Ein erschütterndes Exil-Schicksal

Alberto Dines hat ein faszinierendes Buch über Stefan Zweigs letzte Lebensjahre in Brasilien geschrieben

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alberto Dines, der bekannte brasilianische Journalist und Präsident der Gesellschaft "Casa Stefan Zweig", die sich um die Einrichtung eines Museums in Petropolis bemüht, ist gleich in mehrere Rollen geschlüpft, um dieses Buch über Stefan Zweigs letzte Lebensjahre schreiben zu können: Als Reporter geht er den Lebensstationen Zweigs nach, als Schriftsteller zeichnet er ein sensibles Lebensbild des Dichters, als Historiker dokumentiert er die Zeitverhältnisse nicht nur in Brasilien und als Psychologe dringt er in die komplizierte Persönlichkeit Zweigs ein. Sein blendend geschriebenes Buch sorgte in Brasilien bei seinem Erscheinen 1981 auch deshalb für Aufsehen, weil Dines als einer der ersten den Antisemitismus und die opportunistische Haltung des damaligen Vargas-Regimes anprangerte. Die vorliegende, von Marlen Eckl aus dem Portugiesischen ins Deutsche übersetzte Edition ist eine Überarbeitung der bereits erweiterten 3. Auflage der brasilianischen Ausgabe und berücksichtigt neue Quellen und Zeitzeugenberichte. Dines wertet erschütternde Lebensdokumente aus dem letzten Lebensjahrzehnt - von 1932 bis 1942 - des "guten Europäers" Stefan Zweig aus, wie ihn sein Freund Romain Rolland genannt hat. Aus ihnen spricht die tiefe Verstörung des Schriftstellers, die durch seine Emigration und den Zweiten Weltkrieg bewirkt wurde.

Zweig war ein schweigender, ein unpolitischer Schriftsteller, der aber frühzeitig die heraufziehenden dunklen Wolken am Horizont erkannt hatte. Die "Germanophilie" der Österreicher störte ihn, denn seine Heimat war Europa, ein Europa der großen Geister, Paneuropa, der politische Traum des Grafen Condenhove-Calergi und der Pazifisten. Um sich nun als Flüchtling in einem fremden Land unter verschlechterten Lebensbedingungen und belastet durch die Kenntnis von Verfolgung und Terror in der Heimat seiner selbst zu vergewissern, setzte sich Zweig für verfolgte und vertriebene Schriftsteller-Kollegen wie auch völlig Fremde ein. Er reiste unermüdlich, um in Vorträgen den Geist des Humanismus zu beschwören, und wandte sich vor allem dem autobiografisch gefärbten Roman oder der Autobiografie zu.

Der nun 60-jährige Zweig ist sich bewusst, einer vergangenen Generation anzugehören, dessen lebendige Erfahrung für jüngere Zeitgenossen schwer vorstellbare Geschichte geworden ist. Er hat in drei Welten gelebt: als Kind und junger Mann in der Vorkriegszeit der Habsburger Monarchie, symbolisiert durch das Elternhaus in Wien; in der Periode zwischen den beiden Weltkriegen, genauer zwischen 1919 und 1934, für die stellvertretend Salzburg steht, und die Emigrationszeit in England, den USA und Brasilien, in der ihn der Widerspruch zwischen dem Willen zu abgeklärter Zeugenschaft, der Klage über den Verlust seiner Lebenswelt und dem Grauen vor der scheinbar unaufhaltbaren Expansion Hitlers schließlich zum Freitod zwingt. "Ich pendle zwischen äußerster Scham und äußerster Schamlosigkeit", schrieb er bitter-sarkastisch. Dines gibt Rückblicke auf Zweigs Lebensgeschichte, die sich zu einer ganzen Geistes- und Kulturgeschichte ausweiten.

