Nach der Scham: Nur noch Peinlichkeit

Beobachtungen zur literarischen "Psychogeschichte der Republik"

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Das Gefühl der Scham beendet den paradiesischen Zustand; mit der Scham beginnt das menschliche Leben diesseits vom Garten Eden. Dort waren die ersten Menschen "beide [...] nackt, der Mensch und sein Weib. Aber sie schämten sich nicht voreinander" (1 Gen 2,25). Erst nachdem sie gegen Gottes Verbot vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, "gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren. Deshalb flochten sie Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze." Das Bewusstsein von Leiblichkeit verursacht Scham, und die findet ihren ersten Ausdruck im Wunsch nach dem Verbergen und in der Angst vor dem fremden Blick: "Da vernahmen sie den Schritt Jahwes Gottes [...] und der Mensch und sein Weib verbargen sich vor Jahwe Gott unter den Bäumen des Gartens. Gott Jahwe aber rief dem Menschen zu [...]: 'Wo bist du?' Er antwortete: 'Ich vernahm deinen Schritt im Garten: da fürchtete ich mich, weil ich nackt bin und verbarg mich.'" (1 Gen, 3,8-10)

Die ersten Menschen sind nach dem Sündenfall doppelt gestraft: Sie verlieren sowohl den Ort als auch das Grundgefühl ihrer Existenz: Die Vertreibung aus dem Paradies geht einher mit dem Verlust der Unschuld. Die Malerei gestaltet das Motiv deshalb gerne als Ineinssetzung des doppelten Verlustes, wenn sie die Katastrophe der Vertreibung zugleich als Urszene der Scham vor Augen führt. Masaccio etwa zeigt Adam und Eva, wie sie gebeugt vor Gram und mit gesenktem Blick ihr sorglos-paradiesisches Leben verlassen, ihre Körper schamhaft bedeckend, im schmerzlichen Bewusstsein einer Nacktheit, die erst der Sündenfall sie hat erkennen lassen.

Die Verknüpfung von Körperlichkeit, genauer deren Entblößung, und Schamgefühl wird bis in die Gegenwart fortgeschrieben. Der Kausalbezug von "Nacktheit und Scham" gilt seit Hans Peter Dürrs gleichnamiger Studie (1988) als anthropologische Grundkonstante, die Norbert Elias im Sinne seines "Mythos des Zivilisationsprozesses" auf das Abendland verengt habe. Es lassen sich eine Reihe von bildhaften Vorstellungen und Darstellungen, von Redewendungen und körperlichen Schamreaktionen als Illustrationen einer Körperscham interpretieren, die darauf abzielt, die Partien des Körpers zu bedecken und zu verbergen, die sexuell konnotiert sind, häufig ihrerseits "Scham" in ihrem Namen tragen ("Schamhügel", "Schambein") und aus Gründen der Sexualmoral am wenigsten den Blicken der anderen ausgesetzt werden sollen.

Auf die biblische Urszene und Evas unrühmliche Rolle als Erstverführte und Verführerin rekurriert auch die Herausbildung von "Schamhaftigkeit" als eines moralischen, latent sexualfeindlichen Konzepts weiblichen Wohlverhaltens. Als Tugend interpretiert und vor allem Frauen zugewiesen, meint Schamhaftigkeit eine Zurückweisung alles Sexuellen, Enthaltsamkeit respektive Treue und soziale Zurückhaltung; sie wird zum Ausweis der 'Reinheit' und bringt der Frau gesellschaftliche Achtung. Parallel dazu entwickelt sich eine misogyne Theorie weiblicher Schamlosigkeit. [...]

Die beiden an sich widersprüchlichen Tendenzen, Schamhaftigkeit respektive Schamlosigkeit weiblich zu attribuieren, werden als funktional parallel konstruiert kenntlich, wenn - durch Verschiebungen im Konzept des sozialen Geschlechts - Männer bestimmte 'weibliche' Werte für sich in Anspruch nehmen: Franz Kafka etwa zeigt ebenso wie der weniger bekannte Prager-deutsche Autor Hermann Ungar die Tendenz, in seinem Werk einem Typus schamhafter junger Männer zu huldigen, deren sensible Künstlernatur nach außen als Lebensuntüchtigkeit, Körperangst und Sexualitätsscheu in Erscheinung tritt und die der Zudringlichkeit derb-triebhafter, animalisch-unsensibler Frauen zum Opfer fallen. Die Erfahrung von Sexualität bedeutet für diese Jünglinge eine elementare Verletzung ihrer Scham und damit ihrer personalen Integrität und (Künstler-)Identität.

Die biblische Urszene verknüpft nicht nur Schamgefühl, körperliche Entblößung und sexuelle Unschuld. Indem ein kultur- und religionenübergreifendes "Great Book" wie das Alte Testament die Entstehung des Schamgefühls in die "Anfänge der Welt" verlegt und zu einer Schlüsselstelle innerhalb der Geschichte "der Menschheit" macht, erklärt es das Gefühl zur humanen Grundausstattung und zum normativen Teil eines emotionalen Dekalogs. Scham erscheint als musterhafte emotionale, moralische und körperliche Reaktion auf ein Vergehen des Subjekts oder auf die nachträgliche Entdeckung der Verfehlung durch eine höhere Instanz.

