Der Kondensmilch beim Tropfen zusehen

Inger-Maria Mahlkes Roman „Archipel“ changiert zwischen einem großen Entwurf und gepflegter Langeweile

Von Sofie DobbenerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sofie Dobbener

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Standardfilmszene: gescheitert, in der großen Stadt gescheitert, Rücksturz zur Erde, nach Hause, ins Kinderzimmer.“ Die junge Rosa kehrt nach Abbruch ihres erfolglosen Kunststudiums zurück nach Teneriffa, zurück in das heruntergewirtschaftete Haus ihrer Eltern. Ihr Vater, ein ehemaliger Geschichtsprofessor, verbringt seine Zeit im Club und scheitert jeden Tag aufs Neue daran, die Welt in nüchternem Zustand zu ertragen, während ihre Mutter kaum mehr das Haus verlässt, seit sie als Lokalpolitikerin in einen Korruptionsskandal verstrickt ist.

In der Tochter Rosa vereinen sich nach drei Generationen die Erzählungen der Familien der Bernadottes und der Bautes. Inger-Maria Mahlkes Archipel ist ein großer europäischer Roman, der auf dem kleinsten Raum, einer abgelegenen Insel im Atlantik, ein Bild der historischen Umbrüche in der spanischen Gesellschaft zeigt. Versinnbildlicht wird dies in einer Zeitspanne von fast 100 Jahren über die Familien der Bernadottes, Bautes und der Ruiz, wobei jede von ihnen für eine Gesellschaftsschicht steht. Der Clou des Romans besteht darin, dass die Handlung rückwärts erzählt wird, beginnend mit dem Jahr 2015 bis zum Jahr 1919, dem Geburtsjahr von Rosas Großvater Julio.

Allein um diesen Clou zu erleben, erweist sich der Roman als eine lohnenswerte Lektüre, denn er erzielt einen erstaunlichen Effekt. Ist es in anderen – vorwärtserzählten – Romanen üblich, dass bereits durch die Handlungsstruktur der Eindruck einer Kausalität innerhalb des Lebens erweckt wird, ist das bei Archipel nicht der Fall. Auf ungewöhnlich erfrischende Weise spielt Mahlke genau mit diesem Konzept und zeichnet ein Bild von fehlender Kausalität. Während üblicherweise gerade im Rückblick – auch auf das eigene Leben – der Lebensweg linear und von Kausalität geprägt erscheint, zeigt Archipel exakt das Gegenteil. Eine solche Bestimmtheit herrscht nicht vor, denn im Lebensverlauf hätte sich alles genauso gut auf eine andere Weise ergeben können. Während der Leser bemüht ist, diese Kausalitäten im Text zu entdecken, bietet Mahlke einzig Finten an, die langfristig betrachtet ins Nirgendwo führen. Die Lektüre des Romans wirft Fragen auf und lässt den Leser oft genug allein im Nichts zurück. Verantwortlich dafür sind gerade auch die rückwärts vollzogenen Zeitsprünge, bei denen bis zu vierzehn Jahre für den Leser unthematisiert und unerschlossen bleiben. Charaktere verschwinden, weil sie zur entsprechenden Zeit noch nicht geboren waren, ohne dass ein Ende ihrer Geschichte gegeben wird, während andere Figuren in Erscheinung treten. Dabei beweist Mahlke auf besondere Weise, dass es immer noch der Autor ist, der bestimmt, welche Teile in einer Geschichte erzählt und welche Teile ausgelassen werden.

Aber nicht nur diesen Gedankengang stößt Mahlke kongenial an, sondern macht durch ihre Handlungsstruktur eine erschreckende Entwicklung deutlich, die sowohl für Teneriffa als auch für Deutschland Gültigkeit hat. Während zumindest die Mittelschicht durch Heirat in der Oberschicht aufgeht, ändert sich an der Lage der Unterschicht auch über eine Zeitspanne von 100 Jahren nichts. Wie bereits ihre Mutter arbeitet Eulalia Ruiz als Haushaltshilfe für dieselbe elitäre Familie. Eine Änderung dieser Situation ist dabei nicht in Sicht.

Wer darauf hofft, durch den Roman mehr über die historische Situation in Teneriffa in den letzten 100 Jahren zu verstehen, dem ist mit Archipel nicht weitergeholfen. Zwar werden historische Ereignisse als Kontext verwendet, weitere Erklärungen oder Hintergrundinformationen werden jedoch nicht gegeben. Vielmehr erscheint die parallele Lektüre eines Geschichtsbuches sinnvoll, um den Roman besser verstehen zu können.

