Und der Nazi-Klotz flog aus dem Fenster

Wladimir Kaminers unterhaltsame Familieneinblicke

Von Stephan SonntagRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Sonntag

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel des Hörbuchs ist irreführend: Sorgen und Nöte sind nicht die treffenden Begriffe, um das Alltagsleben der Kaminer-Sippe zu beschreiben. Vielmehr bietet sich dem Hörer ein munter-amüsantes Potpourri deutsch-russischer Familienepisoden. Hauptakteure sind Kaminers Kinder Nicole und Sebastian, die ihn immer wieder zu Vergleichen mit seiner eigenen Kindheit in der Sowjetunion veranlassen.

Angesichts des Spielzeugbergs im Kinderzimmer erinnert sich Kaminer an die drei Bauklötze, mit denen er und sein Freund Andrej damals Lebensmittelladen spielten. Nachdem ein Klotz spurlos verschwunden war, wurden aus Verkäufer, Käufer und Ware einfach Faschist und Rotarmist. Aus dem Preiskampf wurde die Schlacht des Zweiten Weltkriegs, aus der der Rotarmist-Klotz immer als Sieger hervorging. Eines Tages flog der Nazi-Klotz aus dem Fenster und der verbliebene Klotz wurde im Krankenhausspiel zur Medizin des Nachbarhundes. Nachdem dieser ihn, in einer Wurstpelle gereicht, verschluckt hatte, war er augenblicklich geheilt. Mit dem Verlust des letzten Spielzeugs konnten Wladimir und Andrej dann erwachsen werden.

Wie eigentlich immer bei Kaminer, treffen auch deutsche und russische Mentalitäten aufeinander. In der Episode "Wintersport" schildert Kaminer das geordnete und friedliche Schlittschuhlaufen der Deutschen gegenüber dem krachenden Gegen-die-Wand-und-über-den Haufen-Fahren der Russen. Doch Kaminer geht es mehr um die Gemeinsamkeiten, als um die Unterschiede der Kulturen. Ob nun der Arbeitskollege des Vaters in Gestalt von Väterchen Frost die Weihnachtsgeschenke verteilt, oder angeheuerte Studenten in Weihnachtsmannkostümen vor den Kaufhäusern stehen, betrunken sind sie jedenfalls beide.

"Ich mache mir Sorgen, Mama" ist unterhaltsam. Es ist weder tiefgründig noch kritisch, doch es erhebt auch keinen Anspruch darauf. Kaminer hat ein Gespür für die ironischen Momente des Lebens, entwickelt kurzweilige Geschichten aus banalen Gegebenheiten. Nicht jede Episode endet in einer zündenden Pointe, doch der Alltag eines jeden ist schließlich kein Feuerwerk der Knalleffekte.

"Ich mache mir Sorgen, Mama" ist ein liebevoller Einblick in Kaminers Alltagserleben, dem er allein mit seinem akzenthaften Lesen einen exotischen Anstrich verleiht. Es ist die richtige, akustische Lektüre für eine lange Autofahrt, oder einen bitterkalten Winternachmittag vor dem Kamin. Zur Abrundung vielleicht mit einem Gläschen Wodka in Reichweite.


Titelbild

Wladimir Kaminer: Ich mache mir Sorgen, Mama. 2 CDs.
Random House Audio, Köln 2004.
120 Minuten, 19,50 EUR.
ISBN-10: 3898307735

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