Emotional Turn?
Beobachtungen zur Gefühlsforschung
Von Thomas Anz
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseLassen wir uns mal auf das Spiel ein, das in den Wissenschaften zur Profilierung eigener Positionen mit großem Ernst betrieben wird. Wo man früher wissenschaftliche Umorientierungen oder gar Revolutionen im Anschluss an den US-amerikanischen Wissenschaftstheoretiker und -historiker Thomas S. Kuhn als "Paradigmawechsel" bezeichnete, dominiert heute ein anderer Begriff. Man spricht lieber von "Turns" und bedient sich dabei einer räumlichen Metapher: Wissenschaften bewegen sich oder ihren Blick innerhalb eines imaginären Raumes in einer bestimmten Richtung und nehmen, mehr oder weniger plötzlich, einen Richtungswechsel vor. Die neue Richtung wird zu einem neuen Zentrum wissenschaftlicher Methoden, Interessen, Perspektiven und Problemlösungskonzepten, die alte wird, solange ihre Vertreter in den Richtungskämpfen der Wissenschaft noch nicht gestorben sind, peripher.
Paradigma für die mittlerweile inflationäre und zuweilen schon komisch oder modisch wirkende Rede von wissenschaftlichen Turns war "The Linguistic Turn", wie der Titel eines von Richard Rorty 1967 herausgegebenen Sammelbandes lautete, der an der Verbreitung dieser Wendung maßgeblichen Anteil hatte. Ihm sind mittlerweile zahlreiche andere "Turns" gefolgt.
Die Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick, bekannt geworden unter anderem durch ihr dem Linguistic Turn verbundenen Sammelband "Kultur als Text", hat 2006 ein neues Buch mit dem Titel "Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften" vorgelegt. Neben Kapiteln über den Interpretive Turn, Performative Turn, Reflexive Turn/Literary Turn, Postcolonial Turn, Translational Turn und Iconic Turn steht eines über den Spatial Turn (auch Topographical oder Topological Turn genannt), an dem die räumliche Metapher "Turn" selbst partizipiert. Am Rande geht Bachmann-Medick auch auf den Mnemonic Turn, Narrative Turn, (Neuro-)biological Turn und viele andere ein. Kandidaten für zukünftige Wenden in den Wissenschaften sind bereits in Sichtweite, darunter der Auditive Turn.
Warum kein Emotional Turn? Der ist zumindest in der Psychologie namentlich schon seit den 1980er-Jahren belegt. 1980 trat Klaus R. Scherer mit dem Appell "Wider die Vernachlässigung der Emotion in der Psychologie" vor den Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Unter Berufung auf ihn konstatierte 1983 das von Harald A. Euler und Heinz Mandl herausgegebene Handbuch "Emotionspsychologie" ausdrücklich eine "Emotionale Wende" in verschiedenen Kulturbereichen. In der aktualisierten und erheblich erweiterten Neuauflage des Handbuchs von 2000 ist von dieser Wende nicht mehr die Rede - wohl weil es sich inzwischen um ein etabliertes und nicht mehr neues Forschungsfeld der Psychologie handelt.
Nach allen Kriterien, die Bachmann-Medick für das Vorliegen eines wissenschaftlichen "Turns" anführt, erscheint die Rede von einem Emotional Turn jedoch gegenwärtig vollkommen gerechtfertigt. Im Unterschied zu Kuhns Begriff des wissenschaftlichen Paradigmas, so erklärt die Kulturwissenschaftlerin, ist ein wissenschaftlicher "Turn" dadurch gekennzeichnet, dass er nicht eine fundamentale und revolutionäre Umorientierung in einer einzelnen Disziplin vollzieht, sondern eine neue Perspektive anbietet, die verschiedene Wissenschaften übergreift und bereits vorhandene Perspektiven einer Einzeldisziplin ergänzt oder verstärkt. "Turn" meint nicht eine Wende zum Beispiel der Literaturwissenschaft, sondern - bescheidener - in der Literaturwissenschaft. Und diese Wende macht sich nicht nur in der Literaturwissenschaft, sondern zugleich auch in anderen Wissenschaften bemerkbar. Im Unterschied zum "Paradigma" nach der Konzeption Kuhns löst ein neuer "Turn" einen anderen, älteren nicht ab, sondern wird zum Bestandteil eines Kräftefeldes (im Sinne Pierre Bourdieus), in dem viele Turns miteinander um Dominanz konkurrieren, kooperieren und sich durch diverse Strategien gegenseitiger Abgrenzung zu profilieren versuchen.
