Zwischen Fiktion und Wirklichkeit

Kathrin Röggla ist dem Phänomen des Katastrophischen auf der Spur

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kathrin Röggla, Literatin aus Salzburg, laut Selbstauskunft "fasziniert" von Katastrophen, "aus sehnsucht nach einer kathartischen erfahrung", nimmt in "disaster awareness fair" mit zwei Essays zum "katastrophischen in stadt, land und film" eine Reflexion der Katastrophe aus unterschiedlichen Blickwinkeln vor. Geht es im ersten Aufsatz ("geisterstädte geisterfilme") um eine Betrachtung des urbanen Raums aus der Perspektive seines immanent Katastrophischen, so folgt im zweiten Aufsatz ("die rückkehr der körperfresser") eine Analyse der Katastrophenverarbeitung im einschlägigen Film.

Im ersten Essay dekonstruiert die Autorin das Modell des Zusammenhangs heterogener sozialer Gruppen, das die Stadt in der Vorstellungswelt - insbesondere in der des Europäers - ausmacht. Sie diagnostiziert eine fortschreitende Ausschlussbewegung als Folge des nicht einlösbaren neoliberalen Freiheitsversprechens und eines verstärkten Sicherheitsbewusstseins. So entstehen im Zentrum der Städte protzige Repräsentationsbauten für die Eliten und zugleich an den Rändern Zonen, "die wir nicht mehr einordnen können", die derart katastrophisch sind, dass es möglich ist, dort "einen apokalyptischen film ohne studiotricks und spezial effects zu drehen". Röggla spricht von "neuen unsichtbarkeiten", von einer "theatralen inszenierung" der "fake city", wenn die gläsernen Bürotürme mit ihrer vorgegaukelten Transparenz von Wachschützern gesichert werden, um ein Eindringen der Randständigen zu verhindern. Die Autorin kolportiert dabei die ungute Vorstellung von der Stadt als heillosem Lebensraum, eine Vorstellung, die von Katastrophen(filmen) in Frage gestellt wird.

Denn der Katastrophenfilm, Thema des zweiten Essays, dient als anti-urbanes Ventil für angestauten Frust angesichts der um sich greifenden Privatisierung öffentlichen Raums und der fortschreitenden Exklusionstendenz in der Großstadt, geht es ihm doch um die Aufdeckung des Unsichtbaren und um eine Aufhebung der Grenzen zwischen innen und außen, Zentrum und Peripherie: Es schmelzen die Polkappen, es wirbelt der Tornado oder es bebt die Erde, und im Nu sind alle gleich. Angesichts der existenziellen Bedrohung spielt es keine Rolle mehr, auf welcher Seite der durchsichtigen aber undurchlässigen Glasfassaden man eben noch saß, denn der Bankvorstand und der Obdachlose sind plötzlich gleichermaßen einem Überlebenskampf ausgesetzt, der von der Zivilisation und ihren Institutionen abgefedert worden ist. Doch die Katastrophe sorgt für die Rückkehr in den Naturzustand.

Dazu beobachtet Röggla in den Katastrophenfilmen eine höchst reaktionäre Moral. Eine Konsequenz der Katastrophe ist die Wiederbelebung des konservativen Bilds der trauten Kleinfamilie, die sich am Ende des Films in den Armen liegt. Die gesellschaftspolitische Botschaft wird damit deutlich: Nur die Familie sichert das Überleben, nur sie ist katastrophenresistent. Wer Katastrophenfilme made in Hollywood kennt, weiß, wovon die Autorin spricht. Nur sagt sie damit eben nicht viel Neues, so dass auch ihre Forderung etwas blass bleibt: "es bräuchte heute einen anderen katastrophenfilm, einen, der nicht ein personal, einen familienzusammenhang oder einen staatszusammenhang einem einhämmert. der auf den klebstoff der kleinfamilie verzichtet, an dem seit jahren süchtig herumgeschnüffelt wird." Und auch die anderen Spitzen gegen die Machart der meisten Katastrophenfilme bleiben stumpf, denn dass am Rande des Katastrophengeschehens Abziehbildcharaktere nur höchst einfältige Dialoge führen, über "irgendwelche abgetakelte[n] vorstellungen, küchenphilosophische konzepte, die man zurecht in schubladen lässt, die niemand gerne öffnet", dass stellt auch für den Gelegenheitskinogänger nicht wirklich eine überraschende Neuigkeit dar.

Auffällig und überraschend hingegen ist die Form der Essays. Die durchgängige Verwendung der Kleinschreibung macht den Text schwer lesbar, denn die gewohnten Strukturen lösen sich auf, die Wörter und Sätze verschwimmen zu einer einzigen Bleiwüste, in der man leicht die Orientierung verliert. Der Text erscheint völlig unübersichtlich, ohne Anfang und Ende. Es gibt keine hervorgehobenen Schlüsselbegriffe, auf die sich das Auge ausrichten kann. Eine ärgerliche Marotte der Autorin zu Lasten ihrer Leserinnen und Leser? Nein, eher eine gelungene stilistische Adaption des Katastrophen-Topos, denn Verlorensein im Raum, plötzliche Desorientierung im an sich gewohnten Umfeld, verwischende Grenzen, das ist es ja, was die Katastrophe ausmacht. Die Form unterstreicht daher den Inhalt auf adäquate Weise, und so erscheint der Text insgesamt noch eindringlicher.

Kathrin Rögglas Essays bieten trotz der an manchen Stellen etwas sprunghaften Argumentation und der wenig originellen Schlussfolgerungen zum Profil des künftigen Katastrophenfilms eine gelungene Analyse des Katastrophischen in Fiktion und Wirklichkeit. Sie weisen überzeugend eine Verbindung von Defiziten in der Stadt und der Faszination am Katastrophenfilm auf und fördern das beängstigend Gegenwärtige der Alltagskatastrophe in der Lebenswelt des modernen Menschen zu Tage. Auch, wer die Faszination der Autorin an der Katastrophe bzw. am Katastrophenfilm nicht teilt, findet in der Darstellung des Stadtbildes genügend Stoff zum Nachdenken über gesellschaftliche Fragen, die zeigen, dass wir alle Teil eines Katastrophenfilms sind, dessen Drehbuch "äußerst gierig geworden ist, verdammt gefräßig". Und wer (noch) auf dem Land lebt, sollte wissen: die Katastrophe rollt auf sie oder ihn zu, entweder in Form der fliehenden Massen aus der katastrophengebeutelten Stadt oder in Gestalt einer Naturkatastrophe besonderer Art: der Versteppung breiter Landstriche durch die "unaufhaltsame rückkehr der wildnis, die mit unserer romantischen naturvorstellung nichts zu tun hat". Bedrückendes Fazit: Dem Katastrophischen kann sich keiner entziehen, "von diesem film kommen wir nicht mehr runter."


Titelbild

Kathrin Röggla: Disaster awareness fair. Zum Katastrophischen in Stadt, Land und Film.
Literaturverlag Droschl, Graz 2006.
53 Seiten, 9,50 EUR.
ISBN-10: 3854207115

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