Poesie-Archäologie

Zur Wiederentdeckung von Otto Nebels Ursonate "Unfeig"

Von Martin A. HainzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin A. Hainz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum Gestus der Moderne gehört es, Prinzipien freilegen zu wollen: In principio principium erat, wer es kennt, kennt das Wesen dessen, worüber er räsoniert. "Logik des Produziertseins" - das ist, was denn auch Otto Nebel (1892-1973) seine Ursonate verfassen ließ; wer aber heute die historisch gewordene Moderne nochmals reanimieren will, der geht zu derlei frühen Zeugnissen, die darüber belehren, wie es war, als die Moderne noch versprach, statt Fakten und Gebräuchen Funktionen und Strukturen zu geben, nein: sie bloß freizulegen.

Otto Nebel: Keiner, der heute im Zentrum der Aufmerksamkeit stünde, es aber verdiente. Vielseitig (Zeichner, Maler, Dichter, Schauspieler) und konsequent ist sein Schaffen, das hier wortkombinatorisch und konkret an die Wurzel geht.

Beides prägt diesen Band, worin der wieder entdeckte, wie zu ahnen ist, eben wieder-entdeckt, was im Laut alles geborgen ist: an Denkmöglichem, das auf das Gewisse gerichtet dieses dann als allenfalls denkwahrscheinlich, mehr oder weniger plausibel zeigt. So rekurriert Nebel auf Klanggebilde, die Sinn nicht etwa zerstören, sondern überhaupt erst generieren - im Zusammenspiel mit dem Leser. Die Herausgeber wiederum rekurrieren auf dieses Verfahren, das durch einen anschließenden Versuch des leider jüngst verstorbenen Oskar Pastior nochmals quasi geadelt wird. Der Sinnlichkeit gebührt dabei der Vorrang; so haben die Herausgeber denn auch eine Aufnahme der Lesung auf CD beigefügt, übrigens formschön am Buchdeckel befestigt, was doch unbedingt den CD-Tüten in Büchern vorzuziehen ist, denen den Silberling entnehmen zu wollen meist entweder das Kuvert oder den Geduldsfaden reißen lässt. Die CD enthält historische Aufnahmen der quasi a-historischen Lautarbeit, die archäologisch einen Anfang, ein Prinzip, eben: eine arche sucht.

Dabei zeigt sich in der Tat die Natur der Sprache, und sie ist: Unnatur, nämlich Kultur und Technik. "Es war die Nachtigall, und nicht der Wecker", so wäre diese Natur in Abwandlung Shakespeares zu begrüßen, doch: Die Nachtigall singt so, dass der Hinweis, hier schrille kein Wecker, vonnöten ist. Jedenfalls: ein moderner Weckruf.

Der verklammert den Ernst mit dem Spiel; das Spiel, Silben Permutationen zu unterziehen, wird dabei vom Ernst ebenso kontaminiert, wie der Ernst umgekehrt von dem, was da auf den ersten Blick unsinnig ist: Denn das Spiel wird in der konsequenten Anwendung zum Generator von Realem, das aber als gemachtes nun dem Ernst gleichsam wegbricht. Das ist dann wohl die Engführung dieser Fuge, die von "Zeterenten" zu "Zentner-Enten" voranschreitet, Mikrodramen am Ort, wo Sinn der Form extrahiert und geschaffen, aber auch wieder ins Material eingeschmolzen wird. Lauter "Urgut-Rufe" hallen da bis in die Vernunft und ihre Metaphysik.

Jenseits der Silbe sind es auch Symbole, die wie Hieroglyphen, freilich zentriert, Muster ergeben, Sinn suggerieren, befragbar machen, und zwar bis ins Letzte, nämlich die ästhetische Evidenz jener Ordnungswelten - kosmoi? - die sich über die mehrfach gefalteten Runenfahnen im Buch hin entwickeln. Freilich ist es, so Herausgeber Mauz, zugleich primär des Lesers "Begriffspragmatik", die "alle möglichen 'Texte' 'sakralisieren' " kann - also eine Nabelschau, ein subtiler, konkret poetisch vollzogener Omphalozentrismus.

Der entdeckt dann eben das Faszinosum des Textes auch in sich - ohne, dass der Text im Lesen aufginge. Denn das Lesen zählt, schreibt Pastior in "Das Unding an sich", dass hier "gezählt wird", doch: "Texte sind generell Primzahlen. Je primer umso besser." Und so, wie in der Folge sich nur Thesen aufstellen lassen, welche Muster, welche sie generierenden Kombinatoriken hier unergiebig wären - eine totale, alle 26 Zeichen durcharbeitende, aber auch eine "nullrunenfuge[n]" -, so bleibt auch der Text nur im Lesen jene Erfahrung, die ihm eigen ist.

So werden "(e)in Tee, ein Err, ein Zett" zum Laut-Terzett, eine Methode, die sich blendend mit jener verträgt, die Pastior entwickelt, wobei immer wieder zu sagen ist, dass eine Methode als etwas hinterm Weg (meta & hodos) hier nicht besteht, es sei denn, man würde die Evidenz selbst zu etwas erklären, das metaphysisch hinter sich selbst steht. Die Form ist also Provokation, freilich nicht in dem Sinne, den die Bürgerlichkeit im Dadaismus vermutete; sondern hervorgerufen, provoziert und evoziert wird das Denken, das seine Materialität erlebt, sich über sich selbst beugt, indem es die Form als das Holz untersucht, aus dem es geschnitzt ist. Aus dem die "Gere", von denen das lyrische Ich den "Ting-Zeugen" erzählt, gedrechselt sind: die Speere, die die Kombinatorik hervorbringt, dabei Lexeme und ganze Lexika neu entdeckend.

Holz: Das ist dann das, was in dieser totalen Kunst doch das fühlbare Moment von Natur sein mag, dass diese Texte so unverbrauchbar sind, heute noch immer wie neu sich lesen. Mit etwas Patina zwar, wie sie das Holz kennt, weil es mit dem Gebrauchenden eine Synthese eingeht, kurz: vom Schweiß gebeizt wird; hier: vom Denken am Leben erhalten, das in solchem Wandel besteht. Denn die Überraschung bleibt, doch der Schock ist genommen, weshalb erst jetzt eine breite Leserschaft aufgeregt im Sinne erregter Neugier nun den Spuren jener Wortkunst folgen kann.

Folgen kann - - - und folgen soll, jetzt. Mit den Herausgebern: "Hat UNFEIG sein Werk getan, ist es am Leser, [...] das seine zu tun."


Titelbild

Otto Nebel: Unfeig. Eine Neun-Runen-Fuge. Zur Unzeit gegeigt.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Daniel Berner und Andreas Mauz.
Engeler Verlag, Basel 2006.
96 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3938767049

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