Das Denken des Anderen

Jörn Rüsen über die Herausforderung der Kulturwissenschaft

Von Christian LotzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Lotz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Das Andere denken" - viele der einflussreichsten Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts haben sich an diesem Thema abgearbeitet: Husserl, Levinas, Sartre, Merleau-Ponty, Adorno und Derrida, um nur einige zu nennen. Da verwundert es schon, dass der in Witten lehrende Historiker und Präsident des Kulturwissenschaftlichen Institutes Essen, Jörn Rüsen, ein so großes Thema in vier abgedruckten Vorträgen abhandelt. Schon das Motto lässt den Leser scheinbar mit dem Anderen in Kontakt treten: "Ein Edler widmet sich der Grundlage, und wenn sie steht, wächst das Dao", zitiert Rüsen Konfuzius nach.

Einem Beitrag über den "Ethnozentrismus und seine Überwindung" folgen Überlegungen zum Holocaust, zur deutschen und zur narrativen Identität, bevor Rüsen die Thesen Goldhagens einer Kritik unterzieht, um abschließend auf die "Zukunft als Kulturproblem" einzugehen. Der Band ist im positiven Sinne ein Patchwork. Doch fragt man sich auf vielen Seiten, was er mit dem Denken des Anderen zu tun hat. Es bleibt nicht nur in der Schwebe, ob der Inhalt des Bändchens dem Titel entspricht, sondern auch, ob das Dao wirklich gewachsen ist.

Seine postmoderne Urbanität demonstriert Rüsen in asiatischen, talmudischen und afrikanischen Weisheiten, die seinen Aufsätzen vorangestellt sind. So zitiert der Autor einen Spruch aus dem Talmud "Der Meister sagt: Es liegt weder in deiner Macht, das Werk zu vollenden, noch bist du frei, es aufzugeben". Diese faszinieren zwar in ihrer Rätselhaftigkeit, was aber dieses Motto mit der deutschen Identität und der Holocaust-Erfahrung zu tun haben soll, worüber der anschließende Aufsatz handelt, bleibt Rüsens Geheimnis. Und diese "Dunkelheit" ist für alle Abhandlungen charakteristisch.

Als zentraler Beitrag kann der über den Ethnozentrismus gelten. Rüsen versucht in eleganter Manier ein begriffliches Feuerwerk zu entfalten. Er interpretiert den Ethnozentrismus als eine anthropologische Konstante, die aus der Identitätsbildung von Individuen und Kulturen heraus entstehen müsse, weil er ein Produkt der Innen-Außen-Differenz und unterschiedlicher Wertsysteme darstelle. Im Anschluss platziert der Autor einige Bildchen aus einer Weltchronik des 15. Jahrhunderts und einer chinesischen Weltbeschreibung aus dem 17. Jahrhundert in seinem Text, um daran die "Tiefe der menschlichen Kultur" zu demonstrieren. Von dieser Tiefe wohl selbst beeindruckt, behauptet er in einem nächsten Schritt, dass solche Strategien, die zuvor als notwendige Bestandteile der "Ontogenese eines Menschen" bezeichnet wurden, den Herausforderungen der Zukunft nicht gewachsen seien und sie daher abgeschafft werden müssen. Von so viel Einsicht beflügelt, mutet Rüsen dem Leser gleich noch einen weiteren Schritt zu. Er empfiehlt gegen den Ausschluss des Fremden ein "energisches Zurgeltungbringen von Wahrheitskriterien". Unwillkürlich sucht man als Leser in den Fußnoten nach Hinweisen auf Schriften von Jürgen Habermas, aber bevor man dazu kommt, hat Rüsen den Leser erneut überrascht. Voraussetzung der Überwindung des Ethnozentrismus sei die im Prozess der Moderne errungene "Gleichheit der Menschen". "Wenn man die ethnozentrische Logik der Identitätsbildung ändern will", meint Rüsen, "dann muss man den Schritt von der Exklusion zur Inklusion tun". Warum in diesem Prozess ausgerechnet die Wissenschaften in der Form der Kulturwissenschaften die unterschiedlichen Wertsystem-Differenzen überwinden sollen, wie er weiter behauptet, bleibt unklar. Schließlich empfiehlt Rüsen, die Gleichheitsthese gleichsam dialektisch negierend, die Theorie der Hermeneutik als Therapie des Ethnozentrismus. Dem Verstehen des Andersseins habe dann eine "Perspektivenreflexion", eine "Historisierung" und ein "neuer Modus von Universalisierung" zu folgen. Warum aber nach erfolgter Inklusion des Anderen dieses noch in seinem Anderssein verstanden werden muss, behält der Autor für sich. Voller Pathos wird am Ende behauptet, mit dem "neuen Paradigma" der "Zukunft unserer Weltgesellschaft eine Friedenschance" geben zu können.

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Jörn Rüsen: Das Andere denken.
Humboldt Studienzentrum, Ulm 2000.
89 Seiten,
ISBN-10: 3928579142

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