"He said it was a bad dream."

Wieder einmal ist jemand allein auf der Welt. Zu Thomas Glavinics Variation eines Schreckensszenarios: "Die Arbeit der Nacht"

Von Elisabeth KapfererRSS-Newsfeed neuer Artikel von Elisabeth Kapferer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eines der Dauerthemen der Literatur sind Angstvorstellungen - wie zum Beispiel jene, plötzlich allein zu sein auf der Welt, ausgesetzt und auf sich selbst gestellt. Wie überleben, wenn von einem Moment auf den anderen alles anders ist, und keiner da, um einen zu retten? Jonas, der Held aus Thomas Glavinics neuem Roman ist nicht der erste Mensch, der eines schönen Morgens mit der Entdeckung aufwacht, der letzte Mensch auf Erden zu sein. Bis er allerdings die Tragweite der Veränderung, die über Nacht stattgefunden hat, ermessen kann, vergeht viel Zeit - 6 Wochen, die ihn nicht nur quer durch Europa führen, sondern auch an die Grenzen der eigenen Existenz. Denn die Frage, die für Glavinics Helden dabei immer dringlicher wird, ist weniger, wie man in einer ausgestorbenen Welt seine Tage verbringt, sondern wie die Nächte.

Keine Zeichen von Gewalt oder Zerstörung deuten auf eine Katastrophe bestimmbaren Zuschnitts hin. Alles zeigt sich friedlich und aufgeräumt; keine Spuren von Unordnung verweisen auf gewaltsame Vorfälle, die in dieser Nacht auf den 4. Juli stattgefunden haben könnten. Keine Mauer trennt Jonas von seiner gewohnten Umgebung. Er befindet sich nach wie vor in seinem Wien, und abgesehen vom Wegfall der alltäglichen Kommunikationsmittel, mit denen ein durchschnittlicher junger Mann am Beginn des 21. Jahrhunderts seinen Tag zu beginnen pflegt, leidet Jonas keinen Mangel. Die Wasser- und Stromversorgung ist und bleibt intakt, jeder Bedarf an Nahrungsmitteln, Gerätschaften und Fahrzeugen ist ohne Schwierigkeiten zu decken. Jonas muss nicht lernen, wie man Wild schießt oder wie man Kartoffeln und Bohnen anbaut; auch muss er sich nicht vor wilden Tieren schützen. Seine einzige Bedrohung, so real wie in weiter Ferne: das Ablaufdatum der Lebensmittel, die ihm aber vorläufig noch überall und im Überfluss zur Verfügung stehen. Dennoch gibt es eine verwundbare Stelle an Jonas. Marie, die Frau, mit der Jonas lebt, ist in England. Oder vielmehr, sie sollte dort sein.

Die Gefühle über den neuen Zustand sind gemischt. Hat man (wer auch immer, wobei auch immer) Jonas einfach vergessen, übersehen? Keine schmeichelhafte Vorstellung. Oder ist er nun derjenige, als den er sich immer wieder in vielfach variierten Fantasien gesehen hat: als einzigen Überlebenden schwerer Autounfälle, Flugzeugabstürze oder Eisenbahnkatastrophen? "Er hatte ein Überlebender sein wollen. Ein Auserwählter hatte er sein wollen. Der war er jetzt." Es ist eine zweifelhafte Ehre, die ihm da widerfährt. Dennoch verkehrt sich der Wunsch, ein anderer Mensch möge sich irgendwo zeigen, schon bald, sehr bald in sein Gegenteil. Denn es ist Jonas' Zustand nicht wirklich förderlich (wohl aber der Spannung des Romans), dass sein Gedächtnis in der angespannten Situation nicht vollkommen verlässlich zu sein scheint und ihm Streiche spielt. Je größer die Gewissheit ist, alleine zu sein, desto mehr fühlt Jonas sich belauert, beobachtet, bedroht.

"Er schrak aus einem Alptraum auf", lesen wir nach einigen Tagen der Einsamkeit über Jonas. Ein böser Traum sei es gewesen, so wird ein ähnliches Szenario in einem Dylan-Song kommentiert. Doch auf den Alptraum (der nicht etwa die plötzliche Isolation betrifft, sondern Jonas seinen verstorbenen Verwandten begegnen lässt) folgt nicht die Rückkehr in die Normalität der Zeit vor dem 4. Juli, der eigentliche Alptraum beginnt hier erst. Denn die Arbeit der Nacht beschränkt sich nicht darauf, einen Gutteil des Lebens auf der Erde ausgelöscht zu haben, sie gräbt sich nunmehr auch in Jonas ein.

Während er sich untertags mit (auf ihre Sinnhaftigkeit hin durchaus kritisch befragbaren) Dingen beschäftigt, über die er Kontrolle hat, entziehen sich die Nächte seinem Einfluss. Die Spuren rätselhafter Geschehnisse, die sich ihm am Morgen offenbaren, werden noch rätselhafter, als er sich selbst mittels Videokameras auf die Schliche kommen will. Dieser Versuch, mehr Kontrolle zu erlangen, scheitert. Denn der "Schläfer", wie Jonas seine Videoexistenz nennt, wird zur nächsten und größeren Bedrohung eines Verstandes, der ohnehin längst am Kippen ist. Da hilft es auch nicht mehr viel, sich weiter mit Orten und Erlebnissen der Vergangenheit zu beruhigen oder in der eigenen Wohnung Normalität und Ordnung bewahren zu wollen.