Ein solcher Anfang macht die Tradition der Scham lang und ihr Erbe belastend. In der Verbindung von Bürde und schmerzlichem Existenzial wird Scham zur conditio humana. Diese Dignität mag erklären, warum Scham zum Motiv bildlicher Darstellungen taugt, obgleich das Demonstrative der Repräsentation jener Aufforderung zum Verbergen zuwiderläuft, die dem Schamgefühl inhärent ist. Dieses wird beschrieben als brennender Wunsch zu verschwinden, im Boden zu versinken, nicht da zu sein oder wenigstens nicht gesehen zu werden. Wendungen wie "sich zu Tode schämen" oder sich "krank schämen" verweisen auf das Zerstörerische des Gefühls. Es richtet sich gegen den, der es empfindet. Den "Blick senken", "in den Boden versinken", augenblicklich "verschwinden wollen" bezeugen den Wunsch nach Selbstauslöschung. Er ist autoaggressiv und wird auch bewusst so erlitten. Wenn es am Ende von Franz Kafkas Roman "Der Prozess" über den sterbenden K. heißt, "es war, als sollte die Scham ihn überleben", so pointiert die albtraumhafte Vorstellung in masochistischer Weise ein Gefühl, das mit jedem Scham-Empfinden einhergeht. Das Überleben der Scham illustriert die Angst, dass das schmerzliche Verlangen nach Auslöschung der eigenen Existenz (oder des Bewusstseins dieser Existenz) im Gefühl der Demütigung nicht enden, sondern fortdauern wird, über die gewaltsame körperliche Auslöschung hinaus, weil selbst der Tod nicht die Erlösung vom autoaggressiven Wunsch nach Vernichtung gewährt.

Gleichwohl kann man, je nach Blickwinkel, auch in der Scham schon eine abgemilderte, sekundäre Gefühlsreaktion sehen, wenn man sie nämlich mit der Schuld vergleicht, die ihr vorausgeht:

Als die junge Bundesrepublik nach der "Stunde Null", der fiktiven Zäsur, die ihr das moralische Recht eines Neuanfangs erstritt, auf die Jahre 1933-1945 zurückblickte, tat sie das mit dem Gefühl der Scham. Anders als die umstrittene, von den einen behauptete, von den anderen verleugnete, jedenfalls kontrovers diskutierte "Kollektivschuld" wirkte das Konstrukt einer "Kollektivscham" versöhnlich; es schien, zumindest auf den ersten Blick, ein akzeptabler Kompromiss: den Opfervölkern wird ein moralisch zumutbarer Tribut gezollt, der den Deutschen emotional möglich war. Denn auch wer sich dem Kollektiv der Schuld verweigerte, weil er individuell nicht schuldig geworden zu sein glaubte und nicht bereit war, fremde Schuld auf sich zu nehmen, konnte sich ja schämen, für die anderen aus Gründen der nationalen Haftung. Emotionale und moralische Stellvertreterschaft nämlich ist dem Gefühl der Scham, anders als der Schuld, fraglos möglich, da es sich auch aus der Zeugenschaft speisen kann. "Ich schäme mich für dich" bezeichnet das Abrücken vom anderen, auch dessen moralische Verurteilung und zugleich unterschwellige Bereitschaft, sich mit ihm so weit zu identifizieren, dass man sich an seiner Statt in die moralische Pflicht nimmt, indem man sich dem schmerzlichen und degradierenden Gefühl der Scham aussetzt. Sich für andere zu schämen und in diesem Gefühl Zugehörigkeit zu und Abgrenzung von ihnen zu vereinen, charakterisiert ein spezifisches Verhältnis von ungewollter Nähe und teilnehmender Distanz - ein uneindeutiges Verhältnis, wie es vielfach zwischen dem Individuum und einer Gruppe existiert, der der einzelne nicht zugerechnet werden will und gleichwohl in unabänderlicher Weise, qua Geburt und Herkunft, angehört, wie der Familie oder eben 'seinem' Volk.

"Ich erkenne daran mit scham und gram meine deutschen landsleute", klagte schon im 18. Jahrhundert der Forschungsreisende Carsten Niebuhr in Vorwegnahme jenes Schamgefühls, das die meisten Deutschen für andere Deutsche empfinden, wenn sie diese im Ausland (als Touristen) erleben. Dass das Gefühl sich kaum noch auf ein konkretes Fehlverhalten bezieht, sondern sich aus der bloßen Erwartung eines solchen speist oder sich auf gänzlich harmlose Handlungen ausgeweitet hat, die keinen anderen Fehler haben, als die Handelnden als Deutsche identifizierbar zu machen, verdeutlicht eine Anekdote, die Prinz Asfa-Wossen Asserate in seinem Buch "Manieren" (2003) zum besten gibt: Bei einer Ausstellung in Paris, die der dunkelhäutige, aus Äthiopien stammende Autor zusammen mit sehr gut deutsch-sprechenden französischen Freunden aufsucht, beugt sich die Gruppe ins Gespräch vertieft über Exponate, als "eine deutsche Dame, dem Aussehen nach eine Intellektuelle", den vermeintlichen Landsleuten zuraunt: "Sprechen Sie doch nicht so laut, es merkt ja jeder, dass Sie Deutsche sind!" Die peinliche Pointe der Szene ergibt sich, als der Angesprochene sich umdreht und seine äußere Erscheinung ihn davon freispricht, der laut-behäbige Deutsche des Klischees zu sein.

