Geburtstagsgrüße mit Hölderlin

Arendt - Heidegger - Jelinek und die Wohnsitze des Denkens

Von Andrea GeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Geier

14. Oktober 1966: Todtnauberg - New York

"Liebe Hannah, zu Deinem sechzigsten Geburtstag grüße ich Dich herzlich und wünsche Dir für den kommenden Herbst Deines Daseins alle Fördernis für die Aufgaben, die Du Dir selbst gestellt hast, und für diejenigen, die noch unerkannt auf Dich warten" schreibt Martin Heidegger aus seiner Todtnauberger Hütte im Schwarzwald. Der Geburtstagsgruß endet mit einem PS: "Elfride grüßt gleichfalls in herzlichem Gedenken" und enthält zwei Beigaben: Eine Abschrift des Gedichts Der Herbst von Friedrich Hölderlin und eine Postkarte "Blick aus der Arbeitsstube auf der Hütte". Hannah Arendt, die 1933 Deutschland verlassen hatte und nach einem längeren Aufenthalt in Paris schließlich 1941 in die USA emigriert war, dankt aus New York herzlich für diesen Glückwunsch und sendet ihrerseits Grüße an Elfride in die Heidegger'sche Provinz, in "Dein Dreieck Freiburg - Meßkirch als Hypothenuse und darüber Todtnauberg". Dabei greift sie das über Hölderlin vermittelte Lebensalter-Bild Heideggers auf und spielt auf die gemeinsame Geschichte im "Frühling" ihres Lebens an, die Marburger Jahre: "(Denen der Frühling das Herz bracht und brach, denen macht es der Herbst wieder heil.)"

Dieser Briefwechsel zum sechzigsten Geburtstag Arendts am 14. Oktober 1966 ist, trotz des speziellen Anlasses, ein typisches Dokument der Beziehung. In den Briefen aus dem Zeitraum zwischen 1925 bis 1975, die Ursula Ludz aus den Nachlässen 1998 herausgegeben hat, spiegelt sich die schwierige Geschichte des Lehrer-Schüler-Paares ebenso wie die Versuche beider nach 1945, in gegenseitigem Respekt miteinander umzugehen und im Gespräch zu bleiben. Alte Verletzungen werden thematisiert, aber meist versöhnlich formuliert und die Partner beider zumindest in den gegenseitigen Grüßen mit eingebunden. Der Versuch Arendts, sich mit Elfride Heidegger zu arrangieren, ist dabei das offensichtlichste Zeichen, wie sehr ihr an einer Fortsetzung ihres Verhältnisses zu Heidegger gelegen war. Dass es in ihrer 'Aussprache' mit Elfride 1950 nicht nur um das Verhältnis in der Marburger Zeit ging und damit um die Enttäuschung einer betrogenen Ehefrau, zeigt schon ihr Brief an Heidegger: "Meine ursprüngliche Weigerung beruhte nur auf dem, was ja dann auch mit 'deutscher Frau' angedeutet war". Statt darüber jedoch zu rechten, erklärt sie schlicht: "Bitte missversteh nicht; mir persönlich ist das ganz gleich. Ich habe mich nie als deutsche Frau gefühlt und seit langem aufgehört, mich als jüdische Frau zu fühlen. Ich fühle mich als das, was ich nun eben einmal bin, das Mädchen aus der Fremde".

Gegenüber Elfride Heidegger betont sie ebenfalls, wie froh sie sei, dass nun "alles gut geworden ist", findet aber gleichzeitig deutlichere Worte: "Sie haben doch aus ihren Gesinnungen nie einen Hehl gemacht, tun es auch heute nicht, auch mir gegenüber nicht. Diese Gesinnung nun bringt es mit sich, daß ein Gespräch fast unmöglich ist, weil ja das, was der andere sagen könnte, bereits im vorhinein charakterisiert ist und (entschuldigen Sie) katalogisiert ist - jüdisch, deutsch, chinesisch."

