Die Dichterin und ihr Lektor

Carola Sterns Doppelbiografie der Schriftstellerin Clara Viebig und ihres Gatten Friedrich Cohn

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Clara Viebig zählt zu den AutorInnen der vorletzten Jahrhundertwende und der darauffolgenden Jahrzehnte, die zwar nicht völlig vergessen wurden, die aber auch schon lange nicht mehr bekannt sind. So sind einige ihrer Werke zwar immer noch oder wieder greifbar, die Verkaufszahlen sind jedoch vermutlich denkbar gering. Auch erscheint immer mal wieder eine literaturwissenschaftliche Arbeit über ihr Werk. (vgl. literaturkritik.de 9/2002 und literaturkritik.de 10/2004).

Carola Stern hat sich hingegen weniger dem literarischen Werk der - mit dem ihr gerne umgehängten Etikett ,Heimatdichterin' nur unzureichend charakterisierten - Autorin zugewandt, sondern vielmehr eine Doppelbiografie über das Leben der Schriftstellerin und das ihres Lektors und späteren Gatten Friedrich Cohn verfasst. Es handelt sich um Sterns letzte Publikation. Die zu Beginn des Jahres verstorbene Autorin hat bis zu ihrem Tode an ihr gearbeitet, ohne sie noch ganz fertig stellen zu können. "Letzte Ergänzungen und Überarbeitungen" hat ihre langjährige Lektorin und - wie der Klappentext ausweist - Freundin Ingke Broderson vorgenommen. Entstanden ist ein weithin angenehm zu lesendes Buch über zwei durchaus nicht immer angenehm erscheinende Biografien. Vorangestellt hat ihm Broderson einige einleitende Bemerkungen, die über das Zustandekommen der publizierten Fassung aufklären, mehr noch aber der Verstorbenen ein freundschaftlich-ehrendes "Adieu" nachrufen.

Der Titel des vorliegenden Buches "Kommen Sie, Cohn!" zitiert nicht etwa die ihrem Bräutigam Cohn gegenüber die Initiative ergreifende Clara Viebig, sondern Titel und Schlusszeile eines Fontane-Gedichtes. Mit dem ersten Besuch, den Clara Viebig Mitte der 1890er-Jahre Theodor Fontane abstattete, beginnt nicht nur die Doppelbiografie; er bildet auch die Vorgeschichte von Viebigs Bekanntschaft mit Cohn, drückte die noch unbekannte Autorin dem literarischen Altmeister doch eines ihrer Manuskripte in die Hand. Fontane, von dem Text überzeugt, vermittelte eine Publikationsmöglichkeit im Verlag seines Sohnes. Dort landete das Manuskript auf dem Schreibtisch eines Lektors, der nicht nur vom Text, sondern auch von dessen Autorin angetan war. Bald lernten Autorin und Lektor einander kennen und lieben. Der selbst um einige Jahre jüngere Cohn redete die - um mit Dante zu reden - bereits in des "Lebensweges Mitte" stehende Autorin in einem ersten Gespräch über ihr Manuskript in patriarchalisch-vertraulicher Manier als "mein liebes Kind" an - bei Stern zumindest. Vorstellbar ist das angesichts der seinerzeit herrschenden Geschlechterhierarchie tatsächlich.

Fontanes Vermittlertätigkeit war noch ein weiteres Mal gefragt, diesmal nicht zwischen Autorin und Verlag oder den Liebenden, sondern zwischen deren Elternpaaren. Nur mit Fontanes argumentativer Mithilfe konnte das Paar die konfessionsübergreifende Heirat gegen die antisemitischen Vorbehalte insbesondere von Viebigs Mutter, aber auch gegen die Bedenken von Cohns Eltern durchsetzen, denn auch in jüdischen Gemeinden wurde "vor 'Rassenvermischung' gewarnt".

Ein Jahr nach der Hochzeit gebar Viebig das erste und einzige Kind, ihren Sohn Ernst. Auch ihr schriftstellerischer Erfolg ließ nun nicht mehr lange auf sich warten. "Der Schatten, den das Werk der Erfolgsautorin wirft, wird größer sein, als das, was ihr Mann als Verleger zustande bringt", wie Stern in einer missglückten Wendung schreibt. In der Eifel, Viebigs ursprünglicher Heimat, stießen ihre 'Heimatromane' allerdings keineswegs nur auf positive Resonanz. So gibt Stern eine Anekdote wieder, der zufolge sich "die Menschen im 'Weiberdorf' [wie der Titel einer von Viebigs Romanen lautet] und anderen in Viebigs Werken beschriebenen Eifelflecken" wiedererkannten: "Als das Ehepaar Cohn im nahen Manderscheid seine Sommerferien verbringt, rotten sich die Frauen [...] zusammen" und bedrohen die beiden, so dass Cohn sich nur noch "mit einem Revolver in der Tasche" auf die Straße traut und ein "Gendarm" in der Nähe ihres Domizils Wache halten muss.

Die "realistische Detailtreue" ihrer Romane, "gepaart mit spannenden dramatischen Lebensgeschichten", verschafft Viebig eine "große Leserschaft", konstatiert Stern und verweist zurecht auf die wirklichkeitsnahe Darstellung der Sorgen und Nöte 'kleiner Leute'. Zwar schildere Clara Viebig "genauer und ausführlicher als andere das Schicksal von Land- und Fabrikarbeiterinnen, Dienstmädchen und armen Bäuerinnen, verlorener, herumgestoßener Wesen", doch berichtet ihr Sohn davon, dass sie selbst "eines ihrer Dienstmädchen, das an einer selbstversuchten Schwangerschaftsunterbrechung fast verblutete, kaltblütig auf die Straße" setzte.

Stern scheint Viebigs Werk weniger dem Heimat- oder dem Großstadtroman zuzurechnen, als vielmehr dem - vermeintlichen - Genre der 'Frauenliteratur'. Darauf deutet zumindest eine Bemerkung hin, der zufolge Viebig "nicht die Autorin" sei, "die es bei einem tragischen Ende bewenden lassen will", denn sie wisse genau, "was sie ihren Leserinnen schuldig ist: ein Happy End, wie es nur im Roman, nicht in der Wirklichkeit, vorkommt". Hier muss nun allerdings gleich doppelt Einspruch erhoben werden, kein lautstarker zwar, aber doch immerhin ein Einspruch. Sollten - wie Stern insinuiert - wirklich nur Frauen Viebigs Romane gelesen haben, oder ist Stern der Meinung, dass Viebig die Lektürewünsche der männlichen Leserschaft ganz gleichgültig gewesen seien? Auch haben durchaus nicht alle Romane das von Stern beschworene happy end. Man denke nur an das tragische Schicksal der Titelheldin des Romans "Charlotte von Weiß. Roman einer schönen Frau". Diesem doppelten Einspruch sei jedoch auch ein zweifaches Zugeständnis hinzugefügt. Das Publikum für Viebigs Romane mag tatsächlich überwiegend weiblich gewesen sein, und der erst 1930 erschienene Roman "Charlotte von Weiß" ist nicht nur ein Spätwerk, sondern nimmt zudem eine gewisse Ausnahmestellung in Viebigs Oeuvre ein.

1903 hatte Cohn gemeinsam mit Egon Fleischel einen neuen Verlag gegründet. Dies und der Erfolg Viebigs ermöglichten den Kauf einer repräsentativen Villa in Zehlendorf, in der die Eheleute bis zu ihren Sterbetagen residieren sollten. Bei Kriegsausbruch 1914 meldete sich ihr inzwischen 17-jähriger Sohn umgehend als Freiwilliger. "Ich war in das Getriebe einer gigantischen Maschine geraten, hatte die Freiheit gesucht und die ekelhafteste Form der Sklaverei, den Kadavergehorsam, gefunden", erklärte er später in seinen bislang unveröffentlichten Memoiren. Auch Viebig "jubelt[e] mit den Jubelnden", als 1914 die deutschen Soldaten durch die Straßen an die Front zogen. "Von Politik", konstatiert Stern, habe Viebig "so gut wie nichts verstanden. Ihre politischen Äußerungen zeugen von Unerfahrenheit, wirken unüberlegt, zuweilen dümmlich." Das sind harte Worte, die gleichwohl exkulpierend klingen. Doch entschuldigt Viebig wirklich der Umstand, dass sie nichts von Politik verstand? Kann ihre 'Schuld' - im Sinne von Brechts Gesprächen über Bäume - nicht vielleicht gerade darin gelegen haben?

Die politische Ahnungslosigkeit prägte noch ihr Verhältnis zum heraufziehenden und später herrschenden Nationalsozialismus. Auch Cohn gab sich der Illusion hin, dass er als assimilierter Jude vor Angriffen der Nazis sicher sei. Immer noch als Lektor tätig lehnte er 1931 gar selbst ein Manuskript mit der Begründung ab, dass er von ihm zwar "im großen und ganzen recht gefesselt" sei, doch sei "das reichlich enthaltene jüdische Element einer Abdruckmöglichkeit nicht sehr günstig". Fünf Jahre später und drei Jahre nach der Machtergreifung erlag er einem Herzschlag. "Die, mit denen er als Gleicher unter Gleichen zusammenleben wollte", bemerkt Stern treffend, "haben ihn zu Tode gehetzt".

Clara Viebig sollte ihren Ehemann um fast 20 Jahre überleben. Zwar brach sie 1937 nach Brasilien auf, wohin ihr Sohn, längst ein linker Lebemann und Womanizer, zwischenzeitlich emigriert war. Doch kehrte sie bereits nach wenigen Wochen zurück. Die allzu unterschiedlichen Weltanschauungen zwischen der konservativen Mutter und dem flatterhaft-unsteten Sohn ließen sie kaum mehr Gemeinsamkeiten finden. Man kann dem Elan und Unternehmungsgeist, die der bereits tief in den 70er Jahren stehenden Frau die Kraft gaben, innerhalb weniger Wochen zwei Mal um die halbe Welt zu reisen, die Bewunderung nicht versagen.

Zurück in Nazi-Deutschland arrangierte sich Viebig mit dem Leben unter dem Regime. In den Jahren 1939 und 1940 wurden drei ihrer Romane neu aufgelegt. Zu ihrem 80. Geburtstag - ebenfalls 1940 - erreichten sie die "herzlichen Glückwünsche" der Reichschrifttumskammer, für die sie sich artig als "Ihre ganz ergebene Clara Viebig" und mit dem Hitlergruß bedankte. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs verbrachte sie ihre letzten Jahre in Ost-Berlin. 1949 erkannte ihr die DDR-Regierung einen "Ehrensold" zu. Drei Jahre später starb sie.


Titelbild

Carola Stern: Kommen Sie, Cohn! Friedrich Cohn und Clara Viebig.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006.
169 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3462037242

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