La vie en rose
"Kuckuckslichtnelken": Sarah Kirschs rosarote Kindheitserinnerungen
Von Jens Zwernemann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMemoiren sind in: Spätestens seitdem die Annahme, dass man als Mensch nicht per se existiert, sondern sich seine Identität, seine Vergangenheit und selbst seinen Körper erst in narrativ-performativen Akten erschaffen muss, geistiges Allgemeingut geworden ist, fühlen sich mehr und mehr Zeitgenossen bemüßigt, ihre persönlichen Geschichten mit einem stetig anwachsenden Lesepublikum zu teilen. Von Ex-Staatschefs und -Sportstars über minderjährige Popsternchen und Musikproduzenten bis hin zu arrivierten Literaturkritikern und Autoren - das Bedürfnis, Highlights aus ihrem Leben mitzuteilen, wird für immer mehr Prominente zu einem scheinbar übermächtigen Drang. Dass dabei das voyeuristische Interesse der Leser dieses Unterfangen zu einem äußerst lukrativen Geschäft macht, dürfte den momentanen Memoiren-Boom sicherlich zusätzlich befördern.
Jüngst hat diese Welle der Selbstoffenbarungen auch die Lyrikerin Sarah Kirsch ergriffen, die mit "Kuckuckslichtnelken" ebenfalls Autobiografisches vorlegte. Ein schmales, 110-seitiges Kleinoktav-Bändchen ist es, das da äußerst bibliophil im Göttinger Steidel-Verlag erschienen ist. Der zartrosa schimmernde Leineneinband - wohl eine Hommage an die Blütenfarbe des eponymen Gewächses - wird allerdings nicht von der Darstellung einer Kuckuckslichtnelke geziert, sondern von der eines halben Apfels. Dieser stammt, ebenso wie die übrigen neun Illustrationen des Bandes, von dem Grafiker und Maler Siegfried Klapper, dessen von Kirsch selbst ausgewählte Apfelbilder zumeist halbierte Früchte in unterschiedlichen Reifestadien zeigen. Damit beziehen sie sich nicht nur auf die Äpfel, die der Autorin während der Kriegszeit als Hauptnahrungsmittel dienten, sondern besitzen darüber hinaus noch eine frugal-erotische Symbolik, die sich wohl auch Nicht-Freudianern bald erschließen dürfte.
Sarah Kirschs autobiografische Darlegungen umfassen die ersten 18 Jahre ihres Lebens (als sie noch Ingrid Hella Irmelinde Bernstein hieß), von ihrer Geburt 1935 im Limlingeröder Pfarrhaus bis zur Niederschlagung des Arbeiteraufstands am 17. Juni 1953. Sie zeichnet dabei das Bild einer Kindheit, die bei aller Unbill der Geschichte - von einer nicht unterkellerten und daher fußkalten Wohnung über die Kriegswirren und die Bombardierung Halberstadts bis hin zu den Repressionen der sich langsam formierenden DDR - stets als mindestens so rosarot erscheint wie der Einband. "Ach ging es uns gut" wird zum Leitsatz ihrer Jugenderinnerungen, die schon bald eine sentimental-betuliche "O les beaux jours"-Atmosphäre umweht. Retrospektiv erscheint ihr fast alles "herrlich", "lustig" und "wunderbar" (das wohl am meisten benutzte und dadurch etwas überstrapazierte Adjektiv).
Stolz trägt Kirsch ihre bildungsbürgerlichen Wurzeln zur Schau und berichtet von ihrem "lesesüchtigen" Vater, einem an sich unpolitischen Anthroposophen, der sich schließlich vom "Bazillus des Nationalsozialismus" hatte infizieren lassen, um später andächtig Karl-Eduard von Schnitzlers Hasstiraden zu lauschen. Ihr jugendliches Selbst beschreibt die Autorin als von einem schier unstillbaren Wissensdrang beseelt, den selbst die als zumeist unfähig und autoritär gezeichneten Lehrer ihrer frühen Schuljahre nicht zu ersticken vermochten; erst später kamen Lehrer hinzu, denen es gelang, den Eindruck zu vermitteln, "dass Bildung etwas ganz Fabelhaftes ist." Dabei muten Kirschs Ausführungen zu den Schwächen und Stärken ihren diversen Lehrer, von denen einige "lahmarschigen Unterricht ohne Methode" veranstalteten, streckenweise eher wie pädagogische Abhandlungen an, die sich als Beiträge zur momentan kaum enden wollenden Bildungsdebatte à la Pisa gebärden.
Anders als das Gros ihrer Lehrer gewährte die Mutter der Tochter nicht nur die notwendigen intellektuellen Entfaltungsmöglichkeiten, sondern weckte in ihr auch die Liebe zur Botanik, so dass Kirsch anhand eines alten Botanikbuchs begierig die lateinischen Bezeichnungen verschiedener Pflanzen auswendig lernte. Folglich vermeidet sie es in ihren Memoiren, Blumen bei ihrem profanen deutschen Namen zu nennen; vielmehr werden sie - botanisch korrekt - als daphne laureola, adonis vernalis oder eben auch lychnis flos-cuculi bezeichnet, und während sie den Lesern wohl zutraut, selbst herauszufinden, welche Pflanzen sich hinter diesen Namen verbergen (die Letztgenannten sind die titelgebenden Kuckuckslichtnelken), so kann die Autorin nicht umhin, potentiell Unwissende ganz en passant darüber zu belehren, dass der gemeine Kartoffelkäfer zur Ordnung der cleopteren gehört.
Stilistisch zeichnet sich die Prosaversion des in der Lyrik viel gelobten "Sarah-Sounds" vor allem durch einen sprachlichen Lakonismus aus, der am augenfälligsten von Kirschs favorisierter Idiosynkrasie, auch Aussagesätze mit dem Prädikat beginnen zu lassen, durchbrochen wird. Eher befremdlich und bemüht erscheinen hingegen ihre Versuche, durch umgangssprachliche Wendungen eine nonchalante Teenager-Flapsigkeit zu simulieren. So sagt sie etwa über ihren Russischlehrer "Sein Deutsch war der Hammer", schwankt etwas unentschlossen zwischen "ein bisschen" und "a bisserl" hin und her und meint wiederholt, sie habe einfach keine Lust gehabt, sich "ihren Kopp" zu zerbrechen.
Insgesamt gibt es vor allem eine frappante Gemeinsamkeit zwischen Sarah Kirschs "Kuckuckslichtnelken", vom Verlag als "liebenswerte Verklärung ihrer Kindheit" bezeichnet, und den Bildern Siegfried Klappers: Beide sind ganz nett - besonders aufregend sind sie aber nicht.
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