Das System der Spiegelneuronen

Neurobiologisches Korrelat für intuitives Verstehen und Empathie

Von Joachim BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Bauer

Warum können Menschen intuitiv verstehen?

Neurobiologische Beobachtungen haben das Verständnis der Seele - sowohl ihrer gesunden Funktionen als auch ihrer Störungen - in den letzten Jahren entscheidend vertieft. Trotz einer beeindruckenden Ansammlung neurobiologischen Wissens blieb eine entscheidende Frage unbeantwortet: Wie ist es möglich, dass das, was ein Mensch aktuell fühlt oder was sein Handeln leitet, von anderen Menschen schnell und spontan erfasst werden kann? Wodurch stellt sich in uns, ohne dass wir dies in einem langen Reflektionsprozess "ausrechnen" müssen, ein spontanes, intuitives Wissen darüber ein, was andere Menschen um uns herum fühlen oder im Sinn haben? Warum können wir darauf verzichten, einen Menschen erst in die Röhre eines Kernspintomografen zu legen, um zu wissen, dass er guter Stimmung ist oder dass er Angst hat, dass er sich angeekelt fühlt oder rettungslos verliebt ist? Warum sind wir über die "innere Zustände" anderer Personen intuitiv informiert, auch ohne dass die Betroffenen uns darüber mündlich Auskunft gegeben haben (manchmal sind wir sogar entgegen einer anders lautenden Auskunft intuitiv richtig informiert). Warum brauchen wir nicht jedesmal eine neurobiologische Studie, um uns als Menschen gegenseitig zu verstehen, um mitfühlend und empathisch Anteil aneinander nehmen zu können?

Die Neurobiologie von intuitivem Verstehen und Empathie, diese vielleicht letzte große Frage der Hirnforschung, scheint vor ihrer Aufklärung zu stehen. Grund ist die Entdeckung der so genannten Spiegelnervenzellen. Spiegelneurone wurden mittlerweile in allen Zentren des Gehirns gefunden, in denen Erleben und Verhalten gesteuert wird. Entdeckt wurden sie dort, wo zielgerichtete Handlungen geplant und gesteuert werden (in der unteren prämotorischen Hirnrinde). Hier beschäftigte sich die Arbeitsgruppe von Giacomo Rizzolatti von der Universität Parma mit Zellen von Affen, die den Plan für spezifische zielgerichtete Handlungen des Tieres haben. Eine der vielen, von ihm mit feinsten Messfühlern versehenen Nervenzellen "feuerte" zum Beispiel dann - und sie feuerte nur dann! -, wenn der Affe mit seiner Hand nach einer auf einem Tablett liegenden Nuss griff. Was Rizzolatti 1996 an einer solchen Zelle entdeckte, war: Das handlungssteuernde Neuron feuerte nicht nur dann, wenn das Tier die Handlung selbst ausführte, sondern auch dann, wenn der Affe zusah, wenn einer der Untersucher nach der Nuss griff. Durch Kontrollexperimente, die unter anderem sicherstellten, dass es sich hier nicht etwa um eine verirrte Nervenzelle der Sehrinde handelte, konnte Rizzolatti sichern, dass er eine Nervenzelle entdeckt hatte, die nicht nur ein spezifisches eigenes Verhalten steuerte, sondern auch dann aktiv wurde, wenn das gleiche Verhalten bei einem anderen Individuum beobachtet wurde. Nervenzellen dieser Art wurden von Rizzolatti als Spiegelzellen bezeichnet (im englischen werden sie "mirror neurons" genannt).

