Ein Roman im historischen Zusammenhang

Thomas Schwarz kontextualisiert überzeugend Robert Müllers "Tropen"

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Robert Müllers Roman "Tropen" von 1915, sein irritierendes Hauptwerk, ist von Elementen durchzogen, die jeder herkömmlichen Vernunft Hohn zu sprechen scheinen. Zu kühnen erkenntnistheoretischen Spekulationen, die nicht grundlos einen der Helden zu einem Romanprojekt mit dem Titel "Irrsinn" verleiten, tritt ein Exotismus, der weit über das Übliche hinaus sexuell aufgeladen ist und eine sadomasochistische Komponente nicht verleugnet. Zu allem Überfluss findet sich im Roman neben abseitigen Rassentheorien auch eine kolonialistische Herrenmenschenhaltung, die, wäre sie wörtlich zu nehmen, allein schon eine nähere Beschäftigung mit dem Werk auf's Ideologiekritische beschränken müsste.

Will man den Roman und seinen Autor überhaupt retten, so sind erstens jene Momente zu betonen, die die Position des Erzählers und seiner weißen Begleiter auf einer Urwaldexpedition unterminieren. Dass es mit den kühnen Kolonialisierungsplänen nicht gar so weit her ist und der Erzähler tatsächlich meist eine eher jämmerliche Figur abgibt, dass zudem der Autor vieles unternimmt, um ihn als unzuverlässig zu demontieren, hat die Forschung seit der Wiederentdeckung des Werks vor knapp dreißig Jahren immer wieder gezeigt. Tatsächlich ist kaum zu verkennen, wie Müller im Roman nicht nur die Legitimation des Kolonialismus, zivilisierend zu wirken zerstört, sondern auch die auftrumpfenden Nietzscheanismen seiner weißen Protagonisten ironisiert.

Von heute aus gesehen ist die Zersetzung eines längst Durchschauten zwar historisch verdienstvoll, doch kaum mehr relevant. Darum geraten zweitens die philosophischen Grundlagen des Romans und seine Verbindung mit zeitgenössischen Diskursen, die heute noch von Bedeutung sind, in den Blick. Christian Liederer publizierte 2004 seine Studie zu "Anthropologie und Wirklichkeit" im Werk Müllers, in der er vom "Tropen"-Roman und möglichen philosophischen Vorbildern ausgehend eine Grundkonzeption zu finden meinte, die Müllers Gesamtwerk postmodernen Konzepten annäherte. Die Beschränkung auf einen zudem recht eklektisch zusammengestellten hochkulturellen Kanon wie eine recht gewaltsame Vereinheitlichung unterschiedlichster Texte Müllers auf ein ahistorisches System ließen Liederer bei allen Erkenntnissen im Einzelnen scheitern.

Thomas Schwarz nähert sich dem Roman wie Müllers Werk überhaupt mit dem entgegengesetzten Ansatz. Diskursanalytisch betont er die Position der "Tropen" in der zeitgenössischen Auseinandersetzung um Imperialismus und Kolonialpolitik. Dabei ist er sehr zurückhaltend gegenüber vorschnellen Systematisierungen von Müllers Position. Das "Phantoplasma" im Roman etwa, ein Zentralbegriff in den Überlegungen der erzählenden Hauptfigur Brandlberger und auch in Liederers Systemversuch, belässt Schwarz zu Recht in seiner Ambivalenz. Müllers Werke nach dem Ersten Weltkrieg sind bei ihm mehr als die Wiederholung eines zuvor schon Gedachten, sie markieren einen Neuansatz.

Schwarz zeigt auf beeindruckende Weise, wie die umfassende Lektüre eines Diskursumfelds produktiv für das Verständnis eines Einzelwerks werden kann, das gleichwohl nicht zum Beleg für sozialwissenschaftlich Vorgegebenes reduziert wird. Zwar trägt sein Buch wenig Neues zu textimmanenten Verweiszusammenhängen bei, mit denen sich auch schon eine Vielzahl von Studien befasst hat. Wenn er bereits Bekanntes mit der Terminologie von Gérard Genette neu benennt, so bringt das interpretatorisch keinen Zugewinn. Doch wird in seiner Diskursanalyse erst deutlich, in welchem Maße das scheinbar Abseitige dessen, worüber die Romanfiguren streiten, für die Zeitgenossen zentrale Fragen waren und damit auch, in welchem Maße Müller nicht Erkenntnis überhaupt problematisierte, sondern Partei in einem aktuellen Kampf nahm.

