Der Mensch als Patient

Arnon Grünbergs Roman "Gnadenfrist"

Von Matthias PrangelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Prangel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Den Hintergrund dieses wie federleicht hingepustet wirkenden, dennoch wieder in die Abgründe der menschlichen Seele tauchenden kleinen Romans von Arnon Grünberg gibt ein historisches Ereignis ab: Im Dezember 1996 besetzten in Lima Tupac-Amaro-Terroristen die japanische Botschaft und nahmen auf einem Weihnachtsempfang ca. 340 Diplomaten und Personen des öffentlichen Lebens in Geiselhaft. Erst 126 Tage später, im April des folgenden Jahres, wurde die Besetzung von einer Elitetruppe des damaligen peruanischen Präsidenten Fujimori durch eine blutige Aktion beendet, die 17 Menschen das Leben kostete.

Doch obwohl der äußere Handlungsverlauf des Buchs sich auf diesen Terrorakt und noch einen anderen, den freilich fiktiven des Protagonisten auf dem Limaer Flughafen, zubewegt, ist das nicht mehr als der nur schwach beleuchtete Hintergrund, vor dem sich eine ganz andere Geschichte abspielt, ähnlich wie im vorigen Roman "Der Vogel ist krank" (vgl. literaturkritik.de Nr. 10/2005) nämlich wiederum die Dekuvrierungsgeschichte eines Menschen. Und eben deshalb ist das an einigen Stellen von der bisherigen Kritik geäußerte Bedauern, dass uns Grünberg nicht mit Genauerem über die politischen und sozialen Verhältnisse Perus, die Anliegen der peruanischen Rebellenbewegung und die politischen Ideale und Überzeugungen seiner Romanfiguren versorgt, gänzlich fehl am Platz.

Ein Roman handelt vorzüglich von dem, von dem er handeln soll, nicht von all jenem, was den Leser vielleicht sonst noch so interessieren könnte; von dem, was er ausspricht und nicht von dem, wozu er schweigt und sogar noch schweigend schweigt. Zumal für Grünbergs männliche Hauptperson hat zu gelten, dass deren Verwicklung in den Terror des Landes mit Politik, tragfähiger politischer Überzeugung, sozialem Engagement etc. rein gar nichts zu tun hat. Alles hingegen mit ihren Illusionen und Irrtümern, ihrem Selbstbetrug, ihrem eingebildeten Glück, ihrer verrückten Weltsicht und dem weniger von ihr selbst wahrgenommenen Absturz aus all dem, als ihrer vom Erzähler auf offener Bühne vollzogenen Demaskierung.

Warnke ist zweiter Mann an der niederländischen Botschaft in Lima, einem ruhigen Außenposten der Den Haager Politik, macht sich, wenn auch vor lauter Ehrgeiz sich nicht zerreißend, gewisse Hoffnungen, irgendwo und irgendwann auch einmal erster Mann zu werden, genießt beim Botschafter seine tägliche halbe Flasche Wein, verbringt sein Berufsleben auf Empfängen mit lauter Konvention, besucht täglich zum Lesen der "Newsweek" ausgiebig ein Café, versucht pro Monat 20 neue Spanischvokabeln zu lernen und tut, wie er selber es gern sieht, eigentlich nichts, was nur entfernt den Anspruch von Arbeit erheben dürfte - was beim ersten Mann der Botschaft keineswegs etwa anders ist. Dazu eine, wie er meint, Vorzeigeehe, in der sich allerdings das heilige erotische Feuer des Beginns inzwischen ins Lauwarme abgeschwächt hat, zwei bezaubernde Töchter, mit denen er in der Badewanne planscht, eine Villa mit Personal.

Das alles zusammen gibt ihm das sichere, wenn auch nicht sehr tiefe Empfinden, auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen, ein Glückspilz zu sein, den nichts und niemand aus der Bahn werfen könne. Doch alles nur Hybris, Introspektionsdefizit, Verblendung, Pupillentrübung, Privatideologie, eben Illusion, was sehr schnell schon offenbar wird. Denn die Café-Besuche, leer wie sie und im Grunde Warnkes gesamtes Leben waren, schreien nach Erfüllung. Die bietet sich in Gestalt der hübschen peruanischen Soziologiestudentin Malena an. Und so nimmt die Natur, und viel mehr ist da ja auch nicht, denn ihren Lauf. Die Caféhaus-Begegnungen wiederholen sich, eine Einladung Malenas zu einem kleinen Folk-Konzert ihres Gesangvereins in den Suburbs von Lima wird von Warnke angenommen, ein neues Liebesfeuer, in das er sich nur zu gern gleiten lässt und das seine ganze bisherige bürgerliche Existenz ihm fraglich werden lässt, mit Vorbedacht in ihm entfacht.

