Spuren von Leben

Hans Mayers "Briefe" als lebensnotwendiges Produkt seiner Geschichte

Von Susanne BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susanne Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Will man den Ausführungen Fritz J. Raddatz' Glauben schenken, so ist Hans Mayers Briefband durchaus das "Dokument eines Lebens" ("Die Zeit") - nicht aber das Dokument eines Lebendigen. Denn "ein Mensch mit Haut und Haar, Schründen im Gesicht oder Bäuchlein" taucht laut Raddatz in der umfangreichen Briefsammlung aus Mayers fünfzehn Leipziger Jahren nicht auf. "Keine Silbe einer menschlichen Regung" fände sich, und es wirke, als habe Hans Mayer "nie je geliebt oder gelitten, gestreichelt oder geweint". Lediglich das "ohrenbetäubende Rattern einer Einmannbuchstabenfabrik" will Raddatz vernommen haben, "begleitet von tönendem Selbstlob".

355 Briefe aus fünfzehn Jahren und "keine Spur von Leben"? Das scheint gar nicht einmal so unglaubwürdig angesichts der Argumentation des Rezensenten, der den Briefband alles in allem als "Geschäftskorrespondenz aus einem versierten Handelskontor" bezeichnet. Dass die Suche nach einem 'anderen' Leben hier erfolglos bleiben dürfte, versteht sich fast wie von selbst, und man fühlt sich auch keineswegs eingeladen, die Fülle von Briefen zur Hand zu nehmen, um dem Menschen zwischen den Zeilen seiner "Geschäftskorrespondenz" nachzuspüren.

"Lieber Walter..."

Dabei genügt allein ein Blick in den Anhang des Buchs, um Zweifel an Raddatz' Kritik aufkommen zu lassen, denn aus der editorischen Anmerkung des Herausgebers Mark Lehmstedt geht nicht zuletzt hervor, dass dank der schönen Briefe an Walter Wilhelm "erstmals auch manches vom 'privaten' Hans Mayer sichtbar" würde.

Und tatsächlich lassen sich in den immerhin vierzig Briefen an den jungen Freund einige Passagen finden, die einen 'anderen' Hans Mayer zeigen; der nicht nur Briefe schreibt, "wenn eine Mitteilung zu machen ist" oder "etwas erörtert werden soll", sondern auch, "wenn Zuneigung die Ferne zur Nähe machen möchte" (Mayer). Die Zuneigung offenbart sich dabei nicht nur im Akt des Schreibens selbst. Vielmehr scheinen sich gerade anhand 'trivialer' Mitteilungen die angeblich fehlenden Spuren von Leben, von Wohlgefühl abzuzeichnen - so zum Beispiel in einem Brief aus dem Frühjahr 1950, den Mayer mit folgenden Worten eröffnet: "Lieber Walter, es gibt viele Gründe, gerade heute zu schreiben. Erstens muß ich für den Osterbrief danken. Zweitens gab es heute Pudding - und Frau Klopfer und ich sind ja beauftragt worden, bei dieser Gelegenheit an dich zu denken."

Mayers Briefe an Walter Wilhelm, vor allem die der ersten Leipziger Jahre, sind von geradezu verblüffender Heiterkeit und herzlicher Stichelei - was man als Leser von Mayers Texten auch ohne Raddatz' 'Vorwarnung' kaum erwartet hätte. So schwärmt der viel beschäftigte Universitätsprofessor nicht nur von den ausgezeichneten Lebens- und Arbeitsbedingungen oder von seiner wachsenden Bibliothek, die er "tagsüber oft voll heimlichen Stolzes" betrachtet, sondern berichtet auch schon einmal - anscheinend halb amüsiert - von den 'Verfallserscheinungen' seines "Organismus, der überarbeitet ist & überreizt, mit -inen aller Art (Koffein, Nikotin - allerdings nicht Morphin!, dafür aber Alkohol) geschwächt ist - und der plötzlich nicht so recht mitspielen will"; um dann am Ende eines Briefes den säumigen Schreiber Wilhelm augenzwinkernd, aber nachdrücklich seiner "Briefversprechen" zu mahnen.