Dein Schmerz wird zu meinem Schmerz: Zellen für Empathie

Spiegelzellen gibt es, wie eine beachtliche Serie von Untersuchungen inzwischen zeigen konnte, nicht nur in den handlungssteuernden Netzwerken der prämotorischen Hirnrinde, und sie lassen sich überdies nicht nur beim Affen, sondern auch beim Menschen nachweisen. Wenn Menschen zuschauen, wie jemand anderes eine zielgerichtete Aktion ausführt, kommt es im Beobachter zu einer stillen Mit-Aktivierung prämotorischer Nervenzellen, jener Neurone, die in der Lage wären, die beobachtete Handlung selbst zu veranlassen. Prämotorische Handlungsneurone kodieren dabei die Gesamtsequenz einer zielgerichteten Handlung. Sie treten - als Spiegelneurone - beim Beobachten einer Handlung bereits dann in Aktion, wenn hinreichende Hinweise vorliegen, worauf eine begonnene beobachtete Aktion hinauslaufen wird. Daher vermitteln Spiegelzellen dem Beobachter einen schnellen, spontanen und vorausschauenden Eindruck davon, was das Ergebnis einer beobachteten Handlung sein wird. Spiegelneurone fahren im miterlebenden Beobachter also nicht nur ein stilles inneres Simulationsprogramm, sondern sie informieren ihn auch über den - aufgrund bisheriger Erfahrungen - wahrscheinlichen Ausgang einer Handlungssequenz. Spiegelzellen vermitteln uns somit das, was wir meinen, wenn wir sagen, dass wir das Handeln eines anderen Menschen - intuitiv und ohne langes Nachdenken - verstehen. Spiegelzellen ermöglichen intuitives Verstehen jedoch nicht nur dann, wenn es um Handlungen geht.

Am eigenen Körper erlebter Schmerz kommt dadurch in unser Bewusstsein, dass im Gehirn Schmerz verarbeitende Zentren - die so genannte "Schmerzmatrix" - aktiviert werden, darunter die Insula ("Körperkarte der inneren Organe") und das oberste affektive Zentrum im vorderen Teil der Gürtelwindung (Anteriorer Cingulärer Cortex, ACC). Auch Zentren der zentralen Schmerzverarbeitung besitzen, wie als erster William Hutchison und kürzlich nochmals Tanja Singer zeigen konnten, Spiegelzellen. Sie feuern nicht nur dann, wenn Schmerz am eigenen Körper erlebt wird, sondern auch dann, wenn wir "nur" beobachten, wie einem anderen Menschen Schmerz zugefügt wird. Was sich hier zeigte, war nicht mehr und nicht weniger als: Wir besitzen Nervenzellen für Empathie und Mitgefühl. Am Beispiel des beobachteten Schmerzes wird eine weitere, wichtige Eigenschaft der Spiegelzellen deutlich: Sie ermöglichen uns nicht nur, das Erleben oder Verhalten eines anderen Menschen zu verstehen, sondern sie haben darüber hinaus eine Tendenz, im Beobachter das wirksam werden zu lassen, was er sieht. Zusehen zu müssen, wie sich jemand anderes aus Versehen einen größeren Holz-Spreissel unter den Fingernagel gestoßen hat, kommt einem Gefühl nahe, welches sich auch dann eingestellt hätte, wenn wir selbst der Unglücksrabe gewesen wären.

Spiegelneurone: Die "Eintrittskarte" des Kindes in die Welt

Spiegelneurone begünstigen eine - meist unbewusste beziehungsweise spontane - Imitationstendenz. Beim Kleinkind zeigt sich diese Tendenz noch ganz ungebremst. Dass wir bereits bei der Geburt einen "Start-Kit", also eine Grundausstattung von Spiegelzellen haben, ergibt sich aus bereits vor Jahren durchgeführten Untersuchungen von Andrew Meltzoff sowie von Mechthild Papousek. Sie konnten zeigen, dass Säuglinge bereits kurz nach der Geburt in der Lage sind, bestimmte ihnen gezeigte Gesichtausdrücke zu imitieren. Diese Beobachtungen lassen den Kern dessen sichtbar werden, was Spiegelneurone bedeuten: Sie sind das neuronale Format für eine frühe, basale Form der Kommunikation und wechselseitigen sozialen Einstimmung, ohne die es nicht nur für Säuglinge keinen Zugang zur Welt, sondern auch später kein intuitives Gefühl der zwischenmenschlichen Verbundenheit geben könnte. Die Tendenz, gesehenes Verhalten zu imitieren, bleibt auch im Erwachsenenalter erhalten, wenn auch in weniger auffälliger Art und Weise. Erwachsene zeigen, dies lässt sich in Studien nachweisen, eine unbewusste Tendenz, Gesichtszüge, Stimmungen und Körperhaltungen ihres Gegenübers zu imitieren. Spiegelneurone sind es auch, die den Effekt vermitteln, dass wir Aufgaben besser ausführen können, wenn wir beobachten können, wie sie ausgeführt werden. Eine jüngst unter Beteiligung der Düsseldorfer Neurobiologen Zilles und Freund vorgelegte Studie zeigt: Spiegelneurone sind die neurobiologische Basis für das Lernen am Modell.

