Kein Respekt vor Thomas Mann

Hedwig Pringsheims Briefe an Maximilian Harden

Von Almut VierhufeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Almut Vierhufe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie wolle "dem Schwiegertommy nicht ins Handwerk pfuschen", schreibt Hedwig Pringsheim am 2. August 1912 an Maximilian Harden, nachdem sie ihm knapp und lebendig das Kurleben und die Atmosphäre im Waldsanatorium Davos geschildert hat. Hedwig Pringsheim besuchte dort ihre Tochter Katia, seit Februar 1905 Ehefrau von Thomas Mann. Leichte persönliche, später auch weltanschaulisch-politische Kontroversen zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn lassen sich - direkt formuliert oder humorvoll camoufliert - immer wieder in ihren Briefen an den Berliner Freund Harden herauslesen: "[...] Katia machte einen behaglich-zufriedenen Eindruck. Mir würde Tommy so, blos nur ab und zu ganz freundlich mit ihm zu verkehren, ganz wol zusagen. Aber als Ehemann - - -! nun, er ist ja gottlob nicht meiner." (6.7.1906)

Solche Äußerungen der Schwiegermutter des berühmten "Dichterfürsten" (so nannte Alfred Pringsheim seinen Schwiegersohn) über ihre "Manns" werden gern zitiert und hervorgehoben, um Interesse für die Pringsheims zu wecken - eine Familie, von der auch Thomas Mann trotz aller Differenzen gestand, sie sei "Tiergarten mit echter Kultur". "Tiergarten" - das ist das großbürgerliche Berlin W.(est) des späten 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts, mit der in den zahlreichen zeitgenössischen Berlin-Romanen so anschaulich beschriebenen Atmosphäre eines regen, modernen und oft äußerst skandalträchtigen Kunst- und Literaturbetriebs, an dem Hedwig Pringsheim auch schon vor der Bekanntschaft mit ihren "Manns" in ihrem fortschrittlichen und aufgeschlossenen Elternhaus regen Anteil nahm. Hedwig Pringsheim hat auch ohne die "Tommys" genug vorzuweisen: Das zeigen bereits Inge und Walter Jens in ihrer Biografie "Katias Mutter" (2005).

141 Briefe schrieb Hedwig Pringsheim (1855-1942) in 22 Jahren an Maximilian Harden (1861-1927), den Berliner Schriftsteller und Publizisten, der 1892 die politische Wochenschrift "Die Zukunft" gegründet hatte, deren Inhalt er - ähnlich wie Karl Kraus in der "Fackel" - (fast) allein bestritt. Als Bismarckverehrer wurde der zunächst noch monarchistisch gesinnte Harden zunehmend zu einem scharfen Kritiker Wilhelms II. Dessen engstes Beraterumfeld bezichtigte er in provokanten Artikeln in der "Zukunft" der Homosexualität und des Meineids und löste dadurch drei "Skandalprozesse" (1906-1909) aus, die in ganz Deutschland großes Aufsehen erregten. Harden, der bis in den Ersten Weltkrieg hinein keineswegs liberale oder sozialdemokratische Tendenzen hatte, verurteilte während des Krieges jedoch immer mehr den Nationalismus, Imperialismus und die deutsche Kriegspropaganda. "Die Zukunft" wurde mehrere Male verboten und konfisziert, bevor Harden ihr Erscheinen auch wegen zunehmender politischer und antisemitischer Bedrohungen und Hetzen 1922 einstellte.

Auf April 1922 ist auch der letzte Brief Hedwig Pringsheims an Harden datiert - die Korrespondenz endet abrupt. Anlass für den Abbruch, so vermuten die Herausgeber Helga und Manfred Neumann, sei ein unmissverständlich feindseliger Brief Thomas Manns zu Hardens 60. Geburtstag gewesen. Doch über die Ursache lässt sich nur spekulieren: Die Gegenbriefe Hardens sind nicht überliefert. Doch ermöglichen die tagebuchartigen Ausführungen Pringsheims zum Teil eine Rekonstruktion des Inhalts und des Tenors von Hardens Briefen, soweit sie sich auf konkrete Ereignisse beziehen.