Archipel ist ein Beweis für Mahlkes Sprachkunst – jedoch zu einem hohen Preis. Die sich seitenweise häufenden detailversessenen Alltagsbeschreibungen, die eine tatsächliche Handlung vollkommen verschlucken sowie die gelangweilt vor sich hin vegetierenden Charaktere ziehen das erste Drittel des Romans beinahe unerträglich in die Länge. 250 Stunden der Überlebens-Trash-Serie Survivor oder dem Tropfen einer Kondensmilch im Prozess des Gerinnens zusehen – Archipel bietet Beschreibungen von beidem und zunächst nur wenig darüber hinaus. Seite für Seite ist es ein Warten darauf, dass etwas anderes passiert als nur dem Verstreichen der Zeit zuzusehen. Je weiter der Roman sich in die Vergangenheit schraubt, desto mehr floriert er, da die Beschreibungen weniger und die Kapitel kürzer werden. Damit gleicht der Roman beinahe dem Erinnerungsprozess: Aus der Nähe, der Gegenwart betrachtet, ist das Geschehen in all seinen Mikrofacetten wie unter einem Brennglas beschrieben, während – je mehr das Geschehen in die Vergangenheit rückt – eine Erinnerung in Details nur unter erschwerten Bedingungen möglich ist, in deren Beschreibung sich immer mehr Aspekte als fehlend erweisen. Dieser Prozess tut der Handlung im letzten Romanteil jedoch mehr als gut, denn hier beweist Mahlke, dass sie auch mit wenigen Worten und vielen Leerstellen komplexe Beziehungen darstellen kann.

Ein weiteres Manko des Romans geht kongruent mit Mahlkes Detailversessenheit, denn sie schneidet viele Themen an, ohne näher darauf einzugehen. Diese reichen von der Tourismusproblematik auf Teneriffa, der Umweltpolitik und Globalisierung bis hin zum Altern, würdevoller Pflege oder historischen Stoffen wie Faschismus und dem Spanischen Bürgerkrieg. Bereits eines dieser Themen hätte das Potenzial, einen Roman von ähnlicher Länge zu füllen. Stattdessen findet sich der Leser mitten in einem Kaleidoskop wieder, in dem wild und in bunten Farben jeder vorstellbare Stoff an ihm vorbeiwirbelt, ohne dass es ihm ermöglicht wird, auch nur einen Fetzen davon zu ergreifen und festzuhalten.

Trotz – oder vielleicht gerade wegen – ihrer umfänglichen Romankonstruktion zeichnet Mahlke eine Miniaturwelt zwischen Tristesse und Klischiertheit. Die Figur der Ana in ihrer Rolle der ehrgeizigen Frau aus dem Mittelstand, die in die Elite einheiratet, um schlussendlich in einem Korruptionsskandal zu stranden, mutet an, als sei sie einem oberflächlichen Liebesroman entnommen. Das gleiche gilt für ihren reichen Ehemann, der unter dem Porträtblick seiner Ahnen im Privatclub dem Alkohol verfällt, weil er keine Lebensaufgabe hat. Derart klischeehafte Figuren häufen sich über den Roman hinweg, nur um noch Jorge, ausgerechnet einen angehenden Arzt, der als Sozialist allem Anschein nach im Spanischen Bürgerkrieg gefallen war, oder die drogenverkaufende, früh schwangere Tochter der Putzhilfe als Beispiele zu nennen. Statt gut ausgearbeiteter Perspektivfiguren zeichnet Mahlke lediglich grobe Eckpunkte, die zwar durch ihre eindrücklich beschriebenen gescheiterten Lebensumstände bestechen, darüber hinaus jedoch viel der Fantasie überlassen. Besonders durch die elliptische Erzählweise ist eine Identifikation mit den Figuren kaum möglich.

Archipel ist ein Roman, der den hohen Anspruch seiner Autorin an seinen Entwurf offenbart. Genauso bemerkbar ist jedoch, dass sie sowohl auf thematischer als auch auf struktureller Ebene so viele unterschiedliche Dinge anstrebte, dass sie keiner von beiden gerecht werden konnte. Dabei verschwindet eine eigentliche Geschichte wie ein Rohdiamant hinter ausufernden Alltagsbeschreibungen und gewollter Konstruktion.

Die Rezension ist im Rahmen eines Master-Seminars unter Leitung von Jörg Schuster am Germanistischen Institut der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg zum Thema „Literarische Neuerscheinungen: Analyse, Kritik, Rezeption – Die LiteraTour Nord“ entstanden.

Titelbild

Inger Maria Mahlke: Archipel. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018.
432 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783498042240

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