Bewahrenswertes letzter Hand

„Stimmen“ versammelt Texte von Wolfgang Herrndorf aus dem Nachlass

Von André SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Schwarz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wolfgang Herrndorf hatte vor seinem Tod im August 2013 mehrere Tage damit zugebracht, sein Werk und seinen Nachlass zu ordnen. In seinem Blog „Arbeit und Struktur“ (als Buch Ende 2013 erschienen) gibt es zahlreiche Passagen, in denen er sich Gedanken macht, was er der Nachwelt hinterlassen wird – mit dem vorgeblichen Nachruhm eines Schriftstellers konnte er nicht viel anfangen –, sowie Passagen, in denen er beschreibt, wie er Teile seines Werkes bewusst vernichtet: „Wieder einen Ordner Prosatexte weggeschmissen,“ schreibt er im August 2010, „schlechtes Zeug, gestern schon einen Packen aufwendiger Zeichnungen, […] meine ersten Comics. Alles schlecht.“ Dieser Prozess des Sichtens und Ordnens zieht sich durch die Jahre, die ihm noch blieben. „Bücher, in die ich mir Notizen gemacht hab, in der Badewanne eingeweicht und zerrissen“, heißt es in einem Eintrag aus dem August 2011, „31 Jahre Briefe, 28 Jahre Tagebücher. An zwei Stellen reingeguckt: ein Unbekannter.“

Und dennoch gab es – abgesehen von den von ihm selbst noch zu Lebzeiten veröffentlichten Werken – Arbeiten, die er für brauchbar hielt, dass sie nach seinem Tod erscheinen konnten. Das grandiose Isa-Fragment etwa, das unter dem Titel Bilder deiner großen Liebe 2014 postum erschien. Und nun also noch Stimmen. Herrndorf hatte das Isa-Stück noch persönlich freigegeben, die in Stimmen versammelten Texte jedoch nicht explizit. Es handelt sich dabei um Texte, so die beiden Herausgeber Marcus Gärtner und Cornelius Reiber (der Lektor bzw. ein Freund Herrndorfs), die vom Autor von der Vernichtung ausgenommen wurden, die sich auf der Festplatte nicht im Ordner „unbesehen löschen“ befanden. Teilweise wurden diese auch schon veröffentlicht, ein Großteil davon im Internet-Forum „Wir höflichen Paparazzi“, in dem Herrndorf unter dem Pseudonym „Stimmen“ unterwegs war.

Was sind das nun für Texte, die in diesem schmalen Buch versammelt sind? In den fünf Teilen zeigt sich nicht nur die ganze Bandbreite des Autors, sondern auch die Heterogenität, die Lust an der Fingerübung und dem Spiel mit den Formen. Retrospektives und Gegenwartsbetrachtungen wechseln sich ab mit Reflexionen zur Kunst und Literaturtheorie. Die zu Beginn des Buches versammelten Texte blicken zurück auf die Jugend, die erste Liebe. Gleich die erste Geschichte über eine Katharina, mit der der Erzähler einen Sommertag verbrachte, hat ein immenses Potenzial. Herrndorf erzählt sie behutsam, stimmig und unsentimental. Bisweilen sind die Selbstcharakterisierungen des Erzählers schonungslos, das Gefühl des Außenseiterdaseins, das Nicht-Dazugehören mit den Händen zu greifen. Ist diese Unsicherheit in den Texten über Kindheit und Jugend noch unbestimmt und eher gefühlt, manifestiert sich dieser Eindruck in den Texten über die Berliner Jahre, jetzt jedoch bewusst und oft ironisch gebrochen, etwa in der bisweilen urkomischen Beschreibung einer Berliner Party und dem trunkenen Rückweg durch den Wald oder in der Geschichte um Joachim Lottmanns Wartburg, der für eine Fahrt ans Meer kurzerhand ausgeborgt wird. Ohne dass Lottmann davon weiß, selbstverständlich. Hier wird die Tschick-Idee ausgetestet – die Lust des Autors am Spiel ist unverkennbar.

Die Texte des dritten Teils sind eher reflektorischer Natur, „Aus der Welt der Perversionen“ versammelt recht heterogen ironische, komische, ernsthafte und polemische Elemente. Die „Erkenntnisse der Flirtforschung“ zu Beginn erinnern an Max Goldt, es gibt Passagen zu Vermeer, Proust und Sterne. Apodiktisch hingegen das Urteil zur Literaturtheorie, das Herrndorf in diesem Teil beinahe nebenbei fällt: „Es gibt keine Literaturtheorie. Es gibt keine guten Gattungen, es gibt keine großen Würfe, es gibt keine Zeitforderungen, es gibt nur die Kunst und den Mist.“ Das ist eine starke Behauptung, in seiner polemischen Zuspitzung ist der Text aber gelungen. Überhaupt gewinnt man auch in Stimmen den Eindruck, dass selbst dem unfertig wirkenden – und das trifft auch auf einige Texte in diesem Band zu – dennoch eine Idee innewohnt, die die Texte aus der Menge herausragen lassen.

Leider gilt dies nur bedingt für den Abschlussteil des Buches. Die Jugendgedichte, die hier versammelt sind, sind nicht uninteressant, jedoch verdeutlichen sie, dass Herrndorf kein großer Lyriker war – was von ihm aber auch nie behauptet wurde. Misslungen sind sie sicher nicht, aber auch keine große Kunst. Auf die kann man nun nicht mehr hoffen, denn Stimmen wird der letzte Band von Wolfgang Herrndorf sein.

Titelbild

Wolfgang Herrndorf: Stimmen. Texte, die bleiben sollten.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2018.
192 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783737100571

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