Verlorene Illusionen und Paradiese

Die fünf Romane des F. Scott Fitzgerald in einer Neuausgabe

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer in diesen Herbsttagen Gefahr läuft, unruhig in Alleen zu wandeln oder lange Briefe zu schreiben, sollte sich besser die fünf Romane von F. Scott Fitzgerald zur Hand nehmen, die der Diogenes-Verlag in einer ansprechenden Neuausgabe im Schmuckschuber anbietet und die gleich drei Neuübersetzungen präsentiert: "Der große Gatsby", "Zärtlich ist die Nacht" und "Die Liebe des letzten Tycoon".

F. Scott Fitzgerald, der 1896, im selben Jahr wie John Dos Passos, in Minnesota geboren wurde, ist sicherlich eine der schillerndsten Personen und Autoren der literarischen Moderne in Amerika - und sein Leben war geprägt von hochgesteckten (schriftstellerischen) Zielen, dem immer wieder durch tiefe Entfremdungen gezeichneten Verhältnis zu seiner schon früh nervenkranken Frau Zelda und seiner Sucht nach Anerkennung, Unterhaltung und Alkohol. Es entspricht Fitzgeralds Arbeitsweise, dass sich die Biografien seiner Romanfiguren - eines Amory Blaine ("Diesseits vom Paradies"), Anthony Patch ("Die Schönen und Verdammten") oder Nick Carraway ("Der große Gatsby") - aus Bruchstücken seines eigenen Gefühls- und Gesellschaftslebens zusammensetzen.

Aber es sind eben nur Bruchstücke, und Fitzgerald wäre nicht der Chronist des "Jazz-Age" und die aus dem Treiben der "Roaring Twenties" kühl und lakonisch nachhallende Stimme, wenn diese unvergesslichen Kunstfiguren mit ihren verdrängten Ängsten und unerfüllten Wünschen nicht Exempel wären, durch die wir auch heute noch das Zeitgefühl und die Zeitfragen jener Jahre erahnen können.

Schon in seinem meisterhaften Erstlingsroman "Diesseits vom Paradies", der nun in einer überarbeiteten, älteren Übersetzung vorliegt und dessen komplexe Entstehungsgeschichte Manfred Papst in seinem fundierten Nachwort erläutert, werden die Hauptmerkmale von Fitzgeralds Erzählweise und Figurenrepertoire deutlich: In einem locker-eleganten, mit Oscar Wild'scher Finesse und Scharfzüngigkeit gespickten Stil wird in der Tradition des klassischen Bildungsromans und mit mehreren Textsorten (lyrische Zwischenstücke, Einakter etc.) die Geschichte des Princeton-Studenten Amory Blaine erzählt. Eine harmlos beginnende Collegegeschichte, die zunehmend zum Psychogramm eines ernüchterten, sich nach Liebe und festen Bindungen sehnenden jungen Mannes wird, der gegen die überall bedrohlich durchschimmernde Erkenntnis der Sinnlosigkeit nicht anzukommen vermag - vor allem nach dem einschneidenden Erlebnis des Ersten Weltkrieges. Ironisch gebrochen wird das Erzählgefüge durch die häufig eingeschalteten Erzählerkommentare, woraus der Roman neben den Dialogen hauptsächlich seine humoristische Qualität bezieht: "Nun ist es Zeit für ein Geständnis. Amory hatte ein durchaus puritanisch geprägtes Gewissen. Was nicht heissen soll, dass er sich danach richtete".

Bereits 1920 erschienen, ist Fitzgeralds erster Roman nicht nur einer seiner erfolgreichsten, er ist auch als Dokument der Auseinandersetzung mit der eigenen Generation ebenso hellsichtig wie wegweisend für seine späteren Werke. Wie in kaum einem anderen Buch wird die Sinnfälligkeit des einst von Gertrude Stein geprägten Begriffes der "lost generation" so deutlich wie in diesem Roman: "Zum ersten Mal in seinem Leben sehnte er sich heftig danach, dass der Tod seine Generation überrollte und ihre lächerlichen Aufregungen und Kämpfe und Triumphe auslöschte. Nie schien seine Jugend so unwiederbringlich dahin wie jetzt, im Vergleich zu der Gottverlassenheit dieses Aufenthaltes und jenem ausgelassenen, vergnügten Ausflug vor vier Jahren." Fitzgeralds Figuren sind durchdrungen, ja, wie später in seinem großen Wurf "Zärtlich ist die Nacht", besessen vom Gefühl des Verlustes. Immer wieder begeben sie sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit, die sie nicht wiederfinden können und retten sich in durch Vergnügungen und Alkohol geschaffene künstliche Paradiese, aus denen sie doch wieder vertrieben werden.

