Fremde unter Strom

Nora Bossongs Debütroman führt in die Abgeschiedenheit einer verstörenden "Gegend"

Von Jan BerningRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Berning und Martin BruchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Bruch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Reißer: Hallo, Lobinger?

Lobinger: Ja... hier.

Reißer: Wollte mal so hören, wie es ist im Süden?

Lobinger: Im Süden, wieso Süden?

Reißer: Sie wollten doch in den Süden fahren.

Lobinger: Oh, ja, stimmt. Ich... Ehrlich gesagt bin ich gar nicht so weit gekommen...

Reißer: Hallo? Sind Sie noch da?

Lobinger: ...

Reißer: Lobinger! Machen Sie doch erst mal den Motor aus. Wo stecken Sie denn jetzt?

Lobinger: In einer Waldschneise. Habe hier zwei Stunden nach meiner Abfahrt Rast gemacht und angefangen, Nora Bossongs Roman "Gegend" zu lesen.

Reißer: Dabei haben Sie extra nur dieses eine Buch mitgenommen. Sie wollten doch entspannen, Urlaub machen!

Lobinger: Dazu hätte ich mir wohl besser ein anderes Debüt ausgesucht.

Reißer: Sie haben also...

Lobinger: Ja, erraten, ich habe tatsächlich die ganze Zeit gelesen, von der ersten bis zur letzten Seite...

Reißer: Dabei hat das Buch doch nur 128!

Lobinger: ... und wieder von vorne.

Reißer: Meine Ausgabe liegt inzwischen hinter den Edgar-Allen-Poe-Sachen. Aber vielleicht stelle ich es auch gleich neben unsere Stephen-King-Sammlung.

Lobinger: Und Sie finden, dass passt?

Reißer: Naja, das Buch sähe neben den King-Wälzern aus wie ein Gedichtband. Die Bezeichnung "Roman" ist ja ohnehin etwas weit her geholt. Viel passiert nicht: Eine junge Ich-Erzählerin begibt sich mit ihrem Vater auf die Suche nach ihrer Halbschwester Marie. Diese wohnt auf einem abgeschiedenen Grundstück irgendwo im Süden mit ihrem Halbbruder Fabian, einem Mann namens Jakob und einer Frau, Lo.

Lobinger: Aber das ist doch nicht die Geschichte, um die es geht.

Reißer: Sondern?

Lobinger: Wichtiger scheint mir, dass einige dieser Personen nach und nach spurlos vom Grundstück verschwinden, während die Zurückbleibenden, Marie zum Beispiel, immer wieder betonen, dass es gar nicht möglich sei, die Gegend zu verlassen. Diese Prosa ist äußerst suggestiv, die Stimmung spannungsgeladen.

Reißer: Was man von den Dialogen ja nicht behaupten kann ...

Lobinger: Ich habe als Leser das Gefühl, diese Gegend wächst mir ins Auto hinein. Gleich mit dem erste Satz, wenn die Straßen "nach den Bäuchen von Schnecken" riechen. Wenn "in den Wellen das Sonnenlicht stecken" bleibt. Bossongs Roman ist voll von solchen ungewohnten, poetisch-präzisen Bildern!

Reißer: Das nützt mir leider nichts, wenn ich kaum die Sprechweisen der einzelnen Figuren auseinander halten kann. Dem Leser gräbt sich ein einziger, durchgehend aggressiver Ton ein: "Du könntest es ja gar nicht aushalten, wenn wir uns verstehen würden" heißt es an einer Stelle. An einer anderen: "Wenn Du das geglaubt hast, bist Du kindischer, als ich dachte."

Lobinger: Auf der einen Ebene sieht man natürlich die streitenden Halbgeschwister. Auf einer anderen aber werden subtile Machtkämpfe zwischen im Grunde undurchsichtig bleibenden Figuren ausgetragen.

Reißer: Mir bleibt das zu harmlos. Ich wünsche mir sehr bald, dass diese Spannung sich entlädt. Dass das knisternde Stromkabel, das über der Pension den Himmel durchzieht, reißt. Stattdessen aber sind die Figuren gefangen in ihrer Isolation, in ihrer Gegend. Dort kleben sie aneinander, anstatt sich zu entfalten.

Lobinger: Genau darum geht es in meinen Augen: Um die Unfähigkeit, aus dieser verfahrenen Situation auszubrechen. Um die Gewöhnung an einen im Grunde untragbaren Zustand. Der Roman will verstören, nicht unterhalten.

Reißer: Und warum wird mir das von einer Erzählerin dargeboten, die zwar alles sieht, auf der Gefühlsebene aber wie aus Plastik wirkt? Sie wird angespuckt, gekratzt, mit dem Messer bedroht - und im nächsten Moment gestreichelt und in den Arm genommen. Keine Reaktion. Ehrlich gesagt: Mir macht diese Erzählerin Angst, ich kann mich ihr nicht anvertrauen.

Lobinger: Diese ganze Gegend ist ein äußerst unsicherer Ort, da haben Sie recht.

Reißer: An einer Stelle heißt es: "Ich helfe dir dabei, Angst zu haben. Das ist doch ein Ersatz. Ich bin nur gut zu dir." Hier kippt die Prosa plötzlich: Solche Formulierungen könnten aus schlechten Thrillern stammen!

Lobinger: Bossong setzt reale Unberechenbarkeit in Dialoge um. Ihre Ich-Erzählerin zeichnet so, für mein Empfinden, eine Atmosphäre zwischen Gewalt und Sexualität. Vielleicht würden Sie weniger ratlos vor dem Text stehen, wenn Sie Poe besser kennen würden oder sich die Geschichte von Lot und seinen Töchtern vor Augen führen. Der Roman steht ja nicht nur unter Zitaten aus "The Masque of the Red Death" und der Genesis. Er referiert sie in seiner Prosa an ganz verschiedenen Stellen.

Reißer: Also sollte man Poe gelesen haben, um die Motive der Personen wirklich verstehen zu können? Das hört sich aber stark nach Reißbrett an.

Lobinger: Der Text ist streng durchkomponiert - jedes Wort ist abgewogen, jeder Absatz pointiert; insofern haben Sie recht. Bossong schreibt ja auch Lyrik, legt ja auch gleich im Frühjahr nächsten Jahres einen Band mit ihrer Lyrik nach.

Reißer: Das klingt wie eine Entschuldigung: Mir erscheint der Text gerade dadurch kryptisch und in sich verkapselt.

Lobinger: Für mich ist dieses Debüt ist ein aufsehenserregendes Kunststück! Und dazu wird es vorgelegt von einer sehr jungen Autorin.

Reißer: Wirklich gebannt war ich die ersten zehn Seiten des Romans. Doch diese Art von Isolation und Machtkämpfen trägt Bossongs psychologisches Sechs-Personen-Labor, das vollmundig "Roman" heißt, leider nicht...

Lobinger: Oder macht gerade Lust auf experimentelle Ansätze aus der jungen Gegenwartsliteratur.

Reißer: Und Sie: Fahren jetzt endlich in den Urlaub?

Lobinger: Nein, es geht schneller, wenn ich einfach zurückfahre. Ich habe schon Lust, mir den Roman zu Hause gleich noch einmal durchzulesen.


Titelbild

Nora Bossong: Gegend. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2006.
128 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3627001362

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