Ein Mixtape mit zehn höchst unterschiedlichen Songs

Nach vier Romanen lotet Benedict Wells in der Geschichtensammlung „Die Wahrheit über das Lügen“ die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fantasie aus

Von Rafael Arto-HaumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rafael Arto-Haumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei Jahre, nachdem Benedict Wells mit seinem allseits gelobten vierten Roman Vom Ende der Einsamkeit (2016) endgültig in die Oberliga der deutschsprachigen Autorenszene vorgedrungen ist, legt er sein neues Buch Die Wahrheit über das Lügen vor. Diesmal ist es kein Roman geworden: In zehn Geschichten beschäftigt sich Wells mit dem Wechselspiel von Realität und einer selbstgeschaffenen Wirklichkeit, die sich in Lügen, Träumereien, Fantasien oder Erinnerungen manifestiert. Es geht vor allem um die Frage, welchen Einfluss jener Wandel zwischen den Welten auf Lebenswege und Verhaltensweisen des Menschen hat. Aber es geht auch um die Fantasie des Autors, der er seine Protagonisten aussetzt, um schreibend auszuloten, wie sie in alltäglichen, aber auch in bizarren Situationen reagieren.

In Die Katze beispielsweise erzählt Wells von einer alten Dame, die ungefragt wildfremden Leuten auf der Straße von ihrer Katze erzählt und wie sie diese hegt und pflegt. Das Ende der Geschichte ist nicht überraschend: Das Tier ist offensichtlich schon lange tot, die alte Dame hat sich in die Fantasie geflüchtet, um der Einsamkeit zu entkommen. Das Scheitern eines Vaters und Managers, Henry, wird in Die Wanderung erzählt. Während einer Bergwanderung kommt Henry die Erkenntnis, dass er zu wenig Zeit mit seiner Familie verbracht hat. Auf dem Rückweg gerät er in ein Unwetter, verläuft sich und muss realisieren, dass er zu spät zur Geburtstagsfeier seines Sohnes kommen wird. Am Ferienhaus angelangt, ergibt sich eine überraschende Wendung: Er scheint Jahre später angekommen zu sein, auf seine Frau macht er einen auffällig verstörten Eindruck. Ob die zuvor geschilderten Vorgänge der Fantasie oder einer demenzhaften Gedächtnisstörung des Protagonisten entsprangen, lässt Wells offen. Nicht offen bleibt hingegen die traurige Erkenntnis, dass der Vater gescheitert ist in seinem Versuch, seinem Leben eine andere Richtung zu geben.

Das Grundschulheim mit dem Untertitel Erinnerungen ist durchaus biografisch geprägt, denn Wells verbrachte selbst einige Jahre in Internaten. Er schildert eine verschworene Gemeinschaft von Jugendlichen, die durch ihr Schicksal unfreiwillig an einem Ort zusammengeschlossen werden. Zur Rückversicherung der Stellung innerhalb der Gruppe und zum Kampf um Anerkennung gehört es, dass alle Jugendlichen abenteuerliche Lügen über erfolgreiche Eltern, Reichtum und soziale Herkunft erzählen. Gleichwohl weiß doch jeder von ihnen, ohne dass es ausgesprochen würde, dass allein der Grund ihres Zusammenseins ihre Fantasiegebilde entlarvt.

Die längste Geschichte, die dem Buch den Titel und auch die inhaltliche Klammer gegeben hat, ist Das Franchise oder: Die Wahrheit über das Lügen. In bester Science-Fiction-Manier wird die Zeitreise des erfolglosen Drehbuchautors Adrian Brooks geschildert, der mit einem Fahrstuhl in die Vergangenheit der 1970er Jahre fährt, um mit der von Georg Lucas gestohlenen Idee zu Star Wars eben diesen Film zu realisieren und den Drehbuchautor und Regisseur auszubooten. Gekonnt spiegelt Wells hier die dem Leser bekannte Realität mit einer überraschenden, neuen Realität, indem er erzählerisch mit den Zeitebenen spielt und das cineastische Wissen jeweils des Lesers, des Protagonisten und der Figur des Journalisten, dem Brooks die „Wahrheit“ über die Zeitreise offenbart, virtuos kontrastiert.

Besonders sind die Geschichten Die Entstehung der Angst und Die Nacht der Bücher, weil sie direkt mit Wells Roman Vom Ende der Einsamkeit zusammenhängen. Erstere ist ein Kapitel, das Wells aus seinem Roman entfernt hatte, da es seiner Meinung nach den Fokus des Erzählflusses ungünstig verschob. Erzählt wird hier, wie Stéphane, Vater der Hauptfigur Jules, als Jugendlicher von seinem Vater misshandelt wurde und wie sein Bruder nach langem, tatenlosen Zusehen beherzt einschreitet, um den Vater durch diesen überraschenden Widerstand in die Schranken zu weisen. Die Nacht der Bücher schreibt eine angedeutete Idee im Roman fort und schildert in einer fast filmisch anmutenden Szenerie, wie Bücher einer Bibliothek in der Weihnachtsnacht miteinander zu sprechen beginnen und in menschenähnlicher Eitelkeit um den Platz des besten Buchs streiten.

Die Geschichten, in einem Zeitraum von zehn Jahren entstanden, sind in Erzählweise, Komposition und Umfang erkennbar verschiedenartig. Wells selbst sagt in einem Blog-Interview mit dem Diogenes Verlag, er wollte, „dass das Buch sich wie ein Mixtape anfühlt, mit zehn höchst unterschiedlichen Songs.“ Wie in seinen Romanen erweist sich Wells als guter Beobachter: Menschliche Verhaltensweisen angesichts Lügen, Erinnerungen, Träumereien und Fantasien erhalten trotz der mitunter eigenwilligen Situationen und überraschenden Wendungen durch die erzählerisch entwickelte Zwangsläufigkeit etwas Allgemeingültiges, Archetypisches. Zudem erweisen sie sich nicht nur als Fluchtreflexe, sondern als Integrations- und Überlebensstrategien in einer disparaten Welt: „Er hatte immer gern in seiner Phantasie gelebt.“ (Hunderttausend)

Die Geschichten sind zweifellos intelligent erzählt, mit der für Wells typischen, wohldosierten Sprache sowie einem sicheren Gespür für Kontrapunkte und Wendungen, und ebenso kurzweilig lassen sie sich lesen. Was allenfalls ein wenig auf der Strecke bleibt, ist die erzählerische Raffinesse, die Wells in seinen Romanen beweist. Offensichtlich kann sich in der weitaus kürzeren Form der Geschichte Wells’ Talent, dicht, spannend und atmosphärisch zu erzählen, nicht in Gänze entfalten. Wells selbst sieht den Erzählband als „Spielwiese für Zwischendurch“, er „wollte verschiedene Richtungen ausprobieren“. Das Experiment ist durchaus gelungen; Geschichten folgen, vom poetischen Standpunkt aus, anderen Gesetzen als Romane. Die Wahrheit über das Lügen ist eine unterhaltsame Verkürzung der Wartezeit auf Wells‘ nächsten Roman, an dem der Autor nach eigenem Bekunden schon eifrig schreibt.

Titelbild

Benedict Wells: Die Wahrheit über das Lügen. Zehn Geschichten aus zehn Jahren.
Diogenes Verlag, Zürich 2018.
244 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783257070309

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