Tatsächlich kommen auch diejenigen, die vor allem an privaten Einblicken in das Leben der "Tommys" aus der Sicht der "Schwiegermama" interessiert sind, auf ihre Kosten: "Schlimme Weihnachten" hatte die Familie Pringsheim 1905 wegen der Auseinandersetzungen über Thomas Manns Novelle "Wälsungenblut", deren Veröffentlichung er schließlich aus Rücksicht auf die Familie zurückzog. Freimütig berichtet Hedwig Pringsheim über die zunehmenden Differenzen zwischen Thomas und Heinrich, über die - nicht geteilten - politischen Ansichten des Schwiegersohns und die "Betrachtungen eines Unpolitischen" ("das leidige Bekenntnisbuch"). "Die innere und äußere Gegnerschaft der beiden Brüder nimmt nachgerade pathologischen Charakter an. Als ob die Welt nicht wichtigere Probleme böte in diesem Augenblick.", schreibt sie am 4. November 1916. Glanz und Ruhm von Thomas' Karriere lassen sie unbeeindruckt. Die unvermeidlichen Einschränkungen, die auch ein großbürgerlicher Haushalt während des Krieges erdulden muss, ließen Katja, so ihre Mutter, "fast zugrunde" gehen: "Einen Säugling stillen, keine Köchin haben und mit einem Dichter verheiratet sein - es ist wirklich ein bischen viel auf einmal für solch ein zartes Wesen."

Doch diese Bemerkungen über die Familie Mann sind marginal und rechtfertigen den plakativen Titel "Meine Manns", den die Herausgeber der Briefausgabe geben, nicht. Die Themen der Briefe sind vielfältig und beschränken sich keineswegs auf familiäre Ereignisse im Hause Thomas Mann. Im Gegenteil: Hedwig Pringsheim schreibt über die alltäglichen Sorgen und Probleme in ihrer eigenen Familie, besonders über ihre Trauer um den 1909 unter rätselhaften Umständen in Argentinien verstorbenen Lieblingssohn Erik. Sie erzählt Anekdoten über gemeinsame Bekannte, urteilt über die Qualität von Theatervorstellungen und Vorträgen, vereinzelt auch über die ihrer eigenen Lektüre, aber auch Klatsch und Tratsch aus der großbürgerlichen Gesellschaft Münchens und Berlins werden detailliert notiert. Ein Schwerpunkt sind jedoch - und das macht den historischen Informationswert dieser Briefe aus - die Anmerkungen zu politischen Ereignissen und den jeweils dazu verfassten aktuellen Artikeln Hardens in der "Zukunft". In fast jedem Brief kommentiert sie Hardens Darstellung von Politik und Zeitgeist. Die politische Richtung der "Zukunft" ist für sie weniger meinungsbildend als meinungsbestätigend - sie teilen nicht nur politische, sondern auch kulturelle Einschätzungen.

Die Briefe zwischen 1914 und 1918 geraten mit all ihren historisch bedeutsamen Details zu zivilen "Stellungsberichten" aus München, die mit denjenigen aus Berlin verglichen werden, und enthalten scharfe Bemerkungen über Wilhelm II., den verhassten Krieg und Deutschlands politische "Verlogenheit", über die geknebelte Presse und die willkürlich ausgeübte Zensur, von der auch Hardens "Zukunft" nicht verschont blieb. Pringsheim ist sich der Brisanz ihrer Äußerungen bewusst. In der Familie weitgehend mit ihren kritischen Ansichten isoliert, ist sie sich jedoch Hardens Einverständnis gewiss. Analytisch sind Pringsheims Kommentare zu Hardens Artikeln jedoch nicht. Fast in jedem Brief überschwänglich lobend, stimmt sie seiner Argumentation stets uneingeschränkt zu. Somit fehlen inhaltliche Kriterien, die eine wirklich tiefe und auch kritische Auseinandersetzung mit Hardens Arbeit verrieten. Dadurch ist, bei allen interessanten und wichtigen alltagsgeschichtlichen Details aus der Kaiserzeit und dem Ersten Weltkrieg, der historische Nutzen der Briefe begrenzt.

Erfrischend ist Hedwig Pringsheims Stil. Leicht und ungezwungen, mit einer für ihre Zeit fast "unerhörten" Offenheit plaudert sie auch über delikate Themen, ohne sich jemals im Ton zu vergreifen. Perfekt beherrscht sie alle Stilregister: So liebenswürdig sie gegenüber Harden ist, so böse und bissig werden Feinde attackiert, zu denen in erster Linie - ganz dem Klischee entsprechend - ihre Schwiegertöchter gehören. Ihre Anekdoten sind stets mit einer gehörigen Portion Humor und (Selbst-)Ironie gewürzt, und auch um deutliche und ehrliche Worte ist sie nicht verlegen: "Sie können doch, mein Freund, sehr eklich werden; was ich, nebenbeigesagt, für eines der unveräußerlichen Menschenrechte eines Jeden halte."