"Use it or lose it": Spiegelzellen müssen "eingefahren" werden

Das bei Geburt vorhandene, zur genetischen Grundausstattung gehörende "Start- Kit" an Spiegelneuronen bedeutet keinesfalls, dass wir über eine angeborene Fähigkeit zur Empathie verfügen. Es ist davon auszugehen, dass die neurobiologische Grundregel, dass neuronale Schaltkreise benützt werden müssen, um in Funktion bleiben zu können ("use it or lose it"), auch im Falle der Spiegelzellen Gültigkeit hat. Hinzu kommt: Angst auslösende Stimuli und Stress bringen die Spiegelzellen zum Verstummen. Dies bedeutet, dass Säuglinge und Kleinkinder empathische Anteilnahme und Zuwendung erleben müssen, um ihre Spiegelsysteme entwickeln zu können. Die zurück gespiegelten Resonanzen, die das Kind von seinen Bezugspersonen erlebt, sind jedoch nicht nur ein "Trainingsprogramm" und haben insofern nicht nur Einfluss auf die Entwicklung der Empathiefähigkeit des Kindes. "Being mirrored involves a message about oneself" bedeutet: Die Summe der Resonanzen, die das Kind von seinen Bezugspersonen erhält, leisten einen beachtlichen Beitrag zur Selbst- und Identitätsbildung des Kindes.

Spiegelungsvorgänge in der Psychotherapie

Die Fähigkeit, die Empfindungen, Motive und Absichten anderer Menschen intuitiv verstehen zu können, wird als die Fähigkeit zur "Theory of Mind", abgekürzt TOM, bezeichnet. Emotionale Resonanzvorgänge sind ein zentrales Thema in der Psychotherapie, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen sind sie Gegenstand der Therapie, zum anderen kommen sie von Therapeutenseite als Arbeitsmethode ins Spiel. Probleme im Umgang mit Gefühlen gehören zu den wichtigsten Motiven, warum Patienten psychotherapeutischen Rat suchen. Mit Blick auf die Spiegelungsfähigkeit kann das Problem eines Patienten in einem "Zu wenig", in einem "Zu viel" oder in einer unausgewogenen Balance der emotionalen Spiegelungsfähigkeit liegen. Menschen mit einem Defizit bei Einfühlung und intuitiver Wahrnehmung tun sich nicht nur beim Erspüren der Gefühle anderer, sondern auch im Verhältnis zur eigenen Emotionalität schwer. Bei einem Teil dieser Patienten können sich seelische Spannungen nur in körperlichen, psychosomatischen Beschwerden äußern. Andere Patienten gehen heftige und extrem intensive, spiegelnde emotionale Verbindungen ein, erleben dann aber - in einer für sie nicht beeinflussbaren Weise -, dass ihre Beziehungen keinen Bestand haben und gleichsam "abstürzen". Wiederum andere Patienten berichten, dass sie sich regelmäßig in Beziehungen wiederfinden, in denen das Sich-in-den-anderen-Einfühlen nur von ihnen, nicht aber vom Partner geleistet wird. In solchen Beziehungen ist die Aufgabe, die Bedürfnisse des jeweils anderen Partners zu erfühlen und sich darauf einzustimmen, unbalanciert verteilt: Einer der beiden Partner ist in der emotionalen Geberposition, ohne selbst etwas für sich zu empfangen.