Scham für andere verdeckt nur mühsam ein Problem der eigenen Identität, eine Dissonanz zwischen Fremd- und Selbstbild; aber immerhin, sie verdeckt es und legt einstweilen den Schleier des Gefühls über die Grenze zwischen Schuld und Verantwortung, über den Unterschied von Täter- und Zeugenschaft. Auch deswegen hat man nach der Erfahrung der Shoah in der Ersetzung der Schuld durch die Scham eine Verharmlosung und einen Versuch der Ent-Schuldung gesehen. Dies verzeichnet etwa Aleida Assmann (in: Geschichtsvergessenheit - Geschichtsversessenheit, 1999) für Thomas Manns 1943 im Exil begonnenen Roman "Dr. Faustus". Die von den Alliierten erzwungene Besichtigung des Konzentrationslagers Buchenwald durch die Bevölkerung Weimars zeige der Roman als Konfrontation der Deutschen mit den ermordeten Opfern unter den Augen der Siegermächte. Dabei setze er "das reiche Vokabular schamkultureller Begriffe" ein. Im Resümee des Erzählers: "Offen liegt unsere Schmach vor den Augen der Welt", verdichte, so Assmann, der Autor das deutsche Trauma. Und: "Das deutsche Trauma ist ein Trauma der Scham, nicht der Schuld". Assmann stützt sich auf einen der ersten Schamtheoretiker, Charles Darwin. Er erklärt in seinem Werk "Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren" (1872): "Es ist nicht das Gefühl der Schuld, sondern der Gedanke, dass Andre uns für schuldig halten oder wissen, dass wir Schuld haben, was uns das Gesicht roth macht."

In der Tat bedeutet Scham, gemessen am Gefühl von Schuld und Schande, schon eine erste Verschiebung. Der Begriff kann objektiv und subjektiv begriffen werden, und tendiert zu einer zumindest partiellen Entlastung vom Moralischen (Vergehen), wenn er, wie in der Entwicklung im Deutschen geschehen, zunehmend subjektiv verwendet wird - nicht als Ausdruck objektiver Gegebenheiten, sondern persönlicher Empfindung. Diese rekurriert zudem nicht länger auf eine als unabhängig gesetzte transzendente Instanz, sondern auf das Urteil anderer Menschen. An die Stelle der moralischen Gerichtsbarkeit tritt eine soziale, die den Anspruch hat, die moralische zu vertreten. Es geht nicht mehr um die einsame Auseinandersetzung des Subjekts mit den Werten einer höheren Ordnung, vielmehr hat bereits eine dritte Instanz, die "Öffentlichkeit", Einfluss genommen. Ob das Subjekt aus sich heraus, aus der Lauterkeit der eigenen Seele zum Bewusstsein von Schuld in der Lage wäre, lässt sich nicht mehr feststellen, wo die Augen der anderen zum Maßstab der Wahrnehmung und des Urteils geworden sind. Auch die Schuld verliert ihre Unschuld, könnte man pointieren, wo sie (Augen-)Zeugen hat. Letztere als "Schamzeugen" zu bezeichnen, wie Hilge Landweer vorschlägt, bedeutet in letzter Konsequenz, dass Scham ohne Zeugen, reale oder vorgestellte, nicht existiert, dass sie lediglich als soziales Konstrukt funktioniert. Wer sich schämt, der schämt sich vor jemandem. Gleich ob die anderen real oder nur in der Vorstellung des Subjekts anwesend sind, erst unter ihrem Blick findet der einzelne zum Bewusstsein seiner Verfehlung wie auch generell zum Bewusstsein seiner selbst. Der Preis für die eigene Anerkennung liegt darin, unter der imaginären Präsenz des fremden Blicks zu leben und zu handeln, und das ständig, weil man sich selbst schließlich gar nicht anders denn mit den Augen der anderen zu sehen vermag. So ließe sich auch das von Darwin angeführte Fallbeispiel einer Frau erklären, die allein in ihrem Zimmer und objektiv unbeobachtet vor Scham errötet.

Das Erröten gehört zu den körpersprachlichen Signalen ebenso wie das Senken des Blicks und der Wunsch oder Versuch, sich zu verbergen. Die Qual dieser Erfahrung für das erlebende Subjekt und oft auch für den Betrachter teilt die Scham mit einem Gefühl, das erst langsam als eigenständige Emotion zur Kenntnis genommen wird, der Peinlichkeit. Sie ist für die Psychogeschichte der letzten Jahrzehnte mindestens so signifikant, wie es der Übergang von Schuld zu Scham für die 1950er Jahre war.

