Transzendentale Fakten

Zu Thomas Rentschs Taschenbuchausgabe der Konstitution der Moralität

Von Ulrike SantozkiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Santozki und Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1999 wurde die vor zehn Jahren erschienene „Konstitution der Moralität“, in der Thomas Rentsch das Verhältnis einer transzendentalen Anthropologie zur praktischen Philosophie ausleuchtet, als Taschenbuch neu herausgebracht. Grund genug zur nochmaligen Lektüre des Werkes, zumal die Neuausgabe um ein umfangreiches Vorwort erweitert ist, in dem sich der Verfasser mit verschiedenen kritischen Rezensionen auseinandersetzt. Allerdings gelingt es ihm nicht immer, die Einwände zu entkräften. Insbesondere die Verteidigung gegen Dieter Thomäs Kritik überzeugt uns nicht. Thomä hatte dem Autor vorgehalten, notwendige Bedingungen menschlichen Lebens überhaupt zur Transzendentalphilosophie „hochzuloben.“ Hierauf reagiert Rentsch mit einem neuerlichen Hinweis auf die „lebensweltlich-apriorische, unhintergehbare Situationalität“, scheinbar ohne zu sehen, dass gerade im Detail des „Lebensweltlich-apriorischen“ der Teufel steckt.

Nun ist zwar lange schon selbstverständlich, dass der Begriff des Transzendentalen nicht mehr an den des Apriorischen geknüpft ist, was ja bei Kants Transzendentalphilosophie gerade der Clou war. Kant nämlich verstand die Bedingungen, die Erfahrungen überhaupt erst ermöglichen, also Raum, Zeit und die zwölf Kategorien, als transzendental. Seit geraumer Zeit jedoch meint der Begriff schlechthin Bedingungen der Möglichkeit für „etwas“, wie Rentschs „unhintergehbare Situationalität“ für eine menschliche Welt. In diesem Sinn sind diese faktisch „unhintergehbaren“ Bedingungen zwar transzendental, aber darum noch lange nicht apriorisch. Und deshalb unterläuft hier Rentsch eine contradictio in adjecto mit dem gerade als klärend gedachten Begriff des „Lebensweltlich-apriorischen“. Im Vorwort zur Neuausgabe unternimmt er mit ihm den Versuch, verbliebene Unklarheiten auszuräumen und schafft dadurch neue, dass er behauptet, das Faktische sei zugleich apriorisch. Hingegen ist – eingedenk des nach Kant gewandelten Begriffs des Transzendentalen – nachvollziehbar, wenn Rentsch im Rückgriff auf Wittgenstein und Heidegger das Transzendentale an „sprachlich und pragmatisch bereits strukturierte Lebenssituationen“ bindet.

In Laufe seiner weiteren Argumentation grenzt Rentsch sein Verständnis von „transzendental“ gegen Theorien ab, die „bewusstseinsphilosophische oder subjektivitätstheoretische Konnotationen“ beinhalten. Hiermit wendet er sich vorrangig gegen Descartes, Kant, Husserl und nun auch Heidegger, weil sich deren erkenntnistheoretische Prämissen auf die Grundlegung einer Ethik „systematisch verzerrend“ auswirken würden. Rentsch hingegen hält dafür, dass es die Analyse der „faktischen Grundsituation“ des Menschen sei, die die Perspektive für die Analyse der „praktischen Grundsituation“ eröffnen könne. Innerhalb des Faktischen präpariert Rentsch daher transzendentale, also unhintergehbare Formen des menschlichen Lebens (Situationalität, Selbstreflexion, Sprachlichkeit, Wirklichkeit, Möglichkeit, Lokalität, Temporalität) und ihre sprachlichen Repräsentanten heraus, um dann die Brücke zum Praktisch-Normativen zu schlagen, indem er behauptet, bestimmten „Unterscheidungen im Bereich der Faktizität“ entsprächen „Differenzierungen im Bereich des Normativen“. Der Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses vom Sein zum Sollen liegt natürlich nahe, und man muss konstatieren, dass es dem Autor nicht gelingt, ihn überzeugend zurückzuweisen.

„Die Welt zerfällt nicht in Fakten und Ideale“, so Rentsch. Vielleicht. Aber man muss trotzdem fragen dürfen, woher die Normen kommen und ob sie durch ihre Verklammerung mit der „faktischen Grundsituation“ schon gerechtfertigt sind. Scheinbar originell stellt der Autor in Abwandlung eines bekannten Zitats von Kant fest: „Einsichten ohne Feststellungen (ohne realen Praxisbezug) sind leer; Feststellungen ohne dianoetische Sicht sind blind“. Doch entgeht ihm, dass bei Kant gerade das impliziert ist, woran seine Theorie krankt: Bei Kant gibt es notwendigerweise nur die beiden Anschauungsformen Raum und Zeit und genau die zwölf Kategorien (nicht mehr, nicht weniger und keine anderen) als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung. Rentschs Analyse der „transzendentalen Formen des Lebens“ hingegen setzt sich dem Vorwurf aus, nur hinreichende Bedingungen bereits für notwendige zu halten. Warum, so könnte man fragen, sind es gerade die von ihm genannten Konstituenten und nicht vielmehr andere? Ein derartiger Begründungsanspruch von Normen, die mit dem menschlichen Leben verbunden sind, wäre schon eine weitere, von Rentsch nicht angeführte, transzendentale Lebensform.

Rentsch macht des weiteren seine Differenz gegenüber Descartes, Kant, Husserl und Heidegger durch seine von Habermas inspirierte Kritik am „monologischen Subjekt“ deutlich. Er charakterisiert es als einsam, isoliert und solipsistisch „auf die innere Stimme seines Gewissens“ lauschend, um das moralisch Richtige herauszufinden. Die ständige Wiederholung dieses Arguments hatte schon Dieter Thomä als „überdimensioniert“ bezeichnet. Zudem kann es insbesondere in Bezug auf die Kantische Moralkonzeption nicht überzeugen, vorausgesetzt, man übernimmt die Interpretationsmethode des Verfassers nicht, die sich dadurch auszeichnet, der „Aufnahme von klassischen Unterscheidungssituationen in systematischer Absicht“ den „Vorrang vor philologisch-exegetischen Kriterien“ zu geben.

Einer der zentralen Kritikpunkte an Kant besteht also in dem Vorwurf, seine anthropologiefrei entworfene Moralkonzeption könne nicht überzeugen. Das „Verständliche an den Ausführungen Kants“ sei gerade der Rückbindung an bestimmte menschliche Lebenssituationen zu verdanken, über die letztlich doch anthropologische Begründungselemente Eingang fänden. Aber auch mit dieser Uminterpretation der Kantischen Moralphilosophie, gibt sich Rentsch nicht zufrieden. Denn Kant ziele auf das Glückseligkeitsstreben des vermeintlich autarken Subjekts, das, so Rentsch, jedoch immer schon ein zoon politikon ist. Kant destruiere diese solipsistische Vorstellung erst in Hinblick auf die „Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes“. Rentsch bemerkt jedoch nicht, dass gerade in der universellen Gültigkeit des kategorischen Imperativs die Pointe der kantischen Ethik liegt, mit der zudem eine Begründung der Notwendigkeit moralisch verpflichtender Handlungen verbunden ist, die man bei Rentsch so sehr vermisst.

Titelbild

Thomas Rentsch: Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
380 Seiten, 14,20 EUR.
ISBN-10: 351858068X

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