Die Frage einer angemessenen und gut balancierten emotionalen Resonanzfähigkeit stellt sich jedoch nicht nur für den Patienten. Psychotherapeutinnen und -therapeuten können dem Patienten nur dann wirklich hilfreich sein, wenn sie über eine hinreichende intuitive Wahrnehmung verfügen, mit der sie die innere Situation der Patientin beziehungsweise des Patienten "lesen" können. Die vom Patienten im Therapeuten ausgelöste innere Resonanz (die sogenannte "Gegenübertragung") lässt den Therapeuten spüren, was den Patienten bewegt und welche Wünsche, Ängste oder sonstigen Gefühle ihn beseelen. Die im Therapeuten ausgelöste Spiegelung geht über diese - als "konkordant" zu bezeichnende - Einfühlungsarbeit ("konkordante Gegenübertragung") jedoch hinaus. Der Therapeut spürt - und auch hier dürften die Spiegelsysteme eine entscheidende Rolle spielen - auch ein Stück dessen, was der Patient selbst manchmal noch nicht fühlen kann (ich würde dies als "ergänzende Gegenübertragung" bezeichnen), weil zum Beispiel Ängste, Verbote oder traumatische Erfahrungen dies unmöglich gemacht haben. Auf Seiten des Therapeuten kommt in jeder Psychotherapie sowohl das komplementäre als auch das "ergänzende" Einfühlungsvermögen ins Spiel. Im Therapeuten kommt es im Verlauf einer Therapie also zu einer parallelen Wahrnehmung der Gefühle des Patienten und der eigenen Gefühle. Dies macht deutlich, warum es von überragender Bedeutung ist, dass Therapeuten während ihrer Ausbildung - im Rahmen einer Selbsterfahrungstherapie - ihre eigenen Gefühle "in Ordnung" gebracht haben. (Die Selbsterfahrung wird bei der Psychotherapeutenausbildung in neuerer Zeit zunehmend vernachlässigt. Ausnahmen bilden hier lediglich die psychodynamischen und psychoanalytischen Ausbildungsgänge).

Spiegelzellen in vielen Lebenslagen: Vom Flirt bis zum philosophischen Disput

Durch Spiegelneurone vermittelte Kommunikationsprozesse spielen in zahlreichen weiteren Bereichen ein bedeutende Rolle, unter anderem in der Medizin (Arzt-Patienten-Beziehung), in der Kinderpsychologie (das Problem des Autismus), in der Pädagogik (Elter-Kinder-Beziehung, Lernen am Modell, Einfluss des Medienkonsums) und in der Schulerziehung (Lehrer-Schüler-Beziehung, Handlungs- und erfahrungsbasiertes Lernen). Auf diese durchweg bedeutsamen Aspekte kann hier nicht eingegangen werden, auch nicht auf die bedeutende Rolle, welche die Spiegelneurone beim Flirt und bei der Liebe spielen. Ihr Interesse an den Spiegelneuronen hat neuerdings sogar die Philosophie entdeckt, da diese Zellen die neurobiologische Bestätigung dessen sind, was einige Vertreter der Philosophie schon länger vermutet haben: dass intuitive Verstehensprozess auf der Basis einer inneren Simulation des verstehenden Menschen ablaufen. Es scheint, dass sie damit Recht behalten haben.

Anmerkung der Redaktion: Prof. Dr. Joachim Bauer, zweifach habilitierter Internist, Psychiater und Facharzt für Psychosomatische Medizin an der Abteilung Psychosomatische Medizin der Uniklinik Freiburg, ist Autor eines Buches über Spiegelneurone: "Warum ich fühle was Du fühlst - Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone", Hoffmann und Campe Verlag, 2005. Siehe die Rezension in literaturkritik.de 10/2005. Jüngst erschien "Prinzip Menschlichkeit - Warum wir von natur aus kooperieren", Hoffmann und Campe Verlag, 2006.