Das ganze Leben [...] eine Peinlichkeitsverdichtung ohne Beispiel. (Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag)

Inzwischen nämlich scheint das Gefühl der Scham seinerseits abgelöst von dem verwandten Gefühl der Peinlichkeit, das noch weniger moralisch aufgeladen, noch gesellschaftlicher ausgerichtet ist und insofern die Tendenz der Säkularisierung und Vergesellschaftung fortschreibt, die sich im Übergang von der Schuld zur Scham erkennen lässt. Während das ethische Moment dort nur abgeschwächt wurde, wird es im Übergang von Scham zu Peinlichkeit gänzlich ersetzt - durch das Ästhetische.

Anders als der Übergang vom kollektiven Schuld- zum kollektiven Schamgefühl scheint die Säkularisierung und Trivialisierung des Schamgefühls zu einem rein gesellschaftlich und äußerlich abgeleiteten Gefühl der Peinlichkeit, eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte, noch weitgehend unbemerkt. Das mag daran liegen, dass Peinlichkeit als banales, lächerlich-klägliches Gefühl zum Gefühlshaushalt und -Alltag gehört, während Bürde und Würde der Scham diese dem Alltagserleben entrücken.

Zudem tun die unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen sich immer noch schwer, Scham und Peinlichkeit begründet zu unterscheiden. Beim Versuch, sie definitorisch voneinander abzugrenzen, differenzieren verschiedene Modelle nach je unterschiedlichen Kriterien:

- nach Intensität oder Dauer: Scham gilt als das stärkere Gefühl und kann auch als emotionale Disposition einer Person angesehen werden, während Peinlichkeit kurzfristig und situationsbezogen auftritt und nicht die schmerzliche Dringlichkeit der Scham entwickelt;

- nach Schuld respektive Verantwortung des Subjekts für das Geschehen, welches das jeweilige Gefühl auslöst: Etwas vom Subjekt nicht zu Verantwortendes, das von außen, durch höhere Gewalt oder schlichtes Versehen geschieht, weckt lediglich ein Gefühl von Peinlichkeit, während Scham auf eine schuldhafte Handlung zurückgeht, für die das Subjekt sich verantwortlich fühlt;

- nach dem Grad der Beteiligung des Subjekts an der Situation: Der als Täter oder Verursacher Betroffene empfinde Scham, der Beobachter lediglich Peinlichkeit. So erläutert der Soziologe Norbert Elias: "Sie [Peinlichkeitsgefühle, A.P.] bilden ein unabtrennbares Gegenstück zu den Schamgefühlen. Wie diese sich herstellen, wenn ein Mensch selbst gegen Verbote des Ich und der Gesellschaft verstößt, so stellen jene sich ein, wenn irgend etwas außerhalb des Einzelnen an dessen Gefahrenzone rührt, an Verhaltensformen, Gegenstände, Neigungen, die frühzeitig von seiner Umgebung mit Angst belegt wurden, bis sich diese Angst - nach Art eines 'bedingten Reflexes' bei analogen Gelegenheiten in ihm automatisch wieder erzeugt. Peinlichkeitsgefühle sind Unlusterregungen oder Ängste, die auftreten, wenn ein anderes Wesen die durch das Über-Ich repräsentierte Verbotsskala der Gesellschaft zu durchbrechen droht oder durchbricht." (Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 2, 1976)

Für Elias sind Scham wie Peinlichkeit Indikatoren zunehmender Höfisierung. In seiner Theorie verweist das evolutionäre Vorrücken der Peinlichkeitsschwellen auf ein zunehmendes Bemühen um zivilisiertes Verhalten. Elias' kulturgeschichtliches Standardwerk "Über den Prozeß der Zivilisation" nennt deswegen beide Emotionen meist gleichwertig und fast immer in der Doppelformel: Sie fungieren als zwei lediglich perspektivisch unterschiedene Erscheinungsformen derselben Reaktion auf einen strukturell identischen Auslöser. Dessen Mechanismus erklärt Elias aus der Verschiebung von einer äußeren Instanz, der Verbotsskala der Gesellschaft, auf eine innere, das Über-Ich, letztlich also durch Internalisierung äußerer Zwänge zu inneren. Dass diese sich auch bemerkbar machen, wenn das Subjekt selbst gar nicht durch Fehlhandlung seinen Platz in der Gesellschaft gefährdet, sondern die Angst vor einer solchen Diskreditierung reflexartig hervorgerufen scheint, wo ein Regelverstoß auch nur beobachtet wird, verdeutlicht die Wirkmacht und den Grad der Verselbständigung der Normorientierung im Sinne einer Konditionierung.

Auf das Moment der Zeugenschaft aufmerksam gemacht zu haben ist eines der Verdienste von Elias. Es erlaubt nämlich, was andere Theorien nur unzureichend ermöglichen, nämlich Peinlichkeitsgefühle zu erklären, die auf den ersten Blick jeder Begründung entbehren, wie die in der folgenden Szene evozierten. Das Zitat entstammt Ralf Rothmanns mehrfach ausgezeichnetem Roman "Junges Licht" (2004) über die Kindheit eines Jungen in einer Bergarbeitersiedlung im Ruhrgebiet der späten sechziger Jahre: "Das Blatt in der Hand der Ansagerin zitterte, und sie sah nicht auf. Dreimal schon hatte sie sich versprochen bei dem Wort Warschauer-Pakt-Staaten, was mir derart peinlich war, dass ich mich am liebsten hinter dem Sessel versteckt hätte. Ich stellte den Ton ab und ging in die Küche, um mir ein Wurstbrot zu machen."