Im März 1999 erschien in literaturkritik.de ein "Plädoyer für eine kulturwissenschaftliche Emotionsforschung". Ihm folgten mehrere Schwerpunktthemen und viele Artikel, die sich mit Neuerscheinungen zur Emotionsforschung auseinandersetzten (unter anderem in Nr. 3/2000 und in Nr. 1/2001). Wenn literaturkritik.de sich die Gefühlsforschung im Dezember 2006 erneut zum Schwerpunkt macht, geschieht dies zu einem Zeitpunkt, in dem Plädoyers dafür nicht mehr gehalten werden müssen. Das Forschungsfeld ist etabliert, der "Turn" vollzogen. Von einem Turn könne man erst sprechen, gibt Bachmann-Medick zu bedenken, wenn die Entdeckung und Freilegung neuer Gegenstandsbereiche in mehreren Disziplinen zu einem Umschlag auf der "Ebene von Analysekategorien und Konzepten" führt. Auch dieser Umschlag ist mittlerweile erfolgt.
In welchem Ausmaß die Emotionsforschung etabliert ist, das zeigen nicht zuletzt die zahllosen Einführungen, Forschungsprojekte, Exzellenzanträge, Dissertationen, Habilitationen und Symposien zu dem Thema in den letzten Jahren sowie die Spannbreite der daran beteiligten Disziplinen. Einen der vielen Symposiumsbände zu dem Thema eröffnen die Herausgeber Achim Stephan, Professor am Institut für Kognitionswissenschaft an der Universität Osnabrück, und der Oberarzt Henrik Walter, Leiter einer Neuroimaging-Arbeitsgruppe an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm, mit den Worten: "Die vergangenen zehn Jahre wurden wiederholt als die 'Dekade des Gehirns' bezeichnet. Man könnte sie aber auch 'Dekade der Emotionen' nennen, denn nie zuvor spielten Emotionen gleichzeitig in so verschiedenen Bereichen wie Philosophie, Psychologie, Medizin sowie den Neuro- und Kognitionswissenschaften eine derart wichtige Rolle." Noch bis Mitte der neunziger Jahre hätten Emotionen in den genannten Disziplinen eher ein Schattendasein geführt.
Ein noch gewichtigerer Kongressband zu dem Thema kommt primär aus kunst- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen: "Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten", herausgegeben von den Kunsthistorikern Klaus Herding und Bernhard Stumpfhaus und inauguriert durch das Frankfurter Graduiertenkolleg "Psychische Energien bildender Kunst". In Wissenschaft, Kunst, Philosophie und diversen Ausprägungen der Massenkultur zugleich erfreuen sich Bekenntnisse zu Emotionen auffälliger Beliebtheit. Während an der Freien Universität Berlin unter der Federführung von Winfried Menninghaus, dem eine maßgebliche Abhandlung über die Ästhetik des Ekels zu verdanken ist, der Antrag auf ein "Exzellenzcluster" mit dem Titel "Languages of Emotion" vorbereitet wurde, eine "Junge Akademie der Gefühle" ihre Erträge in beachtenswerten Büchern mit den Titeln "Emotionales Gesetzbuch" (EGB) und "Mediale Gefühle" vorlegte, Peter Sloterdijk unter dem Titel "Zorn und Zeit" polemisch dem "erotologisch halbierten Menschenbild" einer angeblich weinerlich-femininen Psychoanalyse eine männlichen Erhabenheitsgefühlen angemessene "Psychologie des Eigenwertbewusstseins und der Selbstbehauptungskräfte" entgegensetzte, kreierte man zur Eröffnung der WM eine spektakuläre Fußballbilderprojektion auf die Fassaden der Frankfurter Hochhaustürme unter dem Motto "United Emotions" und produzierte der Zeitschriftenverlag Gruner + Jahr die erste Nummer seines Magazins "emotion".
