Zerstückelte Leiber

Elena Agazzi und Eva Koczisky versammeln Beiträge zum Thema "Der fragile Körper"

Von Iulia DondoriciRSS-Newsfeed neuer Artikel von Iulia Dondorici

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vorliegende Band ist das Ergebnis eines Kolloquiums, das unter der Teilnahme von überwiegend ungarischen und italienischen Germanisten 2005 in Budapest statt fand. Das erklärt sowohl seine Stärken wie auch seine Schwächen: Von Vorteil ist die Vielfalt der Beiträge und Themen wie auch die interdisziplinäre Ausrichtung des Bandes, die überhaupt eine Spezifik des heutigen Diskurses über Körper darstellt. Der Band beinhaltet zahlreiche Beiträge sowohl aus der Philosophie, Ästhetik, Kunst- und Literaturgeschichte wie auch Beiträge aus den Kulturwissenschaften. Dem Band liegt jedoch ein heterogenes und nicht ganz klar ausdifferenziertes Körperkonzept zu Grunde. Das wird dem Leser schon im Vorwort der beiden Herausgeberinnen deutlich. Ihnen zufolge gehören die Beiträge angesichts der Körperproblematik in drei unterschiedliche Linien der Moderne: "Das Judentum, die Gnosis und die Mystik und deren Erbe in der Postmoderne", "die nachmetaphysische Philosophie der Leiblichkeit" und "die radikale Hermeneutik bzw. die Lesestrategien der Dekonstruktion". Der Band ist auf Grund unterschiedlicher Kriterien in vier Teile, unter den Titeln: "Anfänge: Der Körper an sich, die Hand und die Eingeweide", "Randgänge der Metaphysik: Leib, Körper, das Ich und das Selbst", "Bild und Schrift, klassisch und antiklassisch: Fragment, Corpus, Arte-Fact und Abbild, Mann und Frau" und "Wissenschaft und kulturelle Erfahrung: die Haut, das Gesicht, das Gehirn, die Füße und der künstliche Leib" gegliedert.

Wenn im Vorwort der Versuch unternommen wird, einen Überblick über die Problematik des Körpers in der Philosophie, so wie sie in dem vorliegenden Band gefasst ist, sowie auch eine philosophische Darstellung der Beziehungen zwischen Fragment und Ganzem zu schaffen, so verlieren die Autorinnen die Relationen dieser beiden Aspekte, wie auch das Konzept des "fragilen Körpers" völlig aus dem Blick. Die Heterogenität der Beiträge wird so zum Schwachpunkt des Bands, denn unterschiedliche Themen, wie die Darstellung der Wirklichkeit im Roman oder verschiedene Identitätsdiskurse, lassen sich keineswegs in dem Themenkomplex "Körper zwischen Fragmentierung und Ganzheitsanspruch" zusammenbringen. Auch wenn man die Überschrift des Bands "Der fragile Körper" als Metapher der menschlichen Körperlichkeit liest, vermisst der Leser - oft auch was die einzelnen Beiträge betrifft - relevante Thesen bzw. Fragestellungen und einheitliche Konzepte. Der Forschungsstand wird auf diese Weise kaum adäquat reflektiert.

Zu den Beiträgen, die sich gar nicht oder nur annährend mit der Problematik des Körpers zwischen Fragmentierung und Ganzheit beschäftigen, zählt der Beitrag Stefan Messmans (Budapest), der einen Überblick über die Geschichte der Fußbindung in China liefert. Ebenso zu nennen wäre der Beitrag Renato G. Mazzolinis (Trient), der sich mit der Symbolik der Hautfarben in der europäischen Wissenschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts befasst und dabei die Entstehung eines auf Hirarchie und ästhetische (Ab-)Wertung der Hautfarben basierenden rassistischen Diskurses untersucht. Den selben Eindruck erwecken die Beiträge von Elena Agazzi (Bergamo) und Raul Calzoni (Bergamo). Ersterer befasst sich mit den medialen Beziehungen zwischen Fotographie und zeitgenössischer deutscher Literatur unter dem Gesichtspunkt der Identitätsfragmentierung und "Verewigung des Ichs", ausgehend von den theoretischen Ansätzen der bekannten Arbeiten über Fotographie von Walter Benjamin und Roland Barthes. Unter dem Stichwort "Ergänzung als literarische Hermeneutik" ist Calzoni bemüht, die literarische Darstellung der Wirklichkeit bei Walter Kempowski zu interpretieren. Der Beitrag von Joachim Ringleben (Göttingen) untersucht die Problematik des "Leib Christi und die Sprachlichkeit der Welt" anhand einer detaillierten Analyse des ersten Paulinischen Korintherbriefes.

Einen der interessantesten Beiträge zum Band trug der Würzburger Literaturwissenschaftler Helmut Pfotenhauer bei. Unter dem Titel "Zerstückelung und phantasmatische Ganzheit. Grundmuster ästhetischer Argumentation in Klassizismus und Antiklassizismus um 1800 (Wickelmann, Moritz, Goethe, Jean Paul)" greift er das Thema des Körperbilds in ausgewählten Werken und Wissenschaftsbereichen um 1800 auf. Diskurse und Topoi der Kunstgeschichte, Ästhetik, Literatur und aus Goethes Morphologie werden herangezogen, um am Beispiel verschieder Interpretationen von Apollos Torso im Belvedere zu zeigen, wie der Klassizismus das Bild eines vollkommenen Körpers aus der Zerstückelung und Fragmentierung antiker Figuren entwirft.

So wird der Klassizismus als "der phantasmatische Triumph über die Hinfälligkeit der sinnlichen Welt, deren hermeneutische Wendung ins Übersinnliche" definiert. Wie man aber bei Moritz deutlich erkennt, ist "dieses Körperliche ein reiner Kunst-Körper, in dem allein das Zusammenstimmen der Teile zum Ganzen wichtig ist, der über jede Empirie, über alles Zeitliche sich erhoben hat." In Jean Pauls Romanen "Siebenkäs" und "Titan" kehrt das Fragmentarische und Kontingente zurück, zusammen mit dem Bewusstsein der Fragilität und Vergänglichkeit des menschlichen Körpers. Pfotenhauer sieht in den beiden Romanen einen Versuch Jean Pauls, "die Klassizisten noch klassizistisch zu überbieten. Er vereint so viele Merkmale des griechischen Geschmacks in ihnen, dass sie gleichsam auseinanderfallen, ins Gestaltlos-Unanschauliche umkippen."


Titelbild

Elena Agazzi / Eva Kocziszky (Hg.): Der fragile Körper. Zwischen Fragmentierung und Ganzheitsanspruch.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005.
309 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3899712099

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