Es ließen sich hier noch etliche Beispiele angeben, die zeigen, dass die Behauptung, in Mayers Briefen sei keine Silbe einer menschlichen Regung zu finden, absolut unbegründet ist; dennoch verliert der streitbare Entwurf eines Lebens ohne Leben bedauerlicherweise nicht ganz an Überzeugungskraft. Denn Raddatz' entscheidende Beobachtung, dass "der große Literaturwissenschaftler Hans Mayer" in seinen Briefen vor allem "Selbstreklame" betrieben habe (anstatt empfindsame Briefkultur zu pflegen), lässt sich zunächst einmal nicht leugnen. Zu deutlich hallt das "Selbstlob" (Raddatz) des Unermüdlichen, der sich seines Fleißes zu rühmen weiß, aus beinahe jeder Zeile seiner Briefe wider. Tonangebend ist es in jedem Fall. Unentwegt wird bereits Geschafftes und noch zu Schaffendes besprochen, bewertet und angepriesen, kurz: in einem möglichst günstigen Licht präsentiert. Zugegeben: Es ist keine löbliche Eigenschaft, die sich hier offenbart; allein sie ist äußerst menschlich und uns allen ohne Ausnahme gemein. Denn, um mit George Herbert Mead zu sprechen, "wir stellen uns für uns selbst immer in das günstigste Licht; da wir alle vor der Aufgabe stehen, uns im Leben zu behaupten, ist [di]es absolut notwendig".

Geronnene Erfahrung

Diese 'Selbstpräsentation' Hans Mayers stellt nun aber als spezifische Verhaltensweise nicht etwa das Resultat bewusster Entscheidungen beziehungsweise bewusst befolgter Regeln dar - wie nach Raddatz' Darstellung anzunehmen wäre. Ebenso wenig ist sie angeboren. Vielmehr handelt es sich dabei um eine "erfahrungsabhängige Konstruktion" - wie aus der "Habitus"-Arbeit (2002) von Beate Krais und Gunter Gebauer hervorgeht -, um eine spezifische "Art des Vorgehens oder Handelns", die als "Produkt der Geschichte eines Individuums" besteht. Denn geformt und geprägt wird diese "Art des Vorgehens oder Handelns" - für die der französische Soziologe Pierre Bourdieu den Begriff des "Habitus" prägte - "durch die sozialen Verhältnisse", in denen ein Individuum "in die Gesellschaft als handelndes Subjekt hineinwächst". Dabei hat der Habitus "das Potential [...] einer Kunst des Erfindens", wie Krais und Gebauer beschreiben: Er vermag "in neuen Situationen neue Verhaltensweisen hervorzubringen" und ist damit ein immerzu in Veränderung begriffenes Erzeugnis der sich gestaltenden und gestalteten Lebenserfahrungen beziehungsweise Geschichte eines Individuums.

Wenn man also unbedingt eine Aussage über Mayers 'Selbstpräsentation' - oder eben 'Selbstreklame' - treffen möchte, dann nicht, indem man sie bequemer Weise einer übermäßigen Geltungssucht in Rechnung zu stellen sucht, um daraufhin die Abwesenheit von Leben zu beklagen. Vielmehr erfordert dies, sich mit den Lernprozessen, den persönlichen und gesellschaftlichen Bedingungen der Entstehung dieser 'Präsentation' zu beschäftigen; beziehungsweise eine 'Spurensuche' aufzunehmen anhand von Mayers autobiografischen Aufzeichnungen.

Das ist natürlich nicht ganz unproblematisch: Abgesehen davon, dass der berichteten 'Wahrheit' ohnehin immer etwas 'Dichtung' innewohnt - da man sich "nicht zum unbefangenen und unbestochenen Historiker der eigenen Lebensgeschichte ernennen" (Mayer) kann - ist Mayers Biografie zudem eine Geschichte mit vielen Unbekannten. Aussparungen oder Unterlassungen, wie er sie etwa in seiner zweibändigen Erinnerung "Ein Deutscher auf Widerruf" (1982 und 1984) durch "fehlendes Erinnern", "sich nicht erinnern"(Mayer) wollen oder aber zurückgehaltene Erinnerung vornimmt, sind charakteristisch für die Lebensberichterstattungen dieses Mannes. Dabei waltet vor allem über "frühen Erlebnisfetzen viel Dunkelheit", was Mayer selbst nicht beklagt, was jedoch hinsichtlich einer 'Spurensuche' in jedem Fall beklagenswert erscheint, erfährt doch der Habitus als die 'Präsentation des Selbst' seine erste Prägung in den Kindertagen. Dennoch lassen sich anhand der wenigen Erinnerungen aus Kindheit und Schulzeit durchaus mögliche frühe Lernprozesse nachvollziehen, in denen Mayer das, was Raddatz 'Selbstreklame' nennt, ausgebildet, modifiziert, verfestigt und verändert haben könnte.