Die bewegten Bilder des Films galten schon immer als hochgradig emotionalisierend. Die deutsche Filmwissenschaft beginnt das Phänomen jedoch anscheinend erst jetzt für sich zu entdecken. "Keine andere Kunstform produziert so intensive und vielfältige Gefühlsreaktionen wie das Kino. Gleichwohl ist das Gefühlsleben der Zuschauerinnen und Zuschauer erst seit kurzem ein zentrales Thema für die filmwissenschaftliche Theoriebildung." Mit diesem Befund leiten Margrit Tröhler und Vinzenz Hediger den 2005 erschienenen Band "Kinogefühle. Emotionalität und Film" ein. Zumindest einen Hinweis hätte da die bereits vor zwanzig Jahren erschienene und 2002 unter dem Titel "Kino spüren. Strategien der emotionalen Filmgestaltungen" neu aufgelegte Dissertation des Wiener Mediendramaturgen Christian Mikunda verdient. Schon hier werden Analysen filmischer Techniken mit Rückgriffen auf emotionspsychologische Einsichten kombiniert, wie es auch der in Amsterdam lehrende Medienwissenschaftler Ed Tan tut. Dessen für die jüngere filmwissenschaftliche Emotionsforschung maßgebliche Monographie "Emotions and the Structure of Narrative Film: Film as an Emotion Machine" erschien 1996. An dem Band "Kinogefühle" ist Tan mit einem Beitrag über "Gesichtsausdruck und Emotion in Comic und Film" beteiligt.
Wo ein Thema so vielfältige Zuwendung erfährt, lassen entsprechende "Einführungen" nicht lange auf sich warten. Thomas Hülshoffs bewährtes Lehrbuch von 1999 erschien 2006 in dritter Auflage. Die Wissenschaftsjournalistin Claudia Wassermann legte 2002 unter dem Titel "Die Macht der Emotionen" einen so gut informierten wie geschriebenen Überblick zur Entwicklung der Emotionsforschung vor, der Frankfurter Philosoph Martin Hartmann 2004 die kompakte und instruktive Einführung "Gefühle. Wie die Wissenschaften sie erklären". Eine Art Einführung ist auch die "Begriffliche Arbeit am Gefühl" (so der Untertitel), die der Psychologe Alexander Kochinka 2004 publizierte, mit Klärungen zu den Differenzen zwischen einfachen und komplexen, beherrschten und unverfügbaren, angenehmen und unangenehmen, privaten und öffentlichen Gefühlen, zwischen Emotionen, Empfindungen oder Stimmungen. Auf dieser begriffsanalytischen Basis unterzieht Kochinka die altmeisterlichen Emotionstheorien von Charles Darwin, Wilhelm Wundt und William James einer neuen Lektüre und vergleicht Positionen jüngerer Emotionsforschung.