Schwarz' Darlegungen behandeln die Problemfelder "Exotismus und Imperialismus", "Kartographie und Ethnographie", "Neurasthenie und Perversion", "Hybridität und Biopolitik" sowie "Imperiale Visionen". Wenn sich in dieser Einteilung auch im Inhaltlichen Überschneidungen ergeben, so wird auf diese Weise doch deutlich, mit welch vielfältigen Diskussionssträngen Müllers Werk verknüpft ist. Müller nahm sowohl Elemente aus der exotistischen Literatur als auch aus der zeitgenössischen Völkerkunde auf, übersteigerte jedoch beide derart, dass sein Roman als Kritik am kolonialistischen Blick gelesen werden kann. Doch zeigt Schwarz überzeugend, dass es Müller dabei nicht um eine Kritik im Imperialismus im frühen 20. Jahrhundert ging, sondern um ein eigenes imperiales Projekt, das noch maßloser war. Zumindest bis in die ersten Jahre des Ersten Weltkriegs wendete sich Müller gegen die heuchlerische Behauptung der Kolonialherren, die Zivilisation zu bringen, nicht aus humanitärer Perspektive, sondern weil er Krieg und einen sozialdarwinistischen Überlebenskampf zwischen den Völkern offen bejahte.

In diesem Punkt stimmte Müller, wie Schwarz überzeugend belegt, mit zahlreichen anderen Intellektuellen der Jahrhundertwende überein. Auf anderen Feldern hingegen vertrat er eine Minderheitenposition. So war Nervosität ein beherrschendes Thema jener Jahre und Neurasthenie - in Abgrenzung zur meist Frauen zugeordneten Hysterie - eine häufige Diagnose für psychisch erkrankte Männer. Müller gehörte zu jenen, die die scheinbare Schwäche zu einer Stärke umdefinierten. Äußerste Reizbarkeit der Nerven wird bei ihm geradezu zum Merkmal eines Eroberers, zeigt den exemplarischen Imperialisten als Repräsentanten eines hochentwickelten Typus.

Das greift auch ins Sexuelle über. Während die reisenden Ethnografen in ihren Berichten sich zumeist als resistent gegenüber Verlockungen darstellten, sind die Figuren in "Tropen", mit Billigung ihres Autors, nicht allein zum Geschlechtsverkehr bereit. Ihre Lust steigert sich bis hin zu sadomasochistischen Spielarten der Sexualität, die dem Autor keineswegs als krankhaft gelten, sondern ihre positiv belegte Vorurteilslosigkeit zeigen sollen.

Die sexuelle Verbindung europäischer Männer und exotisierter Frauen, bei Müller als Rassenfrage gefasst, war, als "Tropen" erschien, negativ belegt. Schwarz zeichnet nach, wie in der deutschen Kolonialdiskussion dieses Feld umstritten war. Angesichts der hohen Sterblichkeit weißer Kolonisatoren durch Tropenkrankheiten wurde zunächst Vermischung mit den Einheimischen durchaus als Möglichkeit, koloniale Herrschaft zu stabilisieren, ins Auge gefasst. Die Verbesserung der Tropenmedizin wie auch die Anklagen, die in Deutschland gegen sexuell motivierte Übergriffe von Kolonialsoldaten laut wurden, drängten diese Variante zurück. Die Kolonialpolitik unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg setzte auf strikte rassische Abgrenzung. Müller dagegen, für den die Verbindung von Sexualität und Gewalt ohnehin ins sozialdarwinistische Konzept passte, sah in der Verbindung verschiedener "Rassen" immer noch eine Zuchtmöglichkeit, die eugenisch auf die Schaffung einer "neuen Rasse" zielte.

