so etwas. Was Günter Grass über die Lebenslage und Denkweise junger Menschen Mitte der vierziger Jahre zu berichten weiß, ist, darf man den Zeitzeugen Glauben schenken, im wesentlichen zutreffend. Nur: all dies findet sich, mehr als 40 Jahre früher authentischer, genauer und, vor allem, aufrichtiger, in Heinz Küppers erstem Roman. (Alle, die wie Günter Grass verfuhren hätte er beschämen können.) Küpper, Jahrgang 1930, gestorben 2005, ist, anders als Günter Grass, niemals SS-Soldat gewesen – er hat es nur bis zum Funktionsträger erst im Deutschen Jungvolk, dann in der Hitler-Jugend gebracht –, aber er weiß, ist sich sicher: Hätte der Krieg oder die Nazi-Herrschaft angedauert, wäre er SS-Offizier geworden, und er bekennt dies auch – genaues Gegenstück zu Günter Grass’ Praxis in dieser Sache. Und er weiß auch: nach geltenden Normen sind nicht nur Taten, sondern bereits Worte, und nicht nur Worte, sondern bereits Gedanken dem Täter zuzurechnen.
30. August 2006
Armin Erlinghagen