Die emotionale Reaktion des Jungen scheint unangemessen oder zumindest übertrieben: Er selbst ist nicht Handelnder, sondern lediglich Beobachter von fremdem Verhalten; letzteres ist zudem nicht unmittelbar, sondern nur medial vermittelt. Zudem gibt es in der geschlossenen Erlebenswelt des elterlichen Wohnzimmers keine anderen Zeugen als den 11-jährigen Protagonisten, das heißt er selbst ist durch die Mittelbarkeit des Mediums ein geschützter Beobachter und in seiner unmittelbaren Umgebung als Beobachter real unbeobachtet. Gleichwohl leidet er unter dem Fehlverhalten einer Ansagerin so, dass er ihren Anblick vermeiden und sich zugleich selbst den Blicken entziehen will und die Situation, genauer seine Teilhabe durch Zeugenschaft, schließlich in zweifacher Hinsicht beendet: Zum einen entzieht er der Ansagerin das Wort, das heißt den Ton, zum anderen dreht er dem Geschehen den Rücken zu und verlässt den Raum. Die zweite Geste hätte kein Gewicht als symbolische Abwendung, hätte der Junge zuvor nicht nur den Ton abgestellt, sondern den Fernsehapparat ganz ausgeschaltet. Der stufenweise Entzug der Aufmerksamkeit erlaubt ihm eine zweifache Loslösung einerseits und die symbolische Bestrafung andererseits. Beide können als latent aggressive Handlungen angesehen werden, die auch dazu dienen, das Gefühl der Peinlichkeit durch motorische Übersprungshandlungen abzuleiten. Leon Wurmser nennt in seiner psychoanalytischen Betrachtung "Die Maske der Scham" (1998) Aggression und Wut "Masken" der Scham, die in ihrer bloßen Gestalt gar nicht ertragen werden könne; Sighard Neckel beschreibt in "Status und Scham" (1991) als Charakteristikum der peinlichen Situation, dass man ihrer "emotionalen Last" so schnell wie möglich entkommen wolle - das Verhalten des Jungen, Angriff und Flucht, verbindet Aggression und Erlösung.

Deutlich wird an der Alltagsminiatur aber auch, was in Elias' Abgrenzung von Scham und Peinlichkeit unerwähnt bleibt und in den anderen Modellen nicht immer klar hervortritt: Das Referenzsystem, von dem jemand so abweicht, dass er selbst oder ein Betrachter es als schmerzlich und diskreditierend empfindet, ist für das Gefühl der Peinlichkeit ein anderes als für das Gefühl der Scham. Letztere gehört zu den so genannten "moralischen Emotionen (moral emotions)" (Wollheim) und ist ein im ethischen System verankertes Gefühl; mit Scham reagiert, wer glaubt, die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze der Moral verletzt zu haben. Als peinlich wird empfunden, was gegen die gesellschaftlichen Konventionen, den Comment, die Manieren und Verhaltensformen verstößt, die konventionell und situativ vorgeschrieben sind. Die Unsicherheit der Ansagerin, ihre zitternden Hände, der gesenkte Blick und der mehrfache Versprecher sind unangenehm, weil sie in einer hoch-öffentlichen, formellen Situation unterlaufen. Die Ansagerin wird ihrer beruflichen Aufgabe nicht gerecht und geht mit diesem Versagen wiederum unprofessionell, also nicht souverän um. Ungeschicklichkeit und Unsicherheit illustrieren mangelnde Kontrolle über Sprache und Körper und machen qua Massenmedium den Kontrollverlust öffentlich.

Die Banalität des Anlasses und die 'Weltlichkeit' des Systems, dessen Regeln verletzt werden, grenzen die Peinlichkeit als Reaktion von der Scham ab. Gleichzeitig verbergen sie nicht, dass beide Gefühle schmerzlich und im Sinne der Emotionspsychologie "Unlustgefühle" sind. Auch ähneln sich körperliches und psychisches Erleben und die Phänomenologie des Gefühls. Entscheidende Gemeinsamkeit ist indes der mit dem Gefühl für das Subjekt verbundene Bewusstseinsgrad: Lassen sich Lustgefühle wie Glück erst im nachhinein als solche erkennen und sind im Moment des Erlebens gerade nicht in selbst-reflexiver Weise bewusst, so ist die Empfindung von Peinlichkeit (wie auch von Scham) unweigerlich mit dem selbst-reflexiven Bewusstsein der Empfindung verbunden und per se sentimentalisch: Wer peinlich berührt ist, erlebt sich als peinlich Berührten und reagiert mit gesteigerter Selbstaufmerksamkeit. Diese wiederum vergrößert die Unsicherheit und mit ihr die Wahrscheinlichkeit, dass auch das Gefühl der Peinlichkeit andauert oder sich sogar noch steigert.

