Kimono und Perspektive: alles exotisch

Ein opulenter Bild- und Textband erzählt von den Verflechtungen zwischen Tokyo und Berlin

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kurt Schwitters oder Masahisa Kawabe? Raoul Hausmann oder Tomoyoshi Murayama? Wenn da nicht die japanischen Schriftzeichen wären, könnte man es nicht auseinanderhalten: die Titelblätter der Zeitschriften "Der DADA" und "Mavo" sehen sich so ähnlich wie ein Ei dem anderen. Nur dass die japanische Zeitschrift ein paar Jahre später rauskam: Kein Zweifel, Hausmann hatte Einfluss auf die Kultur der Welt. Aber gerade Japan?

Natürlich weiß man, dass es immer schon Befruchtungen und Beeinflussungen zwischen Japan und Deutschland gegeben hat, auch direkte Anlehnungen, die man selbst bei viel Wohlwollen eher als Diebstahl bezeichnen könnte. Nicht zufällig ist die Iwakura-Mission 1873 nach der zwangsweisen Öffnung Japans 1854 nach Berlin, in die preußische Hauptstadt, gefahren. Medizin, Militär, Naturwissenschaft, Verwaltungswesen, Eisenbahn: Das alles haben die Japaner sich in Deutschland angeeignet und es in nur wenigen Jahrzehnten nach Japan transportiert und in ihre Kultur integriert.

Auch in den Künsten gab es regen Austausch, etwas später. Davon erzählen jetzt ausführlich eine Ausstellung und ein opulenter Katalog. Vor allem die Franzosen entdeckten schon früh den Farbholzschnitt der Japaner und erfanden danach den Impressionismus und Expressionismus. Die Japaner entdeckten dafür die Ölmalerei und die Perspektive. Auch die Künstlergemeinschaft "Die Brücke" fühlte die exotische Ausstrahlung Japans und staunte, lernte und malte: Kirchners Gemälde "Japanisches Theater" zeigt einen flammenden Vorhang, Japanerinnen in glänzenden Kimonos, ein halb flächiges, halb traditionelles Bild einer neuen, exotischen Bühnenkunst; Emil Nolde malte ein Stillleben mit einer Kuh, einer japanischen Figur und einem seltsamen Kopf, zeichnete und aquarellierte japanische Frauen und Schauspieler. Es war alles ganz ausländisch, fremd, befremdend und anders. Ein schöner Anstoß für eine neue Kunst, für flächiges Malen, für einen anderen Geist. Bis heute wirkt die japanische Ästhetik auf ganz unterschiedliche Weise auf die Moderne, die klaren Linien, die räumliche Tiefe, die nicht durch Farbe, sondern durch das Nichts, das Weglassen erreicht wird. Oder der mystische Geist, die unbedingte Konzentration, die Versenkung, die in anderen japanischen Künsten gelehrt wird.

Aber auch Japan lernte. 1913 reisten zwei Japaner, die in Berlin studiert hatten, in ihr Land zurück: Kosaku Yamada, der spätere Komponist und Dirigent des japanischen Sinfonieorchesters, und Kazo Saito, der Gründer der Fachschule für Design in Tokyo. In ihrem Gepäck befanden sich 150 Grafiken, die ihnen Herwarth Walden, der Gründer der epochalen Kunstzeitschrift "Der Sturm" anvertraut hatte, um eine Ausstellung zu organisieren. Im März 1914 stellten sie 70 Arbeiten von 26 Künstlern aus: Heckel, Kirchner, Kokoschka, Léger und viele andere. Es war die erste Ausstellung in Japan mit Originalwerken europäischer Avantgarde-Künstler überhaupt. Bisher kannte man sie nur durch Drucke in Zeitschriften. Viele japanische Avantgardisten lernten von ihnen, Gyo Fumon lehnte sich an Marc und Boccioni an, Koshio Onchi an Marcs Holzschnitte "Der Stier und Tiger" und "Die Versöhnung".

Ein wunderbar vielseitiger, aufschlussreicher, kluger, bunter, aufregender Katalog erzählt von den vielfältigen Kontakten zwischen den Künstlern in diesen beiden Hauptstädten Tokyo und Berlin. Von den ersten Übernahmen um 1901: In diesem Jahr schuf Rinsaku Akamatsu sein Bild "Eisenbahnwagen bei Nacht", ein sehr subjektives, mit Licht spielendes, verräuchertes Ölbild, und Max Slevogt skizzierte die berühmte japanische Tänzerin Sada Yakko in hingetuschten Impressionen vor leerem Hintergrund. Es folgen zum Beispiel die Architekten Bruno Taut und Mamoru Yamada, die in den 1910er und -20er Jahren neue Bauten schufen, die Surrealisten Kakuzo Namba und Hans Grundig, es geht bis zur Fluxus- und Videokunstzeit von Joseph Beuys und Tetsumi Kudo und der Manga-Kunst von Makoto Aida und den digitalen Innenansichten von Corinne Wasmuht der Gegenwart.

Der Katalog zur Ausstellung in (natürlich) Berlin zeigt die vielfältigen Verflechtungen, beschreibt kenntnisreich die Befruchtungen zwischen zwei Ländern in allen Bereichen, nicht nur der Bildenden Kunst, sondern auch in der Literatur, der Musik, dem Theater und dem Tanz. Das Buch ist aber nicht nur eine tiefschürfende und sehr flüssig geschriebene historische, kunsthistorische und kunstwissenschaftliche Untersuchung, die eine Unzahl von Fakten aufzeigt, die dem Laien kaum bekannt sein dürften. Es ist auch ein Augenschmaus. Mit knapp 350 Abbildungen, davon 243 farbigen, mit vielen historischen Fotos (beispielsweise auch aus der "Sturm"-Ausstellung in Tokyo), Dokumenten aus der Dada- und der Fluxus-Zeit, und einer riesigen Zahl von Gemälden ist es auch eine augenfüllende Wunderkiste, eine augenöffnende Schatztruhe, ein Buch zum Blättern und Schwelgen, Nachschlagen und Staunen.

Nur eines fehlt: Das Buch hat leider kein Namensregister. Eigentlich geht das gar nicht bei so einem fast wissenschaftlichen Werk. Also bitte, die Herren Hatje und Cantz: Das nächste Mal ein bisschen Zeit dafür investieren. Oder können Sie mir ad hoc sagen, ob Kitasono Katue erwähnt wird?


Titelbild

Angela Schneider: Berlin - Tokyo/ Tokyo - Berlin. Die Kunst zweier Städte.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2006.
352 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-10: 3775718044

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