Aber noch gelang Zweig die Sublimierung eigener Ängste oder seiner "schwarzen Leber", wie er seine depressiven Stimmungen mit Blick auf die antike Humoralpathologie bezeichnete, durch die Dichtung. In ihr sieht er den alleinigen Sinn seines Lebens. Er veröffentlicht 1933 die Biografie "Marie Antoinette", sein letztes Buch im Insel Verlag, vollendet das Libretto zu Richard Strauss' komischer Oper "Die schweigsame Frau", bringt dann im Herbert Reichner Verlag Wien "Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam", "Maria Stuart", "Castellio gegen Calvin - Ein Gewissen gegen die Gewalt", die Aufsatzsammlung "Begegnungen mit Menschen, Büchern, Städten" und "Magellan - Der Mann und seine Tat" heraus. 1939 erscheint sein erster Roman "Ungeduld des Herzens", ein großer internationaler Erfolg, und 1941 sein umstrittenes Buch "Brasilien - Ein Land der Zukunft". "Amerigo - Die Geschichte eines historischen Irrtums", seine Autobiografie "Die Welt von Gestern" und die berühmte "Schachnovelle", sein kreativer Schluss- und Höhepunkt, gelangen erst posthum an die Öffentlichkeit.

In den Tagebüchern und Briefen, die Dines neben Zeugnissen von Zeitgenossen und Zeitdokumenten gründlich ausgewertet hat, finden wir nicht nur wichtige Hinweise zur Entstehungs- und Druckgeschichte der Werke, sondern hier wird das ganze Netz der Beziehungen sichtbar, das Zweig mit seiner bald geschiedenen Ehefrau Friderike, mit Freunden und Vertrauten, Kollegen und Übersetzern unterhält. Manchmal gewinnen die Briefe selbst Tagebuchcharakter, wenn der Schriftsteller intimste Eindrücke registriert und seine Welthaltung sehr eindringlich beschrieben wird. Die angeborene Scheu vor der Selbstbiografie lassen ihn mehrere Erschütterungen überwinden - die Ehekrise, die Entfernung aus Österreich, der "Sturz ins Leere", wie er 1938 an René Schickele schreibt, die Angst auch vor dem Alter. Er wendet sich in seinem Schreiben der Vergangenheit zu, um die Gegenwart ertragen zu können. Er muss jetzt nicht Erdichtetes, sondern selbst Erlittenes darstellen.

Gegen Ende der 20er-Jahre lag Zweigs schöpferischste Zeit. Eine unendliche Vielfalt der Tätigkeiten, ein unerschöpflicher Strom von Essays, Rezensionen, Novellen und Legenden täuschten über seine damals schon akute geistige Krise hinweg. Er besaß eine nahezu unheimliche Vorausahnung der schrecklichen Ereignisse, die in wenigen Jahren Europa heimsuchen sollten, und zugleich den naiven Glauben, dass die Macht der Vernunft dennoch dem Aufstieg des Totalitarismus Einhalt gebieten werde. An Joseph Roth schreibt er am 25. September 1937: "Nein, mein Freund, nicht Artikel jetzt - für unsereinen wäre es das Klügste, in Shanghai oder Madrid sich von einer Gasbombe auslöschen zu lassen und damit vielleicht einen Lebensfreudigeren zu retten [...] Nicht kämpferisch werden, nicht unerbittlich, weil die Unerbittlichen durch ihre Brutalität triumphieren - sie lieber widerlegen durch das Anderssein, sich höhnen lassen für seine Schwäche...".

Die Beziehung zu Kippenberg, seinem "Insel"-Verleger, wollte er nicht unterbrechen. Sein Schweigen brachte ihm nichts außer Verwünschungen derjenigen ein, die auf Aktion und Protest gegen die Nationalsozialisten drängten. Am Tage der Bücherverbrennung hatte er an Romain Rolland geschrieben, er habe seinem Salzburger Haus, seiner Sammlung und seinen Büchern nun endgültig Lebewohl gesagt. Er stand im Feuer zwischen den Schützengräben. Die Nazis hatten für sein Abseitsstehen, für das stille Bemühen des Juden Zweig um Unauffälligkeit nichts als Verachtung übrig, während die Emigranten ihn schlicht als Feigling brandmarkten. Als er 1935 zu einer Vortragsreise in die USA eingeladen wurde, enthielt er sich jeder Stellungnahme gegen das Hitler-Regime. Verzweifelt klammerte er sich an ein Europa, das nicht mehr existierte, und weigerte sich, dessen Tod als gegeben hinzunehmen. Er litt unter einer "Verwirrung der Gefühle", die schmerzvoller waren als die des Helden in seinem gleichnamigen Roman und die ihn auch im praktischen Leben völlig durcheinander brachte. Der Sündenbock war seine Frau Friderike, Salzburg und sie wurden zu einem "Komplex" - er wollte sich von beiden befreien.

