Schwabinger Krawalle

Erinnerung nach Hörensagen

Von Georg SieberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Sieber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Walter Ziegler war zur Zeit der legendären Schwabinger Krawalle 25 Jahre alt. Von 1989 bis 2002 war er Professor für Bayerische Landesgeschichte an der Münchner Universität (LMU). Als Emeritus schrieb er jetzt ein überaus freundliches Vorwort zu dem Verlagsvorhaben, eine Dokumentation der so genannten Schwabinger Krawalle zu erstellen. Dazu rekrutierte Herausgeber Gerhard Fürmetz eine Crew mit zwar geschichtswissenschaftlichem Hintergrund, die aber, wie auch er selber, erst Jahre nach den Schwabinger Krawallen geboren wurde und betont politisch korrekt als "Nachwuchshistorikerinnen und -historiker" vorgestellt wird.

Seit jeher boten die Geschichtswissenschaften ihren Adepten ein vielseitiges Methodenreservoir. "Schwabinger Krawalle" stützt sich im wesentlichen auf das zugehörige Medienecho und studentische Arbeiten. Der Untertitel "Protest, Polizei und Öffentlichkeit zu Beginn der 60er Jahre" ist insofern irreführend und hätte ein wenig treffender gelautet "5 Schwabinger Krawallnächte im Spiegel von Funk- und Presseberichten sowie ausgewählter studentischer Leistungsnachweise".

So wäre jedenfalls von Anfang an der "Forschungsgegenstand" unmissverständlich benannt: Es geht den Autoren nahezu ausschließlich um die Ausdeutung von Äußerungen der Verursacher, Betroffenen und Beteiligten nach einem großflächigen Schadensereignis. Da das Ereignis selber, seine operativen Entwicklungsstränge, Wirkungsfelder und Wechselwirkungen bisher kaum jemanden ernsthaft interessieren, sollte es zumindest den Historiker Fürmetz nicht verwundern, dass die "Literaturlage" dürftig ist. Dies hätte er gewiss auch in anderen Schadensfällen zu beklagen, wenn sich die Berichterstattung etwa nach einem Seilbahnereignis allein darauf kaprizierte, das Erleben des Maschinenführers, des Begleitpersonals, der Fahrgäste und des örtlichen Fremdenverkehrsdirektors auszubreiten und die nachfolgenden Rechtszüge quantitativ auszuwerten.

Dass die Historiker nicht eben bemüht waren, dem Schwabinger Ereignis näher zu kommen, zeigt die ärgerlichste Lücken dieser Dokumentation. Es kümmert die Autoren offenbar nicht, dass die Verhaltensmuster der in Schwabing eingesetzten Polizeibeamten keineswegs von ihnen selber oder von den jeweiligen Vorgesetzten ad hoc erfunden wurden, sondern in Ausbildung und Vorschriften sehr präzise vermittelt worden waren. Wer über die Schwabinger Polizeiaktivitäten schreibt, ohne auf die damals noch gültigen Vorschriften der "Polizeidienstvorschrift (PDV) 100" im Großen Sicherheits- und Ordnungsdienst Bezug zu nehmen, der sollte sich mit tiefenpsychologischen Deutungsmustern zurückhalten. Da helfen dann auch engagierte Pressekommentare nicht weiter. Denn die seinerzeit kommunal organisierte Polizei bestand aus durchaus gut geschulten und professionellen Beamten. Dass sie Anweisungen und Befehle auf der Grundlage eben jener PDV 100 ausführten, steht außer Zweifel.

Die Nachwuchshistoriker gehen aber auch nur marginal der nahe liegenden Frage nach, welche Ziele und Intentionen denn diesen Befehlen zugrunde lagen und welche Qualifikation diejenigen einbrachten, die diese Befehle formulierten. So wird beispielsweise Anton Heigel als larmoyanter Polizeipräsident zitiert, demzufolge "stundenlang alle überlegt" hätten, wie denn gegen den "Sauhaufen" auf der Grundlage ausgerechnet des §115 StGB vorzugehen sei. Und auch an Manfred Schreiber wird erinnert, wie er als polizeilicher Laie per Lautsprecher ins Geschehen eingreifen darf und dabei gutwillige Passanten in eine Schlagstockfront dirigiert. Hier hätte sich der Historiker mit dem Polizeiaufgabengesetz abplagen und an der Besetzungspolitik im Falle von Polizeichefs abarbeiten können. Michael Sturm begnügt sich lieber damit, pauschale Kritik der Regierung von Oberbayern am Ausbildungsstand der Polizeibeamten zu wiederholen. Aber selbst ihm hätte der Gedanke kommen können, dass viele der Anzeigenbögen nicht etwa deswegen "falsch oder mangelhaft ausgefüllt" wurden, weil den damit befassten Beamten "die Tatbestände des Auflaufs, des Aufruhrs und des Landfriedensbruchs nicht geläufig" gewesen wären. Es war gerade umgekehrt die sichere Kenntnis dieser Tatbestände, aus der heraus die angeforderten Anzeigen zu einem guten Teil unbrauchbar gemacht wurden. Was sonst hätte ein solide ausgebildeter Polizeibeamter tun können, als in der Art des tapferen Schweyck seine Anzeigen zwar in der geforderten Menge, jedoch eben "falsch oder mangelhaft" auszufüllen.

Wie erklären sich Historiker, dass die "Schwabinger Krawalle" keine Neuauflage erlebten? Einige der Nachwuchshistoriker lassen durchblicken, das Krawall-Potenzial könne sich irgendwie geläutert haben. Andere, auch Michael Sturm, denken eher daran, die Polizei habe ihre Methoden unter anderem mit psychologischer Hilfe verfeinert. Beide Erklärungen gehen indessen an der Realität vorbei. Und die hat vor allem damit zu tun, dass sich die Innenminister der Länder von der als geradezu Heilige Schrift geltenden PDV 100 verabschiedeten. Gleichwohl wäre es für ein gutes Dutzend Polizeibeamter nach wie vor ein Leichtes, an einem der Brückentage bei sommerlichen Temperaturen eine abendliche Krawallsituation á la Schwabing herzustellen. Aber nicht die Menschen haben sich verändert und auch nicht so sehr das Einsatzverhalten der Polizei. Verändert hat sich jedoch ganz erheblich das Interesse von Stadt-, Bezirks- und Landesregierungen, innerstädtisches Leben mit Polizeigewalt zu regulieren und zu bevormunden. Denn dergleichen zieht heute unangenehme Stimmenverluste nach sich. Seit Schwabing sucht man die Konfrontation lieber im freien Feld, an der Castor-Bahnlinie etwa oder an einsam gelegenen Heldengedenkstätten, an denen die "Rechten" aufmarschieren.

Das besprochene Buch jedoch präsentiert höchstens geschichtswissenschaftlich aufgepepptes Hörensagen.


Titelbild

Gerhard Fürmetz (Hg.): "Schwabinger Krawalle". Protest, Polizei und Öffentlichkeit zu Beginn der 60er Jahre.
Klartext Verlagsgesellschaft, Essen 2006.
253 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3898615138

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