"Einfühlung": Zur Rehabilitation eines missachteten Begriffs
Bei aller Heterogenität der Theorien, Fragestellungen und Methoden ist man sich in den Beiträgen zur Emotionsforschung über eines einigermaßen einig: Sie lässt sich angemessen nur als interdisziplinäres Projekt betreiben. Und wo man damit begonnen hat, kommt es zwischen ganz unterschiedlichen Wissenschaften zu erstaunlichen Koalitionen und gegenseitigen Bereicherungen. Die in Santa Barbara lehrenden Emotionsforscher und Pioniere "Evolutionärer Psychologie" John Tooby und Leda Cosmides beispielsweise entdecken in ihrer aus evolutionsbiologischen und kognitionswissenschaftlichen Bausteinen errichteten Theoriearchitektur den "organisierenden Effekt" des Erzählens für unsere "neurokognitiven Adaptionen". Oder der Frankfurter Psychoanalytiker Tilmann Habermas bedient sich in seinen Forschungen über die emotionalen Wirkungen von Geschichten, die Patienten ihren Analytikern erzählen, der Begriffe und Einsichten literaturwissenschaftlicher Narratologie. Literaturwissenschaftliche Emotionsforscher und Narratologen wiederum erproben das analytische Potenzial der Evolutionsbiologie, der Neurowissenschaften und der Kognitionspsychologie.
Zu einem bemerkenswerten Forum für solche Versuche hat sich innerhalb weniger Jahre die von Karl Eibl, Manfred Engel und Rüdiger Zymner herausgegebene Buchreihe "Poetogenesis" mit dem Untertitel "Studien und Texte zur empirischen Anthropologie der Literatur" etabliert. In einem 2006 erschienenen Band der Reihe, herausgegeben von Uta Klein, Katja Mellmann und Steffanie Metzger, ist der zitierte Aufsatz von Tooby und Cosmides in deutscher Übersetzung abgedruckt. Zum etwas paradoxen Design vieler Beiträge in der Reihe gehört es, dass sie zwar in deutscher Sprache, also für ein deutschsprachiges Publikum geschrieben sind, sich jedoch lieber auf englischsprachige Forschung als auf deutschsprachige beziehen und diese auch besser zu kennen scheinen. Im Kontrast dazu stehen antikisierende Titelbegriffe wie "Poetogenesis" oder "Animal Poeta". Kennzeichnend für die Inhalte der Reihe ist denn auch, dass sie mit betont modernem Wissenschaftsanspruch alte, zuweilen uralte Begriffe der Rhetorik, Poetik, Ästhetik oder Hermeneutik einer Revision aus "disziplinexternen Perspektiven auf Literatur" unterzieht, wie es im Untertitel des Bandes "Heuristiken der Literaturwissenschaft" heißt. Es geht in den Bänden erneut um die kathartische Wirkung von Tragödien, um das Weinen oder um das Lachen beim Lesen, um Nachahmung und Schönheit, um Fiktionalität, Fantasie und Traum, um 'Naturformen' literarischer Gattungen, um Vers und Reim, um das Erzählen oder um literarische Figuren. Nicht selten passiert es in diesem Forschungsmilieu, dass antiquiert wirkende Begriffe, Problemfelder und Vorstellungen 'traditioneller' Literatur- und Kunstwissenschaften plötzlich in einem neuen Licht erscheinen. Die von Fotis Jannidis vorgelegte Skizze einer "Analytischen Hermeneutik", die sogar die zum Gespött gewordene und als Karikatur hermeneutischer Sinnsuche fungierende Frage "Was wollte der Autor uns damit sagen?" partiell rehabilitiert, macht diesen Effekt zum Programm. Ihm entspricht die gleichsam als Motto zitierte Sentenz Lichtenbergs: "Es ist ein großer Unterschied zwischen etwas noch glauben und es wieder glauben. Noch glauben, daß der Mond auf die Pflanzen würke, verrät Dummheit, aber es wieder glauben zeigt [sic!] von Philosophie und Nachdenken."
Zu einem neuen Beispiel für die Wiederbelebung des Glaubens an einen in der neueren Literaturwissenschaft als hoffnungslos antiquiert geltenden Begriff könnte "Einfühlung" werden. Die professionelle Art zu lesen, die sich Literaturwissenschaftler zu eigen gemacht haben, verweigert sich tendenziell identifikatorischer und empathetischer Lektüre. Und diese Verweