Der eigensinnig Vorbildlose

Goethe-Rezeption im Frühwerk Thomas Manns

Von Heidi-Melanie MaierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heidi-Melanie Maier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Thomas Mann die literarische Form der Intertextualität wie kaum ein Zweiter beherrschte, darüber ist sich die Forschung einig. Sie findet in seinem Werk als Anregung und Nachahmung statt, als Entlehnung, Zitat und Montage. Er selbst hatte seine Arbeitsweise gegenüber Theodor W. Adorno "als eine Art von höherem Abschreiben" bezeichnet. Dabei bezog er sich nicht nur auf literarische Texte. Anregungen und Vorlagen flossen ihm aus Philosophie, Musik, Bildender Kunst, Politik, und Soziologie zu - um von den der Realität entlehnten Vorbildern einmal ganz abzusehen. Die Reihe der Zitierten ist lang: Tolstoi, Hamsun, Flaubert, Goncourt, Nietzsche, Schopenhauer, Schiller, Storm, Fontane, Richard Wagner. Und natürlich Johann Wolfgang Goethe, um dessen angemessene Nachfolge in den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts ohnehin so mancher konkurrierte: Hugo von Hofmannsthal, Gerhart Hauptmann, Hans Carossa und eben auch Thomas Mann.

Thomas Manns Spätwerk ist voller Goethe-Referenzen. Uneinig ist sich die Mann-Forschung jedoch, ab wann genau man von einer ernsthaften Goethe-Rezeption sprechen kann. Es gibt drei Thesen: Manns Goethe-Rezeption setze erst nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Essay "Goethe und Tolstoi" (1921) ein. Eine zweite Gruppe sieht bereits zwischen 1905 und 1921 eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Dioskuren. Die dritte Gruppe deckt den noch fehlenden Zeitraum ab und vertritt die These einer frühen Goethe-Rezeption. Der vorliegende Band ordnet sich hier ein, mit dem Anspruch, "zur Klärung der umstrittenen Frage nach den Anfängen von Thomas Manns Goethe-Rezeption" beizutragen. Ziel ist ein "Gesamtbild für die Goethe-Intertextualität im Frühwerk".

Der Autor der vorliegenden Monografie versucht dieses "Gesamtbild" anhand der Untersuchung der Texte, die vor 1914 entstanden sind, herzustellen: "Gefallen" (1894), "Enttäuschung" (1896), "Der Bajazzo" (1897), "Der Tod" (1897), "Die Buddenbrooks" (1901), "Tonio Kröger" (1903), "Schwere Stunde" (1905) und "Der Tod in Venedig" (1912). Dabei stellt er die jeweilig korrelierenden Zitate nebeneinander. Dies ist zweifellos verdienstvoll. Allerdings kommt der Autor über das bloße Nebeneinanderstellen der Belegstellen kaum hinaus. Dabei wären doch kommentierende Textstellen aus den Briefen und Tagebüchern Manns durchaus hilfreich. Auch zu der einen oder anderen Bewertung möchte man den Verfasser ermuntern: Was bedeutet es denn, wenn Aschenbach die Züge Goethes trägt? Inwiefern wächst Tonio Kröger über sein angebliches literarisches Vorbild Werther hinaus? Auch die abschließende Bewertung: "aufgrund der ausgeprägten Intertextualität in Thomas Manns Werk entsteht der Eindruck, dass er Goethe für genialer gehalten hat als sein eigenes Genie" ist eher kontraproduktiv.

Allerdings ist positiv hervorzuheben, dass die Untersuchung die Lücke der frühen Schaffensphase Manns im Hinblick auf seine Goetherezeption schließt. Denn damit folgt der Band Thomas Manns eigenem Bekenntnis: "So sehr ich mich in jungen Jahren auf Muster angewiesen fühlte und ohne steten Kontakt mit bewunderten Beispielen keinen Schritt zu tun wagte, so ganz ist mir mit der Zeit das eigensinnig Vorbildlose und durchaus Gewagte, die persönliche Ermöglichung von etwas Neuem zum Inbegriff der Kunst geworden."


Titelbild

Jan Alexander Hirn: Goethe-Rezeption im Frühwerk Thomas Manns.
WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, Trier 2006.
115 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3884767941

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