Offene Auseinandersetzungen mit Heidegger über das gegenseitige Verhältnis oder auch über den Antisemitismus finden sich im Briefwechsel kaum. Eines der wenigen Zeugnisse ist ein Brief Heideggers aus dem Winter 1932/33. Arendt hatte Heidegger auf die Gerüchte angesprochen, dass er Juden diskriminiere. Daraufhin zeigt sich Heidegger entrüstet und zählt auf, wie viele Juden er als philosophischer Lehrer betreue und unterstütze; eindringlich beteuert er, dass dies das gemeinsame Verhältnis in keiner Weise berühre. Wesentlich stärker wird der Briefwechsel daher vom Austausch über Philosophie und Literatur geprägt. Das in diesem Zusammenhang sicher größte aller Komplimente Arendts an Heidegger lautet: "Niemand liest oder hat je gelesen wie du." Eine gemeinsame Basis für das Gespräch bilden nicht nur die Lektüren der antiken Philosophen und vor allem das Werk Heideggers, sondern auch die Gedichte Friedrich Hölderlins.

Mit keinem anderen Dichter hat sich Heidegger so intensiv und ausführlich beschäftigt wie mit Hölderlin, und so wird er immer wieder auch Gegenstand des Briefwechsels. Heidegger bekennt 1925: "Ich lebe viel mit Hölderlin" und Arendt berichtet Heidegger noch 1971, sie lese gerade nochmals seine Hölderlin-Abhandlungen ("Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung"), die 1951 erstmals erschienen waren und mehrere Auflagen erlebten. Dass Heidegger schon 1954 bündig erklärt hatte, er könne ihr die Darstellung eines Schülers von Emil Staiger empfehlen, angesichts derer er bekennen müsse: "Die bisherigen Deutungen - inclusive meiner - sind alle unhaltbar." scheint Arendt also nicht beeindruckt zu haben. Die gegenseitigen Geburtstagsgrüße vermitteln am deutlichsten die Bedeutung Hölderlins für die Beziehung der beiden: Denn nicht nur Heidegger sendet Arendt zum sechzigsten Geburtstag ein Gedicht von Hölderlin. Auch Arendt eröffnet einen Geburtstagsgruß zu Heideggers Achtzigstem (1969) mit einer Hölderlin-Strophe aus dem Gedicht "Der Archipelagus", die den Vers "Laß der Stille mich dann in deiner Tiefe gedenken!" enthält. Das Bild der 'Tiefe' nutzt sie dann für eine lobende Charakterisierung Heideggers:

"Mir will scheinen, daß Leben und Werk uns gelehrt haben, was DENKEN ist, und daß die Schriften dafür paradigmatisch bleiben werden, paradigmatisch auch für den Mut, sich ins unbetreten Ungeheure zu wagen, dem noch Ungedachten sich ganz und gar zu exponieren, der dem eigen sein muß, der seine Sache auf nichts anderes gestellt hat als eben auf das Denken und seine unheimliche Tiefe."

1969: Grüße mit Hölderlin und Verhandlungen über den Wohnsitz des Denkens

'Ungeheueres' und 'Unheimliches': Wohin Heideggers Denken der 'Tiefe' führen 'musste', darüber spricht Arendt deutlicher in ihrer Rundfunkrede zum gleichen Anlass, die sie mit einer handschriftlichen Widmung versehen Heidegger zugesandt hatte. Nach einer langen Huldigung des Lehrers Heidegger erwähnt sie, ausgehend vom "Erstaunen" als eigentlichem "Wohnsitz des Denkens", dass auch Heidegger "einmal der Versuchung nachgegeben hat, seinen Wohnsitz zu ändern und sich in die Welt der menschlichen Angelegenheiten 'einzuschalten' - wie man damals so sagte." Schon Aristoteles, so Arendt, hatte diese Gefahr gesehen und den Philosophen "dringend geraten, nicht die Könige in der Welt der Politik spielen zu wollen". Wie in der oben zitierten Gratulation kommt sie dabei auf die 'innere Notwendigkeit' ("eigen sein muß") dieses Weges zu sprechen:

"Wir, die wir die Denker ehren wollen, wenn auch unser Wohnsitz mitten in der Welt liegt, können schwerlich umhin, es auffallend und vielleicht ärgerlich zu finden, daß Plato wie Heidegger, als sie sich auf die menschlichen Angelegenheiten einließen, ihre Zuflucht zu Tyrannen und Führern nahmen. Dies dürfte nicht nur den Zeitumständen, sondern eher dem geschuldet sein, was die Franzosen eine 'déformation professionelle' nennen. Denn die Neigung zum Tyrannischen läßt sich theoretisch bei fast allen großen Denkern nachweisen (Kant ist die große Ausnahme) [...]."