Um glücklich zu werden, fehlt auch Amory der unschuldige Blick auf die Menschen, und er scheitert nicht zuletzt an seiner eigenen analytischen Beobachtungsgabe, die vor allem in einem Gespräch mit seinem Freund Tom das ganze Dilemma offenbart: "'Liebe und Krieg haben dich ruiniert.' 'Hm', überlegte Amory, 'ich bin nicht sicher, ob der Krieg auf dich oder mich tatsächlich großen Einfluss gehabt hat - aber er hat mit Sicherheit den vertrauten Hintergrund zerstört, in gewisser Weise den Individualismus aus unserer Generation getilgt.'" Wenn Amory im letzten Satz des Romans ausruft: "Ich kenne mich" wirkt das nur scheinbar wie ein versöhnliches Ende eines auf die Integration in die Gesellschaft hin angelegten Bildungsgangs. Die sich in so vielen Liebschaften und Bekanntschaften einstellende Desillusionierung macht auch vor der Bekanntschaft mit dem eigenen Ich keinen Halt und der anschließende zweite Teil dieses letzten Satzes lautet daher auch: "Aber das ist alles - ".

Auch in seinem zwar schwächeren aber doch zu sehr unterschätzten zweiten Roman ("Die Schönen und Verdammten"), der nur zwei Jahre später, 1922, erschien, verarbeitet Fitzgerald einerseits die Erfahrungen seiner Ehe mit Zelda und knüpft andererseits an die Themen wie Verlustgefühl und Betäubung an. In der Tat wurde der Roman von seinen frühen Kritikern nicht zuletzt wegen der schonungslosen Darstellung der Alkoholsucht der beiden Hauptfiguren, Anthony Patch und seiner Frau Gloria, scharf angegriffen. Fitzgerald hält sich und seiner Generation den Spiegel vor, der die eigene Fratze der "metaphysischen Obdachlosigkeit" und Gefühllosigkeit zeigt und - zerschlägt ihn nicht. Dabei ist ihm jede Wortakrobatik fremd. Fitzgerald ist ein leiser Erzähler, einer, bei dem man schon auch mal die wichtige Passage überlesen kann und sich einige Seiten später dann zu fragen beginnt, warum gerade wieder eine Beziehung in die Brüche gegangen ist. Auch Anthony und Gloria leben in einer und für eine nie wieder zu erreichende Vergangenheit, als deren chiffrenartige Verkürzung immer wieder die Formel der "Gefühle jenes denkwürdigen Junis", der am Beginn ihrer so schmerzvergessenen Liebe stand, heraufbeschworen wird.

Fitzgeralds meisterhafter Sinn für die Zeichnung komplexer psychischer Verfasstheiten seiner Protagonisten zeigt sich vor allem in der Darstellung der Entfremdung zweier Personen. Es ist kein Gefühlserdrutsch, der die Liebe zum Erlöschen bringt - auch wenn die bisweilen heftigen verbalen Auseinandersetzungen zwischen Anthony und Gloria das auf den ersten Blick so erscheinen lassen: mit bestechendem Blick und bildhaft-lyrischer Sprache werden die winzigsten Erschütterungen von zwei auseinanderdriftenden Gefühlswelten beschrieben, die zum Hinwegdämmern dieser Liebe führen: "Nach dem Wiedererblühen von Zärtlichkeit und Leidenschaft hatte sich jeder von ihnen einem einsamen Traum überlassen, an dem der andere keinen Anteil mehr hatte, und was sie an Zärtlichkeiten austauschten, wanderte, so schien es, von einem leeren Herzen zum anderen, ein hohles Echo dessen, von dem sie wussten, dass es vergangen war."

In Glorias "nervösem Charakter" und "nervösen Anfällen" verdichten sich nicht nur sinnbildlich die psychischen Symptome des Bewusstseins einer ganzen Generation und Epoche. Als literarischer Typus der nervösen Frau verweisen sie freilich auch auf Fitzgeralds Interesse an der europäischen Literatur der Décadence, des Fin-de-siècle und der Jungwiener Nervenkünstler - nicht zufällig gehören zu den nachhaltigsten Lektüreerfahrungen von Amory Blaine auch die Werke von Huysmans und Wilde.

Das mondäne Europa südfranzösischer Küstenorte und italienischer Kunststädte ist denn auch der Schauplatz von Fitzgeralds viertem Roman ("Zärtlich ist die Nacht"), der 1934, nach dem Erfolg von "Der große Gatsby", erschien und der zum ersten Mal in seiner ersten Fassung in deutscher Übersetzung vorliegt. Wie auch in den anderen Nachworten von Paul Ingendaay, Verena Lueken und Manfred Papst, rekapituliert Heinrich Detering präzise die Entstehungs-, Publikations- und Rezeptionsgeschichte von "Zärtlich ist die Nacht" und liefert gleichzeitig eine kritische Würdigung dieser ersten Fassung, der, anders als der zweiten, ein komplexes Erzählverfahren zugrundeliegt, das auf dem Prinzip der verschachtelten Chronologie und Rückblenden basiert. Durch diesen raffinierten erzählerischen Kunstgriff bleibt der Leser zunächst im Unklaren über den Zustand der im ersten Buch beschriebenen Ehe des Psychiaters Dick Diver und seiner Frau Nicole, die ein luxuriöses, von berüchtigten Partys und gepflegter Langeweile geprägtes Leben an der französischen Riviera führen.

Die Monotonie der Einladungen, Abendessen und Alkoholexzesse wird auch nicht gestört durch die gerade achtzehnjährige Filmschauspielerin Rosemary, die eine kurze Affäre mit Dick Diver eingeht. Nach und nach setzt sich aus den verschiedenen Zeitebenen der insgesamt drei Bücher des Romans mosaikartig die Lebensgeschichte von Dick Diver zusammen, deren fertiges Bild auch die erzähltechnische Verfahrensweise von Fitzgerald offenlegt, die Heinrich Detering in seinem Nachwort treffend als "analytisch" bezeichnet hat.

Es ist freilich kein Zufall, dass die Hauptfigur, Dick Diver, um den herum sich fast ein Dutzend anderer Personen gruppiert, ein ebenso kühl-rationaler wie illusionsloser, gleichsam aber auch, was seinen wahren seelischen Zustand anbelangt, geheimnisvoller Seelenarzt ist, der in Wien und Zürich sein Handwerk gelernt hat. Je weiter man ab dem zweiten Buch liest, in dem die Vorgeschichte bis zur Ehe der Divers erzählt wird - Nicole war eigentlich Divers Patientin in einer Nervenklinik - desto mehr hat man den Eindruck, sich auf einem verminten Romangelände zu bewegen, auf dem es von später wieder aufgegriffenen und aufgelösten Andeutungen nur so wimmelt, was einen großen Teil der Spannung des Romans auch ausmacht.

Zwar wird die Geschichte von einem anonymen Erzähler berichtet, der, wie schon in den anderen Romanen, oftmals die Distanz sowohl zum Leser als auch zu seinen Figuren durch eingeschaltete Kommentare und Hinweise verringert. Passagenweise wird auch aus der Perspektive einzelner Protagonisten erzählt. Wird anfangs vor allem aus der Sicht der immer wieder als ahnunglos beschriebenen Rosemary erzählt, so ist das auch als bewusste Parallele zur Leserposition zu verstehen, der ebenso ahnungslos dieser Geschichte und dem, was noch kommen wird oder schon geschehen ist, gegenübersteht. Überhaupt spricht das gezielte Einsetzen des Wortes "ahnungslos" als Personencharakterisierung oder "Ahnungslosigkeit" im allgemeinen noch einmal deutlich für die These Deterings, dass Fitzgerald einen analytischen Roman habe schreiben wollen, in dem die Ab- und Hintergründe der hier vorgestellten unterschiedlichen Lebensentwürfe nicht linear erzählt, sondern stückweise aneinandergesetzt werden.

