Die Herausforderungen des Unsagbaren

Waldemar Fromms Vermessung der Sprachgrenze vom 18. bis zum 20. Jahrhundert

Von Oliver GeislerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Geisler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn man sich heute einmal auf die Suche nach Schlüsselbegriffen des kulturwissenschaftlichen Denkens begibt, wird schnell deutlich werden: ein solcher Begriff ist wohl unzweifelhaft der der 'Grenze'. Sei es in einer 'Wendung zum Raum', die vor allem von Rändern und Grenzen her gedacht wird, sei es in der post-kolonialen Theoriebildung, die den 'marginal man' in das Zentrum ihrer Beschäftigung stellt oder seien es die Körpergrenzen, deren Verläufe überprüft und neu vermessen werden. In den Dimensionen von Grenzziehung und kultureller Markierung, aber auch von Transiträumen, in denen Mobilität und Stillstellung gleichermaßen kenntlich werden, avanciert die 'Grenze' zu einem Leitbegriff. Und die Kulturwissenschaft kann sich heute mit Fug und Recht als eine Grenzwissenschaft bezeichnen.

Auch bzw. vor allem in Literatur und Ästhetik sind solche Grenzerfahrungen aufzufinden. Einen möglichen Weg entlang der "Grenzen der Sprache" hat nun der Münchner Germanist Waldemar Fromm vorgeschlagen. In seiner Studie verläuft die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren; benannt sind damit zwei zentrale Wegmarken literaturästhetischer Konzeptionierungen seit dem 18. Jahrhundert. Ziel seiner Studie ist es aber nicht, die besagte Grenze lediglich zu orten und zu benennen. Die Sprache wird als "Medium von Individualität" begriffen; die Sprachgrenzen sind dann jene Bereiche, durch die das Subjekt definiert, abgegrenzt wird. Die Grenze zwischen dem Unsagbaren und dem Sagbaren wird in Fromms Studie zum Ausgangspunkt für eine Zusammenführung zweier Diskurse, dem der Sprache und dem des Subjekts. Anthropologische und psychologische Dispositionen seit der Aufklärung werden mit Fragen der Semiotik, vor allem der Trennung von natürlichen und willkürlichen Zeichen verkoppelt. Die Arbeit Fromms steuert letztlich auf Einzeluntersuchungen zu, in ihnen werden "aus historischer Perspektive die Grenzen dessen untersucht, was in der Sprache der Literatur abgebildet oder zumindest gebildet werden kann und was sich der sprachlichen Darstellung entzieht."

Aber bis dahin ist es ein langer Weg. Die ersten 100 Seiten sind nämlich, neben mehreren Explikationen dessen, was der Autor vor hat, dem "theoretischen Ort" - also einer Verortung innerhalb des Forschungsfeldes - gewidmet. So wichtig eine Anbindung an vorhandene Wissens- und Wissenschaftssysteme ist, im Fall dieser Arbeit wäre sie in der Form vielleicht nicht nötig gewesen. Die von Fromm vorgeschlagene und überzeugende 'historische Perspektive' der Arbeit kollidiert gewissermaßen mit der intensiven Rezeption zeitgenössischer Theorien: diese Konzeptionen sollen dann die Grundlage für jene Entwicklungen sein, auf die sie selbst aufbauen. Ein strikteres Festhalten an den eigenen Vorgaben hätte diesen Zirkel vermieden.

Die eigentliche Untersuchung ist dann in zwei Großbereiche gegliedert: im ersten Teil widmet sich Waldemar Fromm der "Geschichte der Absenz im Zeitalter der Präsenz", die die 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts umfasst. Der zweite Teil - "Präsenz in der Phase der Absenz" setzt mit der Frühromantik um 1800 ein und wird bis in die literarische Moderne geführt. In diesem Hauptteil zeigt sich dann auch die Stärke und überzeugende Konzeption der Arbeit. In einzelnen Abschnitten werden die verschiedenen Konzeptionierungen untersucht und kritisch diskutiert. Von da aus kann der Leser die Konkurrenzen, Traditionen, Überschneidungen und Singularitäten des Schreibens und Redens über das Sagbare und Unsagbare selbst in den Blick nehmen. In diesen Abschnitten sind die Begriffsklärungen und Einleitungen stringente Hinführungen zur Arbeit an den Quellen. An deren Anfang stehen philosophisch-psychologische Denkfiguren des Unsagbaren bei Leibniz und Wolff; dann schwenkt Waldemar Fromm auf das Gründungsdokument einer neuzeitlichen Ästhetik, der gleichnamigen Arbeit von Alexander Gottlieb Baumgarten ein. Aufgrund der konzentrierten Aufbereitung Baumgartens durch Fromm können zentrale Dimensionen und durchgängige Konzeptionierungen aus einer Lektüre der Baumgarten'schen "Ästhetik" erschlossen werden. Einmal mehr wird die grundlegende Bedeutung Baumgartens für eine Geschichte der Ästhetik deutlich. Dass für November 2006 endlich eine lateinisch-deutsche Gesamtausgabe des Textes angekündigt ist, ist vor diesem Hintergrund wirklich Grund zur Freude.