Existenz der Versagungen und Ausnahmen

So geht aus den autobiografischen Aufzeichnungen hervor, dass für Mayer bereits mit dem ersten Schultag "eine Existenz der Versagungen und Ausnahmen begonnen" hat - bedingt durch ein scheinbar geringfügiges Versäumnis: Ohne Schultüte tritt das Kind an der Hand des Vaters seinen ersten Schulweg an. Allein, das "Fehlen der Schultüte war eine schlimme Sache", denn sie "bedeutete bereits eine erste Kommunion oder Konfirmation: die einer Zugehörigkeit". Mayer fühlt sich aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und erfährt mit dieser ersten Versagung einer Zugehörigkeit das "Grundthema [s]einer Schulzeit".

Allerdings ist es nicht nur eine fehlende oder unzureichende Zugehörigkeit, die die Schule für Mayer zu einer Enttäuschung werden lässt. Der wissbegierige Junge, der "schon vor der Schulzeit" ein bisschen lesen kann, fühlt sich angesichts der unverrückbaren Säulen, auf denen der Lehrplan eines humanistischen Gymnasiums ruhte, wenig gefordert. Zudem lässt sich die begriffene Wirklichkeit des Kriegs, die für Mayer 1915 "mit dem Ausrücken des Vaters" beginnt, nicht mit der 'Wirklichkeit' des Gymnasiums vereinbaren, welche der Schüler als eine Kultur ganz für sich erfährt. Vor allem die "Gleichzeitigkeit" habe ihm dabei zu schaffen gemacht: im Sinne des Humanismus erzogen zu werden, während die Wirklichkeit "von Krieg und Nachkrieg, Umsturz und Mord, Verarmung und nominelle[m] Reichtum" menschunwürdiger nicht sein konnte.

Die Versagung von Zugehörigkeit, der Verzicht auf den Vater und die begriffene Wirklichkeit des Kriegs - das heißt auch das Erkennen der 'Wirklichkeit' hinter den Simulationen des gewaltigen Onkels Ludwig, "unangefochtene Autorität der Familie" und "Hortwalter der deutschnationalen Gesinnung", der "alles glaubte und weitertrug, was die Kriegspropaganda" (Mayer) das Volk wissen ließ - bedeutete in dem noch jungen Leben eine Zäsur, aus welcher der Knabe skeptisch und aufsässig hervorgeht.

Der "Blick des anderen"

Nicht wirklich integriert in eine Gemeinschaft und unzufrieden mit der Schule, in der offenbar auch keine nennenswerten Erfolge zu verbuchen sind - Mayers Hausaufsätze seien "nur selten über die Note 'Im ganzen gut' hinaus" gekommen -, vermag der Heranwachsende nun aber in der "vorletzten Gymnasialklasse" den Ausschluss aus der Gemeinschaft und ein dadurch bedingtes Gefühl der Unzulänglichkeit in einem Moment der "Erweckung" vorübergehend zu überwinden. Der Gymnasiast - Vielleser, geistig und künstlerisch begabt und mit einem guten Gedächtnis ausgestattet - bekommt die Gelegenheit, durch "ein gutes mündliches Referat einen mißlungenen Hausaufsatz" zu kompensieren. Mayer referiert über Eduard Mörike - frei, etwa eine halbe Stunde lang.

Sowohl die Mitschüler als auch der Deutschlehrer scheinen von Vortrag und Vortragendem gefesselt. Als Mayer endet, sehen ihn die Kameraden "mit sonderbarem Ausdruck an: etwas in [ihm] hatte sich für sie verändert" - und somit aber auch für ihn selbst. Denn unter dem Blick der Kameraden - dem "Blick des anderen", von dem "Jean-Paul Sartre sprach", wie Mayer in seinem Buch "Der Turm von Babel" (1991) zu berichten weiß -, "wandelt sich, auch wenn ein solches Angeschautwerden nur vorgestellt sein mag, das eigene Selbstempfinden": Mayer begreift für einen Moment das Genialische seiner Leistung (hinter der alles vermeintlich Minderwertige zurückzutreten vermag) und seinen damit verbundenen Selbstwert.