Vielleicht stärker und überzeugender als in allen anderen Romanen wird die Fatalität einer Beziehung zwischen zwei Menschen herausgearbeitet, die hilfe- und trostsuchend letztlich doch Einzelgänger bleiben: "Sie [Gloria] führte ein einsames Leben und besaß nur Dick, der sich nicht besitzen lassen wollte." Daneben gehören Gloria und Rosemary zu den beeindruckensten, gleichzeitig beängstigenden Frauenfiguren, die Fitzgerald geschaffen hat. Am Ende betreiben sie gewissermaßen ein Wettrüsten ihrer jugendlichen Reize, in dem sich zeigt, dass die "Roaring Twenties" auch eine Zeit des Jugendkultes waren, gewissermaßen die letzten und späten Ausläufer der großen Jugendbewegung am Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa.

In der Logik der Romanhandlung und vor allem der Figurenzeichnung des Dr. Diver kann es kaum lakonischere, zwar leise aber in ihrem dämonischen Nachhall um so deutlichere Schlusssätze zu dieser Ehe geben, die noch in der Übersetzung Fitzgeralds unnachahmlichen Stil widerspiegeln: "Und nach nur zwei Minuten hatte sie [Gloria] gesiegt, hatte sich ohne Lügen, ohne Vorwände vor sich selbst gerechtfertigt, hatte ein für allemal die Schnur zerschnitten. Dann ging sie mit weichen Knien und beherrscht schluchzend auf den Hausstand zu, der endlich ihr gehörte. Dick wartete, bis sie nicht mehr zu sehen war. Dann lehnte er den Kopf auf die Brüstung vor sich. Der Fall war abgeschlossen. Dr. Diver war frei."

Fitzgeralds Technik, geschlossene Gesellschaften und deren Triebfedern wie unter dem Brennglas zu zeigen, ist ihm neben diesem Porträt einer aus der amerikanischen Oberschicht kommenden und sich in Europa assimilierenden Gruppe auch in seinem wohl bekanntesten Roman, "Der große Gatsby", gelungen, der schon 1925 herauskam. Freilich spielt der Roman in New York. Nick Carraway, der über seine Bekanntschaft mit und sein Wissen über James Gatsby berichtet, erzählt damit nicht nur die Geschichte des geheimnisvollen "self-made-man" Gatsby, sondern gleichzeitig auch seine eigene Bildungsgeschichte, die eines Provinzlers aus dem Mittelwesten, woher ja auch Fitzgerald stammt. Mit präzisen Schilderungen der sozialen Topografie seiner Wohngegend auf Long Island - Carraway wohnt nicht am eleganten East-Egg Ufer, sondern am bescheideneren Westufer - rekapituliert Carraway die Verstrickungen und Liebschaften von Personen um den für seine exklusiven und luxuriösen Partys berühmten Gatsby, von dem aus alle Ereignisse des Romans seinen Lauf nehmen. Gatsbys Einladungen sind dabei nicht nur ein wirbelndes Zentrum für Lieferanten und sonstige von ihm abhängige Domestiken; wie später in "Zärtlich ist die Nacht" stellen die Feiern auf dem Anwesen Gatsbys einen Jahrmarkt der Eitelkeiten und allzu schnell verpasster Chancen dar und bilden die "Roaring Twenties" symbolhaft ab. Am Ende sind alle durch Eifersuchtshandlungen, Rache- und Neidgefühle in einem tödlichen Unfall verwickelt, in dem die unerhörte Leichtigkeit des Seins ein jähes Ende findet.

Das eigentliche Hauptthema des Romans ist indessen der Gegensatz von reicher Ostküste und dem ländlichen Mittelwesten Amerikas, aus dem der Erzähler, Nick Carraway, stammt. So wie John Dos Passos mit seinem "Manhatten Transfer" der Stadt New York eine Geschichte der Jahre 1890-1920 geschrieben hat, so hat Fitzgerald dem amerikanischen Mittelwesten - wenngleich auch nicht Schauplatz des Romans - mit seinem "Gatsby" ein literarisches Denkmal gesetzt.


Titelbild

F. Scott Fitzgerald: Die Romane. 5 Bände.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell, Bettina Blumenberg, Hans-Christian Oeser, Rante Orth-Guttmann und Martine Tichy.
Diogenes Verlag, Zürich 2006.
2096 Seiten, 95,00 EUR.
ISBN-10: 3257065167

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