Hier erreicht Schwarz' genaue historische Rekonstruktion ihre größte Aktualität: Dass Hybridität allein noch keinen emanzipatorischen Gehalt hat, sondern sich sehr wohl mit imperialistischen Konstruktionen verbinden kann, wird in der gegenwärtigen Diskussion meist vernachlässigt. Wie sehr ein hybrider "neuer Mensch" zum Imperialismus passt, der nur eben seine nationalstaatlichen Wurzeln kappen muss, zeigt Schwarz auch an Müllers Nachkriegswerk.

In diesen späteren Texten Müllers ist von Kampf, Krieg und Vernichtung kaum mehr die Rede. Der Autor hat sich vom begeisterten Bellizisten zum Pazifisten gewandelt. Bekannt war, dass Müller nach mehreren Versuchen, bei denen er untauglich gemustert wurde, als Freiwilliger am Ersten Weltkrieg teilnehmen konnte, nach einem Nervenschock im August 1915 allerdings nur hinter der Front eingesetzt wurde. Schwarz verbindet in seiner Diskursanalyse das individuelle mit dem kollektiven Schicksal. Er belegt die psychiatrische Erwartung zu Kriegsbeginn, Nervenkrankheiten würden in der Härte des Kriegs geheilt, die indessen durch massenhafte Traumatisierungen widerlegt wurde. Auch bei Müller zeigt sich dieser Wandel; plausibel deutet Schwarz verschiedene nach 1915 entstandene Texte als Versuch, erst die erschütterte Persönlichkeit der Ideologie gemäß zu stabilisieren, dann aber den Bruch zu akzeptieren und ins Werk zu integrieren.

Anders als Schwarz meint, dürfte das aber kaum mehr Einfluss auf die Konzeption der "Tropen" gehabt haben. Der umfangreiche und gut durchgearbeitete Roman erschien 1915 und dürfte als Dokument des Versuchs, einen "Nervenchoc" im Spätsommer dieses Jahres zu bewältigen, kaum infrage kommen. Auf sichererem Boden bewegt sich Schwarz erst wieder in seiner Interpretation der Erzählung "Das Inselmädchen" von 1919, die wie der Roman für das Exotismus-Thema einschlägig ist. Anders als im Roman, in dem Abenteurer in eine nicht kontrollierte Wildnis vorstoßen und Müllers sexualisierter Utopie kaum eine Grenze gesetzt ist, kommt der Protagonist der späteren Erzählung als Kontrollbeamter einer internationalen Behörde in eine streng reglementierte Kolonie, in der sexuelle Beziehungen zu den Einheimischen offiziell verboten sind, praktisch aber als Erpressungsmittel fungieren. Schwundform der Entgrenzung ist dort das Bordell, der sexuelle Kontakt mit den Einheimischen ist durch taktische Überlegungen wie durch die Angst vor Geschlechtskrankheiten verhindert. Am Ende reist der Held ab, ohne eine Begegnung mit den Tropen, die auch hier vor allem geschlechtlich imaginiert ist, erlebt zu haben.

Desillusionierung ist ein Motiv im Nachkriegswerk Müllers. Gegenläufig aber ist seine Teilnahme am Aktivismus, seine Präsenz als österreichischer Vertreter Kurt Hillers. Das Spannungsverhältnis von literarischem und essayistischem Werk erklärt Schwarz nur unzureichend; abwechselnd parodiert bei ihm Müllers Literatur die unbequemeren Positionen in den Essays oder erklären Fiktion und politischer Text einander. Schwarz' Verdienst liegt dagegen darin, aus den noch kaum ausgewerteten späteren Essays Müllers etwas wie eine politische Positionierung destilliert zu haben, über die zu diskutieren sein wird. Doch sind manche dieser Essays selbst in ihrer Rhetorik derart gebannt, dass sie die eigenen Behauptungen unterminieren und so sich dem nähern, was Schwarz allein dem fiktionalen Werk zubilligt. Hier liegt Stoff für die weitere Forschung, die aber kaum wird zurückgehen können hinter eine gleichzeitig auf historische und aktuelle Diskussionen bezogene Situierung, wie Schwarz sie für Müllers Hauptwerk erstmals leistet.


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Thomas Schwarz: Robert Müllers Tropen. Ein Reiseführer in den imperialen Exotismus.
Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren, Heidelberg 2006.
342 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-10: 3935025866

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