HD tut nicht mehr weh

Marille Hahnes Sammelband verschafft Einblicke in die Technik der kommenden Kinobildlichkeit

Von Martin RichlingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Richling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Sony im Jahr 1999 den ersten High-Definition (HD)-Camcorder präsentierte, hat die 35mm-Kamera für ihr bislang unangefochtenes Hoheitsgebiet, das Kino, gehörig Konkurrenz bekommen. Von den rauen, ausgeflippten Bilder der Mini-DV-Kamera, die durch diverse Dogma 95-Filme Videobilder im Spielfilm erstmals salonfähig machten, grenzt sich das elektronisch-digitale HD-Format deutlich ab. HD-Bilder sind hinsichtlich der Auflösung und des Kontrastumfanges nur noch für geübte Expertenaugen von denen der Filmkamera unterscheidbar. Digitale Bilder sind in der schon lange fast ausschließlich digitalen filmischen Postproduktion schneller und leichter zu bearbeiten als Filmbilder und zudem durch ihre Träger wie Kassetten oder DVDs ungleich preiswerter als das kostspielige Filmmaterial. Bei diesen Vorzügen wundert es nicht, dass Filmindustrie, Filmkritiker und Filmwissenschaftler einen anstehenden Paradigmenwechsel prognostizieren: der mechanische Bildapparat des Industriezeitalters und der ratternden Fließbandtechnik wird in absehbarer Zeit vollständig den elektronisch-digitalen Kameras des Informationszeitalters weichen.

Dementsprechend wird die HD-Kamera verstärkt Gegenstand diverser Publikationen. Hahnes Buch ist nach Philipp Hahns "Mit High-Definition ins digitale Kino" bereits das zweite Buch zum Thema, das innerhalb von kurzer Zeit im Schüren Verlag erschienen ist und vor allem an Vertreter aus der Filmpraxis, Regisseure und Kameraleute gerichtet ist. Während Philipp Hahn einen Überblick über verschiedene Kameramodelle, Geschichte, Produktion und Distribution der neuen Technik gab, widmet sich Marille Hahnes Sammelband dem Thema anhand eines Fallbeispiels, "Little girl blue" (2002), der ersten Schweizer Kinoproduktion, welche mit einer HD-Kamera gedreht wurde. So steht in "Das digitale Kino" vor allem eine, eben die besagte erste 1999 präsentierte HD-Kamera im Fokus. Das ist aber nicht weiter schlimm, da diese Kamera immer noch eingesetzt wird und alle folgenden, aktuellen HD-Kameras geprägt hat.

Bemerkenswert ist die starke Interaktion von Wissenschaft und Praxis - sowohl beim Film- als auch beim Buchprojekt. Einstellungen, Lichtwirkungen, Farbwerte des Films wurden nicht erst im Nachhinein bewertet, wie es allgemein üblich ist: Das Filmteam wurde schon während des Drehs von einem Team des Forschungsprojektes "Digitales Kino" der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich begleitet. Nach dem Ende der Produktion fand eine Tagung statt, bei der nochmals Chancen und Probleme der neuen Technik reflektiert wurden. Die dem Buch beiliegende DVD erweist sich als eine Bereicherung, da hier nicht nur Referate und Podiumsdiskussionen zu sehen sind, sondern auch diverse Ausschnitte aus dem Film die Transparenz der schriftlichen Aussagen erhöhen. Denn im Buch geht es vor allem um bildtechnische Parameter wie Auflösung, Kontrast und Schärfe. Die hier oft vergleichsweise nebeneinander stehenden Screenshots geben nämlich durch ihre geringe Größe und der wahrscheinlich stark komprimierten Auflösung dem Betrachter Rätsel auf, wie der Begleittext überhaupt Unterschiede in Farbe, Kontrast oder Lichtempfindlichkeit ausmachen kann.

Vor allem der erste Teil des Buches, der anhand von Interviews mit der Regisseurin Anna Luif, dem Regisseur Philip Gröning und der Kamerafrau Eeva Fleig die konkreten Erfahrungen mit der HD-Kamera am Set wiedergibt, gibt komprimierte und plastische Einblicke in die Besonderheiten der neuen Aufnahmetechnik. Grönings Aussagen verdeutlichen dabei im Abgleich mit den Berichten der beiden Schweizer Filmemacher, dass es neben ähnlichen Erfahrungen und somit wohl tatsächlichen Eigenschaften der Kamera auch genug Spiel für ein subjektives Erleben der Apparatur gibt. So äußerte sich die Kamerafrau begeistert über das geringe Gewicht und die ergonomischen Qualitäten der Kamera, während Gröning die Handlichkeit der HD-Kamera sehr kritisiert.

Mit dem zweiten Teil des Buches, der sich der Postproduktion von HD-Bildern widmet, werden wahrscheinlich nur professionelle Cutter etwas anfangen können. Auf eine zwischen Laien und Profis vermittelnde Interviewform wird hier (von einer kurzen Wiedergabe einer Podiumsdiskussion einmal abgesehen) leider verzichtet. Stattdessen dominiert eine technische Fachsprache, die der Neugier etwas im Wege steht. Erschwerend für ein ästhetisches Erkenntnisinteresse kommt hinzu, dass eine auf HD abgestimmte Postproduktion anscheinend in erster Linie mit Kompatibilitätsproblemen und andere technische Schwierigkeiten zu kämpfen hat.

Dass der dritte Teil des Buches, "Grundlagen zur HD-Technik und HD-Ästhetik" sich am Schluss und nicht am Anfang des Bandes befindet, verwundert nur auf den ersten Blick. Gerade dem letzten Beitrag von Barbara Flückiger kommt der Verdienst zu, gleichsam eine Einführung in das Thema wie eine Vertiefung vieler bereits angesprochener Aspekte zu liefern. Trotzdem stellt sich am Ende des Buches die Frage, ob eine Erweiterung der Fragestellung diesem nicht gut zu Gesicht gestanden hätte. Irgendwann wirkt es ermüdend, wenn nahezu jeder Beitrag immer wieder aufs neue HD mit dem 35mm-Format bezüglich Kontrast, Lichtstärke und Auflösung vergleicht. Nicht auszuschließen wäre immerhin, dass auch die anvisierte Leserschaft, Regisseure und Kameramänner, an einer historischen Einordnung von HD-Kameras, den Auswirkungen der neuen Technik auf die Arbeit mit Schauspielern oder möglichen unterschiedlichen ästhetischen Strategien interessiert gewesen wäre. Aber immerhin kommt dem Buch der Verdienst zu, konkrete und erhellende Einblicke in das Zusammenwirken von Bildtechnik und Bildästhetik zu geben.


Titelbild

Marille Hahne: Das digitale Kino. Filmemachen in High Definition mit Fallstudie.
Schüren Verlag, Marburg 2005.
176 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3894723971

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