Fromm schreitet zentrale Mitschriften der Grenze zwischen dem Sagbaren und Unsagbaren ab. Dabei ist Fromms Untersuchung ganz auf den Fragehorizont nach Subjektivität und Sprache und den Dimensionen von Sagbarkeit und Unsagbarkeit ausgerichtet; dies hat aber zur Folge, dass Dokumente theoretischer Debatten und Fromms Lektüren literarischer Texte auf engstem Raum nebeneinander stehen. Textsortenspezifische Formen der Verhandlung werden so - zugunsten der Fragestellung - nahezu eingeebnet. Was als intensives Austauschverhältnis und gegenseitige Einflussnahme zwischen Text-, Wissens- und Wissenschaftssystemen bestimmbar wäre, läuft so Gefahr, undifferenzierbar zu werden. Allerdings wird im Gegenzug durch diese Konzeption ein Wissenspanorama entfaltet, dass die Rede von der Unsagbarkeit als durchgängig durch ästhetische, philosophische, psychologische und literarische Felder aufzuzeigen vermag. Der mehrere Kapitel umfassende Abschnitt zu Karl Philipp Moritz zeigt das Gelingen dieses Vorgehens, allerdings liegt das wohl auch an der Person Moritz selbst. Denn bei diesem Autor durchdringen sich die Arbeiten zur 'Erfahrungsseelenkunde' und das literarische Projekt und erscheinen, wie Fromm hervorragend zu zeigen vermag, als zwei Redeweisen, die Erfahrungen zu verschriftlichen suchen und sich damit an der Frage nach dem Sagbaren abarbeiten. In der Romantik baut Fromm seine Überlegungen zu der "Antithese von äußerer und innerer Sprache" auf die romantische Sprachursprungsdebatte auf. In wünschenswerter Nähe zu den Primärquellen erarbeitet Fromm zentrale Begriffe und Schreibweisen eines romantischen Denkens entlang der Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren.

Es ist hier nicht der Ort, die einzelnen Etappen nachzuvollziehen, vielmehr sei der Abschnitt zur Romantik, wie dann auch zur Sprachästhetik in der literarischen Moderne, wärmstens zur eigenen Lektüre empfohlen. Die Publikation eignet sich durchaus für einen Überblick über Verhandlungen von Ästhetik, Sprachphilosophie, Psychologie und Anthropologie angesichts der Erfahrung einer Scheidelinie zwischen Unsagbarkeit und Sagbarkeit zu erhalten. Die intensive Textarbeit an den kulturgeschichtlichen 'Quellen' ermöglicht es zudem, zentrale Gedankengänge und Denkfiguren nachzuvollziehen. Allerdings kann durch die Kleingliedrigkeit ganz punktuell ein Aspekt von Sprachkritik, Sprachmagie oder Sprachmessianismus, von theoretischen Debatten und literarischen Projekten aufgesucht werden.

Allerdings wird wohl aufgrund des Preises der Publikation die präzise Kartierung und Vermessung der Sprachgrenzen durch Waldemar Fromm nur wenigen zugänglich werden.


Titelbild

Waldemar Fromm: An den Grenzen der Sprache. Über das Sagbare und das Unsagbare in Literatur und Ästhetik der Aufklärung, der Romantik und der Moderne.
Rombach Verlag, Freiburg 2006.
583 Seiten, 76,00 EUR.
ISBN-10: 379309412X

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