Die Darstellung ist, wie nicht nur diese Passage zeigt, auf ein Verstehen bedacht, das Heidegger als eine Art exemplarischen Fall behandelt. Dies spiegelt sich vor allem in der ausführlichen Auseinandersetzung mit Plato und dessen Versuchen, den 'Wohnsitz des Denkens' ins Leben zu verlegen. In diesem Zusammenhang spielt Arendt auch auf Aristophanes' Philosophen-Komödie "Die Wolken" an: "vielleicht hat [Plato] gewußt, daß der Wohnsitz des Denkers von außen gesehen leicht dem aristophanischen Wolkenkuckucksheim gleicht."

'Die Frau' und 'der alte Mann' im Gestell: Jelineks Inszenierung des Paares Arendt-Heidegger

Dieses 'Wolken-Heim' der Philosophen hat auch Elfriede Jelinek für den Titel ihres Stücks "Wolken.Heim." (1990; UA 1988) aufgegriffen, in dem sie unter anderem Martin Heideggers Rektoratsrede "Die Selbstbehauptung der deutschen Universität" (1933/34) als Quelle herangezogen hat. In ihrem Stück "Totenauberg" (1991; UA: 1992) lässt sie das Paar Heidegger und Arendt einander begegnen: Der Titel spielt auf Heideggers Todtnauberg-Hütte an, von der er Arendt im Briefwechsel immer wieder vorschwärmt, und schreibt diesem für den Autor idyllischen Rückzugsort in der ländlichen Provinz Tote ein: Das Treffen zwischen 'Heidegger' und einer aus dem Exil zurückgekehrten 'Arendt' nach 1945 geht den Fragen nach, was mit dem philosophischen Denken geschieht, das um die Shoah weiß, und in welchen Feldern heute dem faschistischen Denken Raum gegeben wird. Die Figuren sind dabei als 'Doubles' der beiden historischen Personen charakterisiert, die auch auf der Bühne als Zitate erkennbar bleiben sollen: "Die Person Heideggers bitte mit einem winzigen Zitat nur andeuten, vielleicht der Schnurrbart? Hannah Arendt desgleichen" heißt es dazu im einleitenden Nebentext des Stücks. Diese Doubles werden dabei nochmals dupliziert, da die Arendt-Figur auch auf der Leinwand erscheint und das Heidegger-Double durch ein 'Gestell' "doppelt vorhanden" ist - eine bildliche Umsetzung von Heideggers Begriff der 'Technik'.

Jelinek inszeniert Arendt und Heidegger als ein Paar, das durch die Gegensätze Heimat und Fremde charakterisiert ist. Dem zeitweisen Arrangement Heideggers mit dem Nationalsozialismus steht die Position der Emigration gegenüber, die für Arendt zugleich ihre Zuwendung zur politischen Theorie bedeutete. Ein philosophisches Streitgespräch kommt jedoch nicht zustande, noch nicht einmal ein Dialog, denn die Figuren sprechen stets aneinander vorbei. Die Bezugnahme auf die Biografien dient vor allem dazu dazu, den 'Sitz des Denkens im Leben', die Einflüsse der Zeitgeschichte auf das philosophische Denken, an einem Fallbeispiel vor Augen zu stellen. Ausgehend von der unterschiedlichen Entwicklung der Lebens- und Denkwege aus diesem Lehrer-Schüler-Verhältnis bilden der Philosoph des 'heimatlichen Bodens' und die 'fremde' Exilantin ein prekäres Paar von Täter und Opfer, die in den Konflikten der Gegenwart - Tourismus, Technik als Fetisch, Migration - das Fortwirken der Vergangenheit verkörpern. Vermittelt durch das Double wird dieses Fortwirken jedoch exemplarisch und nicht als personelle Kontinuität gefasst. Darüber hinaus erhält das 'Double' eine zweite Konnotation, da es nun im Kontext medialer Vermittlung und Inszenierung steht. Die Leinwände, die laut Nebentext für die Bühne vorgesehen sind, verweisen einerseits auf die Vorstellungsbilder von 'Heimat', 'Idylle' oder 'Fremde' sowie auf Bilder von Autorschaft, die mit den historischen Personen verknüpft sind. Andererseits führen sie die Geschichte vor Augen, die besonders die Heidegger-Figur verdrängen möchte. Im Nebentext heißt es, Sportler verschwänden von der Bühne, "wo jetzt ein alter Dokumentarfilm erscheint, aber sehr diskret, jüdische Menschen sammeln sich zum Transport, man muß dafür eine sehr zivile Stelle suchen. [...] Keine Brutalität!"

