Im Umkehrschluss

Das alte Lied des Mutter-Tochter-Konflikts wird in Annette Wieners' Debütroman "Die Beerdigung ihrer Mutter" neu erzählt

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter ist oft außergewöhnlichen Belastungen ausgesetzt, wie bei Vätern und Söhnen auch. Es ist ein altes literarisches Thema, dessen Grundkonflikte immer wieder anders variiert und erzählt werden. Beim Debütroman der Journalistin und Drehbuchschreiberin Annette Wieners verhält es sich aber etwas anders, als wir es aus der Literatur gewohnt sind. Denn: Hier stehen eine Tochter und eine Mutter im Mittelpunkt der Geschichte, die nicht miteinander verwandt sind, eine Überkreuzung also.

Eva lernt Charlotte in der Schule kennen, weil beide vorn in der Nähe der Lehrerin sitzen wollen. Bereits hier zeigt sich das Symptom, an dem die Mädchen leiden. Ihre Mütter sind unnahbar, jede auf ihre Weise. Evas Mutter ist Ärztin, will alles anders machen als ihre Eltern und lässt Eva frei aufwachsen. Eine Verbundenheit zwischen Mutter und Tochter existiert nicht, es herrscht eine versachlichte Kommunikation vor, die intellektuelle Ebene ersetzt dem Mädchen die Sehnsucht nach Körperlichkeit, nach Berührung und Emotionalität nicht.

Bei Charlotte liegt der Fall anders. Deren Mutter Maria ist verloren in ihrer Familie, auch sie kann keine Nähe zu Kindern und Mann herstellen bzw. diese nicht zu ihr. Sprachlose Verhältnisse, die dafür sorgen, dass Charlotte bereits mit 18 auszieht, weil sie diese Atmosphäre nicht ertragen kann. Eva, höchst sensibilisiert für die Konflikte, begreift die Zusammenhänge bei der ersten Begegnung mit Maria sofort. Sie ist hingerissen von dieser Frau und begehrt sie auf eine verzweifelte, aggressive Weise. Dabei versteigt sie sich in Begierden und Handlungen, die nur an der Oberfläche sexuell besetzt sind. Sie will Maria dazu bringen, sich zu entäußern, Emotionen zu zeigen, konkrete Nähe zuzulassen, ebenfalls zu begehren. Ihr Kampf ist unter der Oberfläche ein Kampf um die eigene Mutter, bei der sie diesen Weg nicht findet.

Maria wehrt die Freundin ihrer Tochter ab. Und doch ist da eine Faszination, der sich Maria nur schwer entziehen kann. Schmerz und dessen Funktion als Zeichen von Lebendigkeit spielt eine Rolle, wenn die beiden sich auseinander setzen, bis zum tödlichen Finale: Am Tag der Beerdigung kommt es zu extremen Reaktionen der Freundinnen, die sich bis zum folgenden Tag fortsetzen und erst am Grab der toten Mutter ausklingen.

Annette Wieners bedient sich eines Stils, der gewöhnungsbedürftig ist, weil er betont nüchtern gehalten ist, um dem Ganzen mehr Dramatik zu geben. Diese Dramatik wird verstärkt durch Farb- und andere Symbole, da werden rote und schwarze Kleider getragen, die jeweils einer anderen gehören, Erde wird gekratzt, bis die Fingerkuppen bluten, es wird geschmeckt und gerochen und gemanscht, Fotos an Slips getragen, noch mehr geblutet. All dies unterstreicht die Auseinandersetzung mit dem mütterlichen Körper, die hier stattfindet, und dieser Körper - so lesen wir es bei Gender-Theoretikerinnen - ist nicht nur ein symbolischer, sondern immer auch ein realer Körper.

Die beklemmende Atmosphäre der Verlorenheit beider Töchter, aber auch der Mütter durchzieht das Buch, findet ihre Parallele in den radikalen Handlungen von Eva, die sich anders nicht zu helfen weiß, weil sie ihr Begehren nicht in Worte fassen kann. Ihr bleibt als Schutz nur der Umweg über die fremde Mutter, die sich aber weder verdinglichen noch funktionalisieren und schon gar nicht vereinnahmen lässt.

Bei aller Wucht, mit der die Autorin das Thema Mutter-Tochter in Symbole fasst, irritiert eine sprachliche Unsicherheit, wenn es etwa heißt: "Ich erhob mich mit Mühe und schritt aus der Küche. Ich schritt die Treppe hoch ins Badezimmer hinein. Ich zog meine Hose aus, nass war sie gefleckt, ich warf mein T-Shirt darüber und die blutige Unterhose und dann stieg ich in die Badewanne, die voller Wasser und Schaum noch sauber stand."

Trotzdem ist "Die Beerdigung ihrer Mutter" ein lesenswertes Debüt.


Titelbild

Annette Wieners: Die Beerdigung ihrer Mutter. Roman.
Konkursbuchverlag, Tübingen 2006.
200 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3887693590

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