An dieses bessere Selbstempfinden möchte er anknüpfen; möchte dem "punktuellen Erfolg nachstoßen", um das neu gewonnene Selbstbild wiederholt bestätigt zu wissen. Er scheitert allerdings und wird wieder zurückversetzt in sein früheres Bild, "das nicht schlecht gewesen war, doch keineswegs genialisch". Was bleibt, ist das undeutliche Bewusstsein einer Begabung; und insgesamt das prägende Gefühl, sich Anerkennung, eine vorübergehende Zugehörigkeit offenbar nur durch eine besondere Leistung verschaffen zu können (die alles Entfremdende vergessen macht).

Das erlösende Wort

Dass nur auf Leistung Anerkennung folgt, muss für Mayer schließlich zu einer tieferen Gewissheit geworden sein, zur inkorporierten Geschichte. Denn die Erfahrung der Zugehörigkeit zu einer identitätsstiftenden Gemeinschaft, das Erlebnis der Individuation durch Interaktion mit Gleichgesinnten, die jene 'Gewissheit' hätte revidieren können, ist für den Heranwachsenden nur in seltensten Momenten möglich gewesen. Vielmehr hatte Mayer immer wieder die Erfahrungen machen müssen, aus Gemeinschaften entlassen zu werden - sei es aufgrund der Herkunft oder einer in Hoffnung auf Anerkennung schlecht gewählten 'Freundschaft'; er lebte allenfalls in "gespielter Gemeinschaft und realer Einsamkeit", ein Leben "zwischen den Gesellschaftsschichten, den Geschlechtern, den Religionen".

Erst spät sollte Mayer erfahren, was ihm eine erste identitätsstiftende Gemeinschaft zu sein vermochte, die ihn "wirklich umschloß" (Mayer) - und zwar im Herbst 1928 als einundzwanzigjähriger Student, dem es zu jenem Zeitpunkt nicht nur an "Lebenserfahrung" fehlt, sondern auch an "Zutrauen zu sich selbst" und an "Solidarität", bedingt durch die in Kindheit und Jugend unfreiwillig gelebte "Existenz der Versagungen und Ausnahmen". Mayer tritt einer Sozialistischen Studentengruppe bei, in der er "nach und nach ein neues Selbst" entdeckt. Er meldet sich zu "Wort in der Gruppe", wagt sich "gar an Referate" - und vermag jetzt erst an "jene ephemere Erweckung" anzuknüpfen, die ihm "damals im Deutschunterricht" mit dem Mörike-Referat zuteil geworden war.

Allein das in Kindheit und Schulzeit nachhaltig geprägte Gefühl der Unzulänglichkeit und des Ungenügens bleibt. Obwohl man ihm zuhört und offenbar auch froh ist, dass er teilnimmt, scheint sich Mayer seiner Leistung sowie der Anerkennung nicht sicher. Erst ein Jahr später, "wohl im Winter 1929", wie Mayer vermeintlich beiläufig bemerkt, als der damalige Freund Peter von Haselberg sagt: "Den Namen Mayer wird man sich merken müssen", ist für Mayer das (vorübergehend) "erlösende Wort" gesprochen.

Ein 'Spiel' mit tiefstem Ernst

Als Mayer nun circa zwei Jahrzehnte später - als Überlebender, Ex-Emigrant und Ex-Redakteur - seine Leipziger Professur aufnimmt, hat er inzwischen erste Erfahrungen mit einem im literarischen Feld eröffneten und "nach einer eigenen Logik funktionierenden 'Spiel' um Macht und Einfluss" gemacht, das für ihn nun vollends zu einem 'Spiel' "mit tiefstem Ernst" (Gebauer/Krais) werden soll. Denn Mayers 'innere Notwendigkeit', sich durch 'Selbstpräsentation', durch Präsentation der Leistung Anerkennung und Zugehörigkeit verschaffen zu wollen, muss nun endgültig einer 'äußeren' absoluten Notwendigkeit weichen, sich in einem möglichst günstigen Licht zu präsentieren. Immerhin geht es bei diesem Spiel nicht nur um "Vorrangstellungen" und um die "Durchsetzungen der eigenen Sichtweise im Horizont" des im literarischen "Felde Möglichen" (Gebauer/Krais), sondern vor allem auch um die soziale Existenz der beteiligten Akteure - um eine Existenz also, die bei Hans Mayer beständig und bis zuletzt gefährdet war, da er aufgrund seiner Herkunft, seiner "körperlich-seelische[n] Eigenart" (Mayer) und als unorthodoxer Marxist sowohl existentiell als auch intentional grundsätzlich zu den Außenseitern der Gesellschaft gehörte, vor denen das Gleichheitspostulat der Aufklärung allzu oft versagte.