Die Heidegger-Figur scheint dabei in zweifacher Weise gefangen: In ihrem Gestell und in einem ständigen Abgrenzungs- und Entschuldungsdiskurs: "Großes entsteht nur aus Heimat, und zwar gerade dadurch, daß sie uns und keinem andern gehört." - "Unschuldig macht die Natur, und der Mai macht alles neu [...] Aber was geschehen ist, vergessen wir lieber!" Das Gestell ist ambivalent konnotiert: Es macht die Figur bewegungsunfähig, lässt sie aber auch größer erscheinen. Die verzweifelten Versuche, sich von seinem Gestell zu befreien, symbolisieren den Wunsch, sich von dem 'vergrößerten Autorenbild' seiner selbst loszukommen. Durch seine scheiternden Versuche - er fällt mehrfach um - wirkt er dabei jedoch als lächerliche Figur. Diese verbalen und gestischen Anstrengungen werden von der Rede der Frau begleitet, die Grundbegriffe von Heidegger wie das "Sein" oder in Anspielung auf seine Schrift "Holzwege" Metaphern wie den "Holzweg" aufgreift, um ihn zu beschimpfen: "In Wirklichkeit haben Sie sich nie bewegt. Sie sind." oder: "Zu lang haben Sie sich dem Holzweg des modernen Daseins aufgezwungen!" Dass die Frau ihren Reisekoffer stets bei sich trägt ist ein Bild des fortdauernden Exils, in dem die Figur letztlich resignativ ihre eigene Ort-losigkeit feststellen muss.

"Totenauberg" führt nicht psychologisierende Einblicke in historische Personen vor, sondern präsentiert Antagonisten, die dies zum Teil wider Willen sind. Die Paar-Geschichte steht für eine mehr als defensive Haltung der Täter nach 1945, für ihre 'Unbeweglichkeit' im Denken, und für Opfer, die trotz aller Ablehnung dieser Verdrängung eine prekäre Nähe zu den Tätern suchen. Alle vier Kapitel in "Totenauberg" akzentuieren unterschiedliche Diskursfelder: Natur und Heimat; Gesundheit und Euthanasie; Tourismus und Warenwelt; Fremde/Unschuld gegenüber Gräueltaten von Auschwitz bis zur Gentechnik, die sich durchaus auf Heideggers Philosophie beziehen lassen. Allerdings werden dabei nur in relativ geringem Umfang Werke Heideggers zitiert. Stattdessen bedient sich "Totenauberg" an Schlagworten der Heidegger'schen Philosophie und verwandelt sie in bewährter Manier in Wortspiele und Kalauer. Dabei greift Jelinek auf Wendungen zurück, die, zumindest für nicht-heideggernde Leser/innen, einer trivialisierenden Lektüre vorarbeiten, weil sie bereits einen 'kalauernden' Charakter besitzen: So erklärt der Philosoph etwa in Briefen an Arendt: "Ich gehe immer noch auf Holzwegen." und lässt über die "noch waltende Macht der Anwesenheit aller Wesen und Dinge" verlauten: "Und kein Ge-stell kann sie verstellen." Dominant ist in "Totenauberg" jedoch nicht die Auseinandersetzung mit den Texten beider - weder als Zitat noch als Wiederholung der Form -, sondern die Verhandlungen des Zusammenhangs von Biografie und Werk, Philosophie, Politik und Moral. Dass wenige Texte von Heidegger und Arendt zitiert werden, erklärt sich unter anderem mit dem Fokus auf die Biografie und den Zusammenhang von Leben und Werk, und hierfür gibt die Beziehung Arendt-Heidegger die Folie ab. Die Doubles halten dabei stets bewusst, dass es nicht um eine direkte Interpretation der Beziehung und Personen geht. Die Bezüge bleiben aber umgekehrt so deutlich, dass sie biografische Konstellationen aufrufen und dadurch die verhandelten Diskurse bildlich und zugleich historisch verorten.

