Im Widerspruch mit sich selbst

Der Göttinger Slavist Reinhard Lauer legt eine hervorragend geschriebene Biografie über den russischen Dichter Aleksandr Puškin vor

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aleksandr Puškin (1799-1837) gilt bis heute als das russische Dichtergenie, und wenn ihn Kritiker wie der schrille Schriftsteller Eduard Limonov der Banalität zeihen, profitieren sie noch in ihren Provokationen von seiner unangefochtenen Größe.

Reinhard Lauer, emeritierter Professor für Slavische Philologie, hat sich ein Forscherleben lang mit Puškins Werk und Wirkung beschäftigt und sich dazu immer wieder zu Wort gemeldet. Die Bündelung von Reinhard Lauers Erkenntnissen erfolgt in gut überlegten Abfolgen, in denen Puškins Lebensstationen sowie sein persönliches Schicksal immer in der Einbettung kultureller Hintergründe beschrieben wird. Von diesem Verfahren profitieren auch Lauers philologische Erträge in Bezug auf die Besonderheiten in Puškins literarischem Schaffen. Lauer gelingt es, den Leser auf einem Königsweg zwischen Geschwätzigkeit einerseits und Stoffhuberei andererseits in souveräner wie sympathischer Weise in einen ungewöhnlichen Kulturkreis einzuführen. In kritischer Zusammenfassung formuliert Lauer dabei bestimmte Grundthesen, die sich wie Knotenpunkte immer wieder in Leben und Werk von Aleksandr Puškin wiederfinden lassen. So belegt Reinhard Lauer zum Beispiel Puškins widersprüchlichen Charakter sowohl in dessen Lebensführung als auch in seinen verschiedenen Werken: "Immer wieder finden sich widersprechende, widersprüchliche Möglichkeiten in einem Werk oder verteilt auf mehrere Werke, auf Zeichnungen und Briefen, neben- und gegeneinander. Die Aporie, gewiß auch in vielem der irritierenden Lebensart des poetischen Genies geschuldet, wurde zur Denk- und Dichtform." Mit diesem Ansatz kommt Lauer der historischen Figur entgegen - und nicht zuletzt auch den Dichtungen näher. Landläufige Plattitüden, die Puškin einseitig als Revolutionär gegen Despotie oder entgegengesetzt als Zarengünstling charakterisierten, lassen erst in der Zusammenschau der widersprüchlichen Eigenschaften eine Ahnung von Puškins Persönlichkeit zu.

Und wenn Reinhard Lauer in sieben Kapiteln Puškins Lebensstationen skizziert, gelingt es ihm ganz nebenbei, einen brauchbaren Einblick in die kulturelle Situation Russlands im 19. Jahrhundert zu vermitteln. Der Bogen führt über Puškins Kindheit und Schulbildung im Lyzeum von Carskoe Selo, seine Diplomatenlaufbahn in Sankt Petersburg sowie die Verbannung auf das Gut in Michajloskoe bis hin zur Begnadigung durch Zar Nikolaus I. Fortan führte Puškin ein unstetes Leben zwischen Moskau und Petersburg. Landaufenthalte wie im Herbst 1830 auf dem Gut Boldino schätzte Puškin, da sie ihn zur Ruhe zwangen und seinen Inspirationen keine Ablenkung entgegensetzten - und zugleich versuchte er, ganz im Sinne seines widersprüchlichen Wesens, diese Landaufenthalte zu vermeiden. Auch die Familiengründung mit Natalja Goncarova, die er 1831 geheiratet hatte, sorgte für eine neue Art von Unruhe. Drückende Geldsorgen und Spielschulden bildeten eine ebenso widersprüchliche Paarung wie Puškins vitalistische Lebensfreude und sein Duelltod.

Reinhard Lauer charakterisiert Puškin, ganz im Hinblick auf Goethe, als einen "dichtenden Midas", dem künstlerisch alles gelingt. Bei Puškin trifft dies auf seine Versdichtungen zu, aber auch auf die Novelle "Pique Dame", den Roman "Die Hauptmannstochter", die "Erzählungen des Belkin", die Tragödie "Boris Godunov" oder den Versroman "Evgenij Onegin". Der Slavist Lauer bietet hier Einblicke in den wissenschaftlichen Gattungsdiskurs, den Sprachdiskurs und die Auflösung von Bildern und Motiven in Puškins Werk. Die kulturtypologischen Ideen des russischen Aufklärers Petr Caadaev, den der junge Puškin 1816 kennen gelernt hatte, prägten sicher seine Wahrnehmung in Hinblick auf die unterschiedlichen historischen und kulturellen Formationen in Russland und Europa. In sublimer Form finden sich in Puškins Werken Gedanken über Geschichte, Staat, Gesellschaft und Individuum. Im Roman "Die Hauptmannstochter" gipfeln diese Überlegungen nach Reinhard Lauer im Problem der Loyalität. Das Abenteuer des Ich-Erzählers Petr Grinev "zwischen den Fronten, sein Schwanken in den Loyalitäten waren nichts anderes als der romanhaft verkleidete und zeitlich verfremdete Weg, den Puškin selbst einst gegangen war." In einem Tagebucheintrag von Aleksandr Puškin findet sich am 10. Mai 1834 eine Stelle, an der er gegen alle Spekulationen ein Machtwort nicht zuletzt sich selbst gegenüber auszusprechen scheint: "Ich kann Untertan, sogar Sklave sein, aber Liebediener und Hofnarr werde ich nicht einmal beim himmlischen Zaren sein."


Titelbild

Reinhard Lauer: Aleksandr Puskin. Eine Biographie.
Verlag C.H.Beck, München 2006.
351 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-10: 3406540414

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