Die Arbeit der Nacht, also auch das, was mit Jonas im Schlaf geschieht, folgt keiner Logik. "Wenn das Eine Rätselhafte passieren konnte, dann konnte in Zukunft alles passieren", liest man bei Herbert Rosendorfer. Der Schläfer tritt wiederholt und erfolgreich den Wahrheitsbeweis dazu an. Dem Rätselhaften versucht Jonas lange das Geordnete entgegenzuhalten, der wachsenden Verstörung, die vom Schläfer ausgeht, begegnet er, als sonst nichts mehr hilft, mit Schlafentzug. Dem einzig Lebenden in der ausgestorbenen Stadt wird immer wieder der Tod zum Thema, und wie ein Leitmotiv erscheinen die Knochen, von denen mehrfach die Rede ist. Zunächst erblickt Jonas mit größter Faszination seinen eigenen Fingerknochen. Ungeschicklichkeit im Umgang mit dem Brotmesser macht es möglich: "Was er da sah, hatte noch nie ein Mensch gesehen." Weniger anziehend auf ihn wirken die Katakomben unterhalb des Stephansdoms mit ihren Knochenbergen, aber um das Grab der ehemaligen alten Nachbarin kommt Jonas nicht herum. Ihr Grab ist eine der letzten seiner Stationen, und hier findet er immerhin teilweise Antwort auf seine Fragen: die begrabenen Toten sind immer noch da. Was mit den Unbegrabenen geschehen ist, erfährt er so nicht. Jonas denkt an Scott und Amundsen. Der Leser denkt an Jonas.

Wer alleine übrig bleibt auf der Welt, kommt bestimmten Unannehmlichkeiten nicht aus, der Angst vor der Nacht zum Beispiel oder massiven Sorgen um die Gesundheit. Auch muss man offensichtlich lernen, mit fremden Sprachen umzugehen oder Codes zu entschlüsseln, und man muss generell mit Schnittverletzungen rechnen. Da er kein Brennholz zu hacken hat und keinen Käse isst, trifft es Jonas eben beim Brotschneiden. Auch mit seinen Zahnschmerzen steht er nicht alleine da. Die namenlose Frau bei Marlen Haushofer schreibt dazu: "ich glaube nicht, daß ich jemals imstande sein werde, mir selbst einen Zahn zu ziehen." Rosendorfers Anton hätte zwar die technischen Möglichkeiten dazu, scheitert aber daran und wird, obwohl hypochondrisch veranlagt, auf wundersame Weise geheilt. Jonas erwacht eines Tages und stellt fest, dass die Nacht ihre Arbeit erneut getan hat, zwei Zähne fehlen. Die Fragen, die sich daraufhin festsetzen, sind einfach: "Wann? Wie?" - Antworten gibt es darauf nicht. Ähnliche, dezente Hinweise auf die beiden Romane "Die Wand" und "Großes Solo für Anton" finden sich bei Glavinic dafür des Öfteren.

Man mag dem Roman sprachliche Ungenauigkeiten oder so manche überflüssige Länge vorwerfen - letztlich gelingt es Glavinic in seiner Variation auf ein altes Thema, der Gegenwart mittels einer Utopie einen klaren Spiegel vorzuhalten. Natürlich ist das Bemühen des Helden, seine Geliebte zu finden, womöglich zu retten, und diese Liebe durch alle Widrigkeiten aufrecht zu halten, lobenswert. Natürlich ist diese Liebe als Movens nachvollziehbar, dass er sich durch halb Europa kämpft, in der Hoffnung, Marie zu finden. Natürlich ist seine Reaktion verständlich, als auch hier Klarheit herrscht. Aber das Fazit, dass das Leben ohne die Möglichkeit einer Liebe keinen Sinn hat, kann nicht wirklich die letzte Weisheit des Buchs sein, ist es auch nicht. Mit Jonas, der an den verschwundenen Mitmenschen im Allgemeinen (im Gegensatz zum Verschwinden Maries im Besonderen) kein sehr großes Interesse zu haben scheint, dem in seiner Einsamkeit abgesehen von seiner Freundin niemand und nichts dauerhaft abgeht, zeichnet Glavinic eine Figur, die nicht weit entfernt ist von den wirklichen Einwohnern einer Welt, in der das meiste ohne direkten Kontakt mit anderen Menschen zu haben ist - Internet sei Dank. Fällt das Internet einmal aus, macht das in einer menschenleeren Stadt nicht viel Unterschied. Wer Glavinic in Hinblick auf "Die Arbeit der Nacht" mangelnde Gesellschaftskritik vorwirft, übersieht, wie erschreckend real der Roman über weite Strecken ist. "I'll let you be in my dreams if I can be in yours", so endet die Geschichte bei Dylan. Angesichts der Träume, die Jonas hat, bleibt man - mit Jonas - gerne im Wachzustand: Das ist beklemmend genug.


Titelbild

Thomas Glavinic: Die Arbeit der Nacht. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2006.
395 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3446207627

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