Hölderlin oder: Jelinek liest Heideggers Hölderlin-Lektüren

Auch Hölderlin kann man in Jelineks Werk begegnen. In "Wolken.Heim." (1990; UA 1988) werden zahlreiche Gedichte Hölderlins verarbeitet, und in der Anthologie "Jelineks Wahl", die die Autorin zusammen mit Brigitte Landes 1998 herausgegeben hat, zählt sie Hölderlin zu ihren "Literarischen Verwandtschaften". Jelineks Verhandlungen von Hölderlin wirken irritierend: Während "Jelineks Wahl" für eine begeisterte Hölderlin-Lektüre Jelineks steht, dienen die Bezugnahmen auf seine Gedichte in "Wolken.Heim." dazu, einen pathetisch-getragenen Ton zu erzeugen, der die Basis eines sich selbst versichernden und überhöhend-'heiligend-raunenden' Identitätsdiskurs bildet: "Wolken.Heim." inszeniert einen national-chauvinistischer Monolog über die Suche nach und die Erschaffung von Heimat. Dabei werden heterogene literarische und philosophischen Prätexte teilweise stark bis sinnentstellend bearbeitet und in die Rede eines ethnisch und national bestimmten 'Wir' überführt, der das Eigene vom Fremden zu scheiden versucht: "Wir sind hier. Dort sind die anderen." Die Rede, die um das deutsche Vaterland, Heldentum, Geist und Tat, Opfer und Macht kreist, amalgamiert neben den Gedichten von Friedrich Hölderlin und Heideggers Rektoratsrede Johann Gottlieb Fichtes "Reden an die deutsche Nation", Stücke von Heinrich von Kleist, Briefe einzelner RAF-Mitglieder und Leonhard Schmeisers Text "Das Gedächtnis des Bodens". Die Sprecherinstanz versucht Bedeutung, Identität und Einmaligkeit zu stiften, doch in einer obsessiven Wiederholung und Behauptung des Gelingens, im Leerlauf von Identitätsformeln wie "wir sind wir" oder "Deutsche! Deutsche! Deutsche!" erweist sich diese Identität als instabil. Der ideologiekritische Effekt des Textes erwächst damit in erster Linie aus der Wiederholung und nicht aus einem satirischen Sprechen; dies bewirkt unter anderem, dass sich im Pathos der Rede auch die Faszinationskraft des kritisierten Mythos vermittelt.

Diesem Pathos dienen in erster Linie die Hölderlin-Gedichte, die besonders häufig zitiert werden und dabei mit Zitaten aus allen anderen Texten interagieren. Zu dieser auffälligen Verarbeitung von Hölderlin-Gedichten in "Wolken.Heim." finden sich bisher zwei Antworten: Die einen verurteilen eine 'Vergewaltigung' Hölderlins. Elfriede Jelinek setze Hölderlins Gedichte dem Verdacht aus, einer national-chauvinistischen Tradition zuzuarbeiten. Durch ihre verfremdeten Zitate schaffe sie dabei erst den Gegner, den sie dann bekämpfe (Margarethe Kohlenbach oder auch Corinna Caduff). Marlies Janz und andere weisen dagegen darauf hin, dass "Wolken.Heim." auf das Verfahren einer gewaltsamen Lektüre aufmerksam mache: Hölderlin wird also auch in dieser Lesart 'vergewaltigt', aber dies werde eben zugleich ausgestellt. Die zweite Lesart scheint zwar das Problem der Heterogenität des Ausgangsmaterials zu lösen, erklärt die Prätexte dabei aber für unwichtig: Gezeigt werde ja gerade, dass jedes Material zu ideologischen Zwecken 'zugerichtet' werden könne. Diese Prämisse ist durchaus plausibel, um die Frage 'wieso Hölderlin?' zu klären. Doch eine Irritation bleibt: Weshalb ist Hölderlin so dominant? Im gesamten Text "Wolken.Heim." finden sich nämlich nur zwei Seiten ohne Hölderlin-Anspielungen.