Ein anschauliches Beispiel für diese Zirkelstruktur findet sich in Heinrich Manns satirischem Roman "Im Schlaraffenland" aus dem Jahr 1900: Der Held Andreas Zumsee, ein ehrgeiziger Provinzler aus dem Rheinland, will sich in Berlin einen Platz "unter feinen Leuten" erobern. Die Einladung in den Salon des reichen jüdischen Bankiers Türkheimer markiert die erste Stufe seines sozialen Aufstiegs: "Das Selbstbewußtsein, mit dem er seinen Eintritt vollführte, erstickte seine geheime Verlegenheit, machte ihn aber auch unvorsichtig. Alsbald stieß ihm ein kleines Unglück zu. Neben der Garderobe lag ein Vorzimmer, das Andreas auf den ersten Blick für leer hielt. Er betrat es, ohne sich anzukündigen, aber schon nach zwei Schritten stand er auf der Schleppe eines Abendmantels. Es war ein Mantel aus gelber Seide mit Brockatstickerei, gefüttert mit Satin-Duchesse. Und Andreas konnte sich nicht schnell genug zurückziehen, um nicht mehr zu bemerken, dass die Besitzerin des Mantels von dem jungen Manne, der ihn ihr abnahm, einen Kuß empfing. Es war eine große starke Blondine, und das wütende Gesicht mit der aufgestülpten Nase, das sie Andreas zuwandte, erfüllte ihn mit solchem Schrecken, dass er unter gestammelten Entschuldigungen recht kläglich beiseite schlich.

Gleich darauf, wie er die Treppe zum ersten Stock hinanstieg, fielen ihm die geistreichen Wendungen ein, mit denen er sein Unglück hätte gutmachen können. Ganz zerschlagen von dem Bewußtsein, der Lage nicht gewachsen gewesen zu sein, ließ er sich durch zwei Säle von einem Strom von Gästen fortziehen, der ihn an das Büffet führte. Im Gedränge stieß er einem distinguiert aussehenden alten Herrn heftig gegen die Schulter und brachte nicht einmal mehr ein Wort der Abbitte hervor, ganz entsetzt über sein neues Mißgeschick. Indes sagte der alte Herr verbindlich ,Pardon' und reichte Andreas Teller und Besteck. Der arme junge Mann gewahrte jetzt die seidenen Strümpfe des Haushofmeisters und wandte sich mit blutrotem Gesicht hinweg."

Das gesellschaftliche Entree beginnt mit im Wortsinn 'peinlichen Fehltritten'. Zumsee betritt den falschen Raum zur falschen Zeit, verstimmt eine Dame, indem er ihr auf die Schleppe und zu nahe tritt, gerät, als er sich von einem "Strom [...] fortziehen" lässt, ins Gedränge und stößt jemanden an. Die Sprache des Körpers illustriert verlorene Bodenhaftung, mangelnde Selbstkontrolle und anstößige Grenzverletzung in Sinnbildern, die den Metaphern der ungehinderten Bewegung, die den sozialen Aufstieg bezeichnen, entgegenstehen. Das Fehltreten und Anstoßen, das Stammeln und "kläglich beiseite [S]chleichen" veranschaulichen den Verlust der Beherrschung von Körper und Sprache und ziehen weitere Fauxpas nach sich. Denn Zumsee verliert seine Sicherheit, als ihm seine Unbedarftheit bewusst wird. Die gesteigerte Selbstaufmerksamkeit geht mit Selbstvorwürfen einher und führt zur Rekapitulation der erlittenen Schmach, die gedanklich noch einmal durchlebt und diesmal bewältigt wird. Die Kompensation im Tagtraum nimmt Zumsee so gefangen, dass er, erneut unachtsam, einen Herrn anstößt, was ihn so verwirrt, dass ihm die Geistesgegenwart fehlt, sich zu entschuldigen. Letzteres für ein Versäumnis zu halten, erweist sich als die eigentlich zu inkriminierende Verfehlung, denn ihr liegt eine Fehleinschätzung der sozialen Rangordnung zugrunde. Schließlich ist der "distinguierte" alte Herr 'nur' der Haushofmeister. Die "Schamesröte", mit der Zumsee sich abwendet, ist nicht Folge einer realen Blamage unter Zeugen, sondern Reaktion auf das Gewahrwerden eigener Unzulänglichkeit und gleichzeitig deren Symptom. Die Unzulänglichkeit besteht nicht im körperlichen Ungeschick, sondern im kognitiven Fehlurteil, einen Unterlegenen nicht als solchen erkannt zu haben, und im psychischen Fehlverhalten, eine aufgrund des sozialen Rangunterschieds unproblematische Situation als peinlich empfunden zu haben. Zumsee misst sich am von ihm imaginierten Regelkanon der Gesellschaft, zu der er gehören möchte. Er errötet gleichsam vor ihr und für sich selbst - ein Phänomen, das schon Darwin beschäftigt hat.