Der Abgang des Verlegers Reichner brachte dann eine der letzten Säulen zu Fall, die Zweigs Leben noch stützten: die Möglichkeit, sich im deutschen Sprachraum zu artikulieren. Er kam über diesen gleichzeitigen Verlust von Heimat und Sprache nie hinweg. Er hatte das Gefühl, einer verlorenen Generation anzugehören - "Wir sind doch nur Gespenster - oder Erinnerungen" - für die es keinerlei Aussicht gab, die bevorstehenden Jahre des Hasses, der Bitternis und des Chaos zu überstehen, um danach eine bessere Welt zu erleben. "Wir werden ja der nächsten Generation schon Curiosa sein, letzte Exemplare einer ausgestorbenen Rasse, homo austriaco-judaicus!" (an Felix Braun, 5. August 1939).

Auf dem Weg nach Argentinien zur Teilnahme an einem Kongress des PEN-Clubs hatte er auf Einladung der Regierung Zwischenstation in Brasilien gemacht, das ihn als "Experiment vollkommener Rassenmischung und Farbgleichsetzung" (an Berthold Viertel, 11. Oktober 1940) stark beeindruckte. Dines beschreibt, wie Zweig 1936 in Brasilien mit allen Ehren empfangen wurde. Zweig präsentierte sich als Opfer des Nationalsozialismus, sah aber von einem anti-nationalsozialistischen Protest ab. Deprimiert über die Lage in Europa, benötigte er einen Wunschtraum: "Wer das Brasilien von heute erlebt, hat einen Blick in die Zukunft getan". Doch er täuschte sich: "Das Paradies hat sich verändert oder ist reifer geworden", schreibt Dines.

Hatte Zweig 1936 in Brasilien noch eine subtil getarnte Diktatur vorgefunden, zeigt sie sich jetzt, vier Jahre später, als er sich abermals Brasilien zuwendet, gänzlich unverhohlen. Dines: "Drôle de guerre, er flieht vor Hitlers Drittem Reich und sucht Zuflucht im Estado Novo, einem 'Sprössling' Mussolinis". Zweigs Lobgesang "Brasilien. Ein Land der Zukunft" wird von der Kritik und den Intellektuellen im Lande schlecht aufgenommen. "Auf Bestellung geschrieben", lautet die mildeste Anklage. Keiner spricht davon, so Dines, dass die Tauschware eine Aufenthaltsgenehmigung für Brasilien gewesen ist.

Im September 1941 zieht Zweig mit seiner Sekretärin und neuen Ehegefährtin Lotte Altmann nach Petrópolis, wo er noch mit letzter Kraftanstrengung seine Autobiografie "Die Welt von Gestern" und die "Schachnovelle" abschließen kann, während die Studie über Montaigne, "l'homme libre - den Vorkämpfer für die innere Freiheit", nur noch begonnen wird, bevor beide am 23. Februar 1942 ihrem Leben ein Ende setzen. Sechs Tage vorher, es war Karnevalsdienstag, hatte er in Rio de Janeiro in den Zeitungen von der Eroberung Singapurs durch die Japaner gelesen und war sofort nach Petrópolis zurückgekehrt, um seine editorischen Angelegenheiten endgültig zu ordnen. Seinen letzten wehmutsvollen Brief schreibt er - "in den letzten Stunden" - an seine erste Frau Friderike.

Im Testament, einer Liebes- und Abschiedserklärung an Brasilien, spricht er davon, dass seine Kräfte "durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft" seien. "So halte ich es für besser, rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzuschließen, dem geistige Arbeit immer die lauterste Freude und persönliche Freiheit das höchste dieser Erde gewesen".

Über Zweigs Freitod haben sich ganze Legenden gerankt. Dines hält sich dagegen strikt an die Fakten und beteiligt sich an keiner Spekulation. Aber man wird sich an die weisen Worte Sigmund Freuds halten müssen, dem sich Zweig tief verbunden fühlte und dem er auch 1939 in London die Totenrede hielt: "Die biografische Wahrheit ist nicht zu haben [...] und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu brauchen".

Dines' Buch ist mit suggestiv erzählerischem Können und enzyklopädischer Gelehrsamkeit zugleich geschrieben, es stellt ein Standardwerk für die Stefan-Zweig-Forschung wie für die Geistes- und Kulturgeschichte Europas der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar.


Titelbild

Alberto Dines: Tod im Paradies. Die Tragödie Stefan Zweigs.
Edition Büchergilde, Frankfurt a. M. 2006.
724 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3936428646

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