Lässt man sich auf diese Irritation ein, stellt sich nochmals die Frage nach der Zusammenstellung der Autoren. Dabei fällt auf, dass Jelinek die Aufmerksamkeit eher auf die Autoren als auf einzelne Texte lenkt (mit Ausnahme Schmeisers), denn nur die Namen der Autoren werden im Hinweis auf die "verwendeten Texte" benannt. In diesem Zusammenhang ist es das Wissen um die Autorperson Heidegger, das den Blick von der im Text zitierten Rektoratsrede weiter zu seinen Hölderlin-Interpretationen lenkt. Folgt man dieser Spur, zeigt sich, dass Jelinek eben nicht nur Hölderlin und Heideggers Rektoratsrede bearbeitet hat, sondern Bezugnahmen auf Heideggers Hölderlin-Lektüren "Wolken.Heim." durchziehen: von der Auswahl der Gedichte über einzelne Motive und Themen bis hin zum Textverfahren.

Jelinek greift vielfach auf dieselben Gedichte zurück, die auch Heidegger interpretiert, darunter "Wie wenn am Feiertage", "Der Wanderer", "Heimkunft", "Gesang des Deutschen", "An die Deutschen" und "Brot und Wein". Heidegger reflektiert über den Ausdruck "heilig-nüchternes Wasser", anknüpfend an "Deutscher Gesang" - Jelinek zitiert ebenfalls das 'heilig-nüchterne Wasser', jedoch aus dem Gedicht "Hälfte des Lebens". Thematische Übereinstimmungen betreffen vor allem das Bild des Autors Hölderlin: Das Wesen der Dichtung lässt sich nach Heidegger von Hölderlin aus betrachten, den er als den "Dichter des Dichters" bezeichnet, und Jelinek greift diesen Blick Heideggers auf Hölderlin auf: Am Beispiel von Hölderlin entwickelt Heidegger das Verhältnis von Geist und Tat, von Dichtung als tragendem Grund der Geschichte, die dabei Kommendes vorausnehme, und er bezeichnet Dichtung als "Stiftung des Seins". Am Beispiel von "Heimkunft" erklärt er: dies sei "nicht ein Gedicht über die Heimkunft, sondern die Elegie ist als die Dichtung, die sie ist, das Heimkommen selbst, das sich noch ereignet, solange ihr Wort als die Glocke in der Sprache der Deutschen läutet."

Dies ist eben das charakteristische Moment des Wir-Diskurses in "Wolken.Heim.": Die Rede ist die Inszenierung einer Heimat, die in den Texten, die sie als existent behaupten, erschaffen wird. Darüber hinaus spricht Heidegger, Hölderlin zitierend, von einem Kollektiv der Dichter - "wir Dichter" -, und imaginiert dabei mehrere Einzelne, Künftige, denen Hölderlin als erster vor-spreche. Vor diesem Hintergrund hat auch der 'Wir'-Diskurs in "Wolken.Heim" ein Vorbild in den Heidegger'schen Lektüren. Dass sich die Jelinek-Lektüre Heideggers noch im Textverfahren spiegelt, zeigt sich noch auf andere Weise: Heidegger zerstückelt Hölderlins Gedichte in Einzelverse, teils in Strophen, um daran seine Interpretation zu entfalten. In "Wolken.Heim." sind Hölderlin-Anspielungen durchgängig präsent und dabei sind diese Ausschnitte ebenfalls anschlussfähig für unterschiedlichste projektive Lektüren. Über die Heidegger-Interpretationen lässt sich schließlich sogar der auf Aristophanes Komödie anspielende Titel "Die Wolken" als mehrfach vermittelt deuten: Heidegger traktiert an dem Gedicht "Die Heimkunft" sowie der zweiten Fassung des Gedichts "Der Wanderer", das Jelinek ebenfalls (in beiden Fassungen) zitiert, das Motiv der Wolke im Kontext des Vaterlandes - eben ein 'Wolken-Heim'.