Dass Zumsee später "in weinseliger Aufgeräumtheit" erneut "auf die Schleppe" einer Dame tritt, verweist auf die Nähe des Peinlichen zum Lächerlichen. Es verdeutlicht auch das ikonografische Potential des 'Fehltritts' und lässt vermuten, dass ein Inventar peinlicher Szenen, Gesten und Konstellationen existiert. Zu deren Charakteristika gehören ein starkes soziales Gefälle zwischen Herkunfts- und angestrebtem Sozialmilieu und ein formeller Rahmen, in dem Öffentliches und Privates aufeinanderprallen, so dass das Private ungewollt öffentlich gemacht wird.

Der Roman zeigt das übertriebene Empfinden für Peinlichkeit als Merkmal des sozialen Aufsteigers und steht gerade in der Übertreibung in Einklang mit Elias' These, dass 'Fortschritt', hier individualbiografisch gedeutet, und ein Vorrücken der Peinlichkeitsschwellen miteinander einhergehen. Die Markierung des Peinlichen als lächerlich ironisiert die Idee sozialen Aufsteigertums zugleich wegen der ihr inhärenten psychischen Disposition zur Fremdidentifikation.

Dass die peinlichen Fehltritte des Helden hier dargestellt werden (können), hat wesentlich damit zu tun, dass der Held nicht wirklich positiv ist und nicht zur Identifikation einlädt. Das erleichtert und legitimiert es, das Gefühl der Peinlichkeit, das von ihm erlitten und beim Leser evoziert wird, in Lachen zu überführen, indem das Peinlichkeitsgefühl zur Schadenfreude umkodiert und in einem ausgrenzenden Lachen ausagiert wird. Die satirische Einbettung der Szene umgeht ein poetologisches und ein rezeptionsästhetisches Problem: Denn so wenig Peinlichkeit als erzählbar gilt, eben weil sie per definitionem nicht auf das Zeigen, sondern auf das Verbergen hin angelegt ist, so wenig erstrebenswert erscheint es, sie einen Leser bei der Lektüre (nach-)empfinden zu lassen. Der Leser nämlich rückt zwangsläufig in die Position eben jenes Beobachters, auf dessen Affizierbarkeit durch peinliche Gefühle Elias hinweist. Insofern ist der Text, der Peinliches thematisiert, immer auch eine Provokation für den Leser, weil er "an dessen Gefahrenzone" rührt.

Wer als Autor seinen Lesern die prekäre Situation zumutet, in der Empfindung von Peinlichkeit mit eigenen Ängsten konfrontiert zu werden, wird deshalb nicht selten zum Auslöser eines literarischen Skandals, in dessen Zentrum der Vorwurf der Peinlichkeit steht. Als peinlich und geschmacklose 'Schamlippenpoetisierung' wurde die Literatur der zweiten Frauenbewegung in den 70er Jahren empfunden; die Werke der im Jahr 2004 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten österreichischen Schriftstellerin Elfriede Jelinek wurden fast stereotyp als 'peinlich' eingestuft; und auch das letzte publizierte Werk des damals 78-jährigen Nobelpreisträgers Thomas Mann fiel dem Peinlichkeitsverdikt anheim: Angesichts der 1953 erschienenen Erzählung "Die Betrogene", die das Begehren einer alternden Frau gegenüber einem jüngeren Mann mit Klimakterium, Eierstockkrebs und Tod assoziiert, beklagte die Kritik den "Schwund an Takt und Geschmack", der durch "Peinlichkeiten" und das "Degoutierliche" der Konstellation zu Tage träten: "[...] eine herbstliche Frau und ein frühlingshafter Mann - das ist ein peinlicher Anblick, den selbst die Karikatur meidet".

Der Autor indes reagierte auf die Kritik, indem er den Gegenstand der Vorwürfe nachträglich zur dichterischen Absicht erklärte. Es sei ja gerade sein "Ehrgeiz", heißt es in einem Brief, "es mit dem Peinlichen aufzunehmen" und "den delikaten oder vielmehr undelikaten Stoff 'durch die Form [zu, A.P.] verzehren', wie es beim alten Schiller heißt". Der Gegensatz von Stoff und Form, von vorgefundenem Thema und eigener Gestaltungsleistung, ist in der ästhetischen Theorie kanonisch. Mann wandelt ihn - ob freiwillig oder nur in einem Akt kalkulierter Vorwärtsverteidigung, der die Entgleisung nachträglich als bewusstes Experiment ausgibt, sei dahingestellt - zu einer Poetik der Peinlichkeit.

Im Sinne einer künstlerischen Herausforderung haben sich auch spätere Autoren dem Phänomen genähert: Robert Gernhardt gilt als "Kartograph der Peinlichkeit", Paul Wühr charakterisiert sein literarisches Programm mit dem Kalauer "Um Peinlichkeit wird gebeten"; Wilhelm Genazino erklärt sein 2004 mit dem Büchnerpreis ausgezeichnetes Gesamtwerk mit den Worten: "Das Peinliche bewegt mich" und wird in der Preisrede dafür gelobt, dass seine Erzählungen die "Psychogeschichte der Republik" widerspiegeln - und die scheint in der Tat inzwischen wesentlich von Peinlichkeiten gezeichnet. Während Gernhardt, Wühr und Genazino diese in Alltagssituationen aufsuchen und behutsam oder ironisch aus dem Verborgenen oder Übersehenen heben, haben sich die Massenmedien einem offensiven Exhibitionismus von Peinlichkeiten verschrieben, ohne dass ein ästhetischer Ehrgeiz erkennbar wäre, der das Ziel verfolgte, den Stoff durch die Form zu bezwingen oder zu adeln.

In vergleichbar extensiver Weise hat sich kein auf Dauer angelegtes künstlerisches Medium je dem Sujet gewidmet oder es als Selbstzweck inszeniert. Die Medien des Interdiskurses feiern Peinlichkeit als das Thema einer populären Kultur. Sie machen Peinlichkeit zum Modus ihrer Präsentation und zu deren Ziel: Anders als in der langen Tradition der Affekte dient 'Kunst' nunmehr nicht mehr dazu, von unangenehmen Affekten wie Angst und Schrecken zu reinigen, sondern macht es sich zur Aufgabe, ein Unlust-Gefühl wie Peinlichkeit beim Rezipienten hervorzurufen und dies als Unterhaltung zu deklarieren. Eine kathartische Wirkabsicht ist damit erkennbar nicht mehr verbunden. Angesichts des Niedergangs der medialen Popkultur im US-amerikanischen Fernsehen beklagt auch die amerikanische Presse das "offensichtliche Kalkül, das hinter der [in den Hybridgenres der "Reality-Sitcom", A.P.] präsentierten Serie von Peinlichkeiten steckt"; die Website des "Peinlichen Fanclubs" und der Chat-Room für "Freundinnen und Freunde der Peinlichkeit" laden unter dem Motto "Peinlichkeit kennt keine Grenzen, Peinlichkeit kennt kein Pardon" dazu ein, peinliche Erlebnisse im world-wide-web kundzutun, und Frauenzeitschriften propagieren die gezielte Indiskretion als Ausdruck emotionaler Nähe: "Es ist Liebe, wenn... [...] Sie ihm Ihr peinlichstes Erlebnis beichten." (Freundin 17/2000)

Die Botschaft ist eindeutig: Es gilt, sich über die eigenen Peinlichkeitsschwellen hinwegzusetzen. In Harald Schmidt wird die Ikone einer Kultur bestaunt, der im Idealfall nichts mehr peinlich ist, während seine Nachfolgerin Anke Engelke an eben diesem Gefühl scheitert; ihren Misserfolg kommentiert sie als Peinlichkeitserfahrung, die zum Nachdenken zwinge: "Are you embarrassed / Embarassed of what you do / You just do too much / You need to rediscover the joy of thinking." (Gonzales )

Mit Elias' These von dem zunehmenden Peinlichkeitsempfinden als teleologischer Entwicklungsbewegung ist das nur noch zu vereinbaren, wenn man auch seiner Informalisierungs-These glaubt: Der zivilisierte Mensch sei durch Internalisierung von Normen und Scham- und Peinlichkeitsschwellen so triebgehemmt, dass man ihm ehemals Peinliches schon wieder zumuten kann, ohne dass es den Zivilisationsprozess als Ganzen gefährdet. Deshalb würde heute vieles nicht mehr als peinlich gelten, was im 19. Jahrhundert noch als peinlich empfunden wurde. Nicht erklärt wäre damit aber, weshalb denn vorgeblich doch noch als peinlich Empfundenes heute ausgesprochen und extensiv thematisiert wird.

Man könnte darin einen infantilen Optimismus erkennen, der unter dem Eindruck von Beichte und - einflussreicher - Psychoanalyse daran glaubt, sich durch Bekenntnis und Verbalisierung der Peinlichkeit von ihr zu reinigen und dem gefürchteten Ausschluss aus der Gemeinschaft insofern zuvorzukommen respektive ihn überflüssig zu machen, als man signalisiert, sich der Peinlichkeit bewusst zu sein, also nicht ahnungsloses Opfer, sondern artistischer Meister des eigenen Fehlverhaltens wie des eigenen Gefühlshaushaltes.

Das kulturelle Wissen und die emotionale Kultur, zu spüren, dass kein Entkommen möglich ist und auch Exhibitionismus Entblößung bedeutet, wenn auch freiwillige, scheinen nicht mehr präsent. Und so werden vielleicht erst später die heute Bekenntnisfreudigen eingeholt, vom peinlichen Erinnern und jener "Treppenpeinlichkeit", die sich, wie der Treppenwitz, erst im nachhinein erschließt, dann aber das Bewusstsein überschattet wie der moralische Kater am Morgen danach.

Anmerkung der Redaktion: Eine Fassung dieses Aufsatzes mit Zitatbelegen und Anmerkungen ist für Online-Abonnenten von literaturkritik.de als pdf-Datei hier zugänglich. Der Beitrag erschien zuerst in: Klaus Berndl /Sigrun Casper / Salean A. Maiwald / Heidrun Voigt (Hrsg.): konkursbuch 43 "Scham". konkursbuch-Verlag, Tübingen 2005. S. 37-55.