Bald schon bedenkt er Malena im Liebesrausch oder dem, was er dafür hält, mit Gedichten und verschickt für sie über die Botschaft obskure Päckchen, bis das peruanische Fernsehen erst von der Geiselnahme in der japanischen Botschaft und drei Monate später vom Ende des Dramas und den 17 Toten berichtet, unter denen Warnke deutlich Malena mit dem von ihm geschenkten Delphinkettchen erkennt. Warnke, der Diplomat, also als der tumbe Tor, der im Taumel seiner halb eingebildeten, halb echten Emotionen wie blind in die Falle der peruanischen Rebellenbewegung läuft und sich benutzen lässt? Jedenfalls ist das Ende, obwohl Grünbergs Erzählen auch da noch mit souveräner Leichtigkeit daher kommt, eines mit Schrecken: Warnkes naive Involviertheit in den Terrorakt fliegt auf, seine Demission wird unvermeidlich, seine Ehe prompt geschieden, er selbst, Hass nun auf alles und jeden inklusive sich selbst kultivierend, streunt durch Lima, und am Schluss steht er mit dem Sprengstoffgürtel auf dem Flughafen zwischen den Reisenden und drückt im Gedanken, niemals im Leben lebendig gewesen zu sein, auf den Zünder.

Noch einmal die Frage: Ein tumber Tor? Wohl auch das, gewiss. Und der Erzähler zahlt ihm das gründlich heim. Mit grausamem und dennoch, wie bei Grünberg üblich und glänzend gehandhabt, leicht beschwingtem Zynismus kommentiert er seine trostlose Figur, die selber so ganz und gar kein Talent zum Zynismus und nicht einmal zu Reflexionsakrobatik niedrigerer Ordnung besitzt. Ganz anders als in "Der Vogel ist krank", wo der Protagonist Beck den Akt der Demaskierung an der Welt und sich selbst höchst persönlich und mit wachem, vivisektorischem Auge vornimmt, ist es hier der Erzähler, der seine Figur vor versammeltem Leserpublikum auszieht und zeigt, was hinter all der Zivilisiertheit, Wohlanständigkeit und vorgeblichen Verantwortung steckt: eine letztlich unbeherrschte Triebhaftigkeit, die Warnke in die offene Gewalt treibt und ihn sich samt allem um sich herum in die Luft sprengen lässt.

Natürlich ist das in all seiner geradezu parodistischen Überzeichnung nicht als historischer und nicht als singulärer Fall zu verstehen, sondern als Paradigma eines Menschenbildes überhaupt, einer Epochen- und Gruppenerfahrung zudem, die seit den Zeiten des Existentialismus zwar nicht mehr neu ist, dennoch aber im Zeichen der terroristischen Gewalt unserer Tage in eine Phase neuer Eskalation und Aktualität eingetreten ist. Der tumbe Tor als die eine Variante nur eines uns alle abdeckenden Menschseins, das unter der hauchdünnen Eisschicht von Rationalität, Vernunft, Opportunität, Gefasstheit, Moral, Altruismus etc. die Abgründe des Bösen, des Hasses, der Verzweiflung, des Wahnsinns, der Gewalt beherbergt, die vor allem dann zum Tragen gelangen, wenn es an der harmonisierenden und humanisierenden Kraft der Liebe fehlt. "Alles ist ein Schrei nach Liebe" zitiert der Erzähler am Schluss des Buchs aus einem Gedicht Warnkes an Malena. Alle Schrecklichkeiten, könnte man auch sagen, geschehen aus Verzweiflung über diesen einen Mangel.

In einem kurzen an den Roman angehängten Bericht Grünbergs über seinen Aufenthalt in Lima findet sich denn auch die Bemerkung: "Was ich mit anderen teile - und das sind auch die flüchtigen Momente, in denen ich die Menschen nicht als Schatten wahrgenommen habe, sondern als elegant geformte Klumpen Fleisch - ist Verzweiflung. [...] Was ich in anderen suche, ist Verzweiflung. So wie der Goldsucher Gold." Warnke, der Mensch, wir allesamt sind demnach zutiefst Verzweifelte, die in ihrer Verzweiflung bis zum Äußersten nicht gehen müssen, doch können. Verzweiflung als der existenzielle Urgrund des Bösen. Und die Reaktion auf sie in der Form des Gewaltakts, ganz wie bei Nietzsche, ein Signal des Willens zum Sein, ein Akt der Vitalität und Lebensbejahung selbst dann, wenn alles darüber zerbricht.

In dem Sinn sieht Grünberg uns in dem bewussten Bericht alle als Patienten: "Wenn man jung ist, glaubt man noch, dass es normale Leute gibt und man nur das Pech hat, sie nicht zu kennen. Später erkennt man, dass das Unsinn ist, dass es keine normalen Menschen gibt. Es gibt nur Patienten. Manche Patienten können sich auf Kosten anderer über Wasser halten, und dann nennen wir sie nicht Patienten. Dann nennen wir sie erfolgreich." Solche Philosophie mag für jene, die sich über Wasser halten, ein herber Schlag ins Kontor ihrer zivilisatorischen Selbstgewissheit sein. Überdenkenswert allerdings sind diese Gedanken allemal und immer wieder. Und vielleicht bringen sie der Einsicht in die tatsächliche Beschaffenheit der conditio humana eben doch ein wenig weiter.


Titelbild

Arnon Grünberg: Gnadenfrist. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Rainer Kersten.
Diogenes Verlag, Zürich 2006.
154 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 325786132X

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