Ihre "Berliner Schnauze" unterstützt den saloppen Stil, "Codeswitching" zwischen Dialekt und Standardsprache gelingt ihr glaubwürdig und mühelos. Mit zahlreichen Berolinismen und Jiddismen kann sie nicht nur Anekdoten und Witze milieugetreu wiedergeben, sondern so manche schwierige Situation im Briefwechsel entschärfen. Denn das Problem des Ungleichgewichts zwischen den Briefpartnern bleibt dem Leser nicht verborgen. Hedwig Pringsheim befürchtet stets, Harden könne sie "über die Mauer werfen", also kein Interesse mehr an einem brieflichen Austausch mit ihr haben, und in allen Briefen ist eine, wenn auch selbstironisch überspielte Melancholie, vor allem aber eine große geistig-seelische Einsamkeit spürbar: "Madame Abseits" nennt sich Hedwig Pringsheim selbst.

Für die Anmerkungen zu den Briefen wäre etwas mehr detektivischer Spürsinn seitens der Herausgeber nötig gewesen. Zwar sind die wichtigsten Personen, Ereignisse und Artikel der "Zukunft", auf die Pringsheim rekurriert, genannt und erläutert, die Bedeutung von etwas hintergründigen oder doppeldeutigen Anspielungen, die den Briefen Esprit und Witz verleihen, sucht man jedoch vergebens: So entrüstet sich Pringsheim gleich in einem ihrer ersten Briefe über Hardens sogenannte "Spezial.Kur" mit dem Hinweis auf einen Artikel in "Der Tag". Die Stelle und somit der ganze Brief bleiben kryptisch, in den Erläuterungen findet sich keine Erklärung. Es ist jedoch offensichtlich, dass mit diesem Wort ein Kritiker Hardens süffisant auf dessen Haftstrafe wegen Majestätsbeleidigung anspielt, wie aus dem Kontext geschlossen werden kann. Für biografische Daten des "selige[n] Julius Grosser" (und anderer exponierter Persönlichkeiten dieser so gut erforschten und dokumentierten Zeit), der in den Anmerkungen als "nicht ermittelt" ausgegeben wird, braucht man keine bio-bibliografischen Sonderwerke zu bemühen. Und warum wird "Eidam" erklärt ('Schwiegersohn'), das im gleichen Brief vorkommende Wort "Schnur" ('Schwiegertochter') jedoch nicht? Dadurch werden hier wie auch an anderen Stellen Wortspiele nicht erkennnbar.

Im Anhang sind fünf von den insgesamt elf von Hedwig Pringsheims zwischen 1929 und 1932 in der "Vossischen Zeitung" veröffentlichten autobiografischen Feuilletons abgedruckt, in denen sie unter anderem von den beliebten "Montag-Abenden" in ihrem Elternhaus berichtet, an denen sich "Berühmtheiten" und die "Mitläufer", die "Nichts-als-Reichen aus Berlin W" trafen und neben der Diskussion über kulturelle Ereignisse auch dem Austausch des neuesten Klatsches und Tratsches des gründerzeitlichen Berlins frönten. In diesen Feuilletons brilliert Hedwig Pringsheim noch mehr als in ihren Harden-Briefen mit witzigen, doch scharf gezeichneten Porträts damaliger Prominenter (die das Personenregister des Bandes leider nicht erschließt) mit kaiserzeitlichen "Sittengemälden" und mit Einblicken in Kurioses und Skurriles im Haushalt der Familie Dohm. Auch hier lässt ihr Stil trotz seiner Geschliffenheit die bekannte Berliner Schlagfertigkeit erkennen, die auch die Briefe an Harden charakterisiert. Das ist kurzweiliger, amüsanter und informativer Lesegenuss, das ist wirklich "Tiergarten mit echter Kultur."


Titelbild

Hedwig Pringsheim: Meine Manns. Briefe an Maximilian Harden.
Herausgegeben von Helga und Manfred Neumann.
Aufbau Verlag, Berlin 2006.
381 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-10: 3351030754

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