Es ist also anzunehmen, dass alle 'Selbstreklame' keine Eitelkeit war, kein entbehrlicher Luxus im Leben Hans Mayers, sondern ein lebensnotwendiges Produkt seiner Geschichte. Dass sie betrieben werden musste, um dafür zu sorgen, dass die Arbeit, die unverzichtbare gesellschaftliche Funktion, die "internationale wissenschaftliche Rolle erkannt und nicht ignoriert wird" (Mayer); dass sie vor anderen aber auch vor Mayer selbst zugleich als Zeugnis fungierte für die Berechtigung zur Teilnahme am Spiel - was bedeutet, "unzählige Akte der Anerkennung" zu erbringen, "in das Spiel [zu] investier[en], sich an[zu]streng[en] alles richtig zu machen" (Gebauer/Krais); und dass nicht zuletzt überhaupt jeder Anstrengung Hans Mayers auch der Kampf um eine allgemeine Daseinsberechtigung innewohnte und die "Sehnsucht nach einem menschenwürdigen Leben". (Mayer)

"Daher ganz kurz: es ist alles ganz anders..."

Hans Mayers Briefe aus fünfzehn Leipziger Jahren vor diesem Hintergrund zu lesen, sprich als Produkt sowie als Spiegel seiner Lebensgeschichte und nicht einfach als berechnende Fabrikation derselben, ist in vielerlei Hinsicht lohnenswert. Abgesehen davon, dass diese Lesart eine 'Spurensuche' überhaupt erst ermöglicht - sofern man diese in Betracht ziehen und von vorschnellen Beurteilungen quer gelesener Dokumente absehen möchte -, liefern die Briefe und deren Erläuterungen durch den Herausgeber Mark Lehmstedt eine aufschlussreiche und lebendige Ergänzung zum Leipziger Kapitel in Mayers Erinnerungen "Ein Deutscher auf Widerruf".

Sie stellen eine weitere Zeugenschaft dar, denen - ganz entgegen den Behauptungen seines "Zeit"-Kritikers - authentisches Leben beziehungsweise empfindsame Lebensgeschichte zu entnehmen ist; zumal sie die zunehmend erdrückenden Lebensumstände des Leipziger Universitätsprofessors dokumentieren, der nach 1956 immer massiveren politischen Angriffen ausgesetzt war. Der sich aber dennoch lange nicht entscheiden konnte, die DDR zu verlassen und sich damit von seiner Arbeit und von den ursprünglich förderlichen Arbeitsbedingungen zu trennen - von dem also, was er wahrhaft gewollt hatte: Lehren und Schreiben.

Der überwiegende Teil der Reaktionen auf die Briefe hat nun aber - Raddatz' Besprechung ist hier durchaus vergleichbar - gezeigt, dass letztlich nicht der Zeuge Hans Mayer zu interessieren scheint, sondern eher private und privateste Details dieses exponierten Deutschen und Juden ins Blickfeld rücken. Bedauerlicherweise, da Mayer solcher Indiskretion bisher stets mit Diskretion zu begegnen wusste. Und gerade aus diesem Grund wird der Ruf nach privaten Einblicken, um nicht zu sagen, nach einem bis zur Unkenntlichkeit ausgeleuchteten Menschen, wohl auch immer bestehen bleiben.

Allerdings gewährt das Schicksal, wie Mayer einmal an Walter Wilhelm schrieb, "einem niemals die heißersehnten Dinge dann, wenn man sie erwartet & am sehnlichsten erhofft". Das Schicksal erfüllt "Deine Wünsche [...] [s]päter. Wenn Du nicht mehr daran gedacht hast. Oft überraschend. Und dann ist es meistens gar nicht mehr so schön & so dringend. Ich bin fest überzeugt: wenn man sich sehr dringend etwas vom Schicksal erhofft, erhält man es auch irgendwann einmal. Ob man danach dann glücklicher würde".

Titelbild

Hans Mayer: Briefwechsel 1948-1963.
Herausgegeben von Mark Lehmstedt.
Lehmstedt Verlag, Leipzig 2006.
632 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3937146253

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