Die Antwort auf die Frage, warum die Hölderlin-Gedichte in "Wolken.Heim." so dominant sind, lautet also: Heidegger. Das Stück führt eine gewaltsame Lektüre der Hölderlin-Gedichte vor, stellt dieses Verfahren im Text selbst aus und knüpft dabei an Heideggers entstellende Lektüren von Hölderlins Gedichten an: Die Zurichtung Hölderlins in "Wolken.Heim.", die dessen Gedichte dem nationalistischen Diskurs des 'Wir' unterwirft, stellt sich als konkrete Wiederholung einer Verfremdung dar und verortet das eigene Textverfahren auf diese Weise historisch: Der gewaltsamen Rede, die Herkunft vernichtet, indem sie sie instrumentalisiert, wird das Wissen um einen historisch konkreten Ort dieses Umgangs mit der Tradition eingeschrieben.

Die Leserin Elfriede Jelinek

"Wolken.Heim." und "Totenauberg" verhandeln jeweils die Themenfelder 'Identität' und 'Heimat/Fremde', einmal in einer monologischen Rede, die Vielstimmigkeit in einem gewaltsamen Diskurs zu nivellieren scheint, einmal in einer 'klassisch' wirkenden dramatischen Form, in der die Figuren jedoch eher ein Scheitern eines Gesprächs vorführen. Die zentrale Gemeinsamkeit der Stücke aber ist, anders als es auf den ersten Blick scheint, der Bezug auf Heidegger. Tatsächlich lassen sie sich als ein 'Doppelprojekt Heidegger' lesen. Dabei bilden in "Wolken.Heim." das Werk, in "Totenauberg" die Biografie den zentralen Ausgangspunkt. Die Betrachtung von "Wolken.Heim." zeigte dabei ganz nebenbei, dass es lohnend ist, den intertextuellen Verweisen in Jelineks Texten nachzugehen und sich dem klassischen philologischen 'Suchspiel' auszusetzen - selbst dann, wenn, wie in diesem Stück, ganz das Verfahren im Vordergrund zu stehen scheint.

"Wolken.Heim." und "Totenauberg" als 'Doppelprojekt Heidegger' zu deuten, ist in zweifacher Weise aufschlussreich für Jelineks Werk insgesamt: An der Verbindung zwischen beiden Stücken zeigt ein Nachdenken über den Zusammenhang von Leben und Werk, der für die Inszenierung historischer Personen ebenso wie für Künstler/innen-Figuren und damit die Verhandlungen von Autorschaft und Autorschaftsbildern von zentraler Bedeutung ist. Dies ist eines der Leitthemen, die Jelineks Prosa- und Dramentexte sowie ihr Nachdenken über das Theater in ihren dramentheoretischen Texten durchziehen. In ihrem Umgang mit der Tradition als Figuren- und als Text-Zitaten sind beide Stücke paradigmatisch für eine Anverwandlung der Tradition, die Sprachmacht wie Ohnmacht mit spielerischem und/oder gewalttätigem Charakter inszeniert und dabei ihr eigenes Verfahren ausstellt. Diese zurichtenden Aneignungen der Tradition oszillieren zwischen einem auf Verstehen und Interpretation zielenden Lesen - von Texten wie Biografien - und sinnverweigernden sowie traditions- und kontextentstellenden Verarbeitungsverfahren, kurz: zwischen Hermeneutik und Antihermeneutik. Auch für Jelinek gilt: "Niemand liest oder hat je gelesen wie du."

Literatur:

Hannah Arendt u. Martin Heidegger: Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse. Aus den Nachlässen herausgegeben von Ursula Ludz. Frankfurt a.M. 1998.

Martin Heidegger: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Vierte, erw. Aufl. Frankfurt a.M. 1971 [1951].

Elfriede Jelinek: Wolken.Heim. Göttingen 1990.

Elfriede Jelinek: Totenauberg. Ein Stück. Reinbek bei Hamburg 1991.

Elfriede Jelinek u. Brigitte Landes (Hrsg.): Jelineks Wahl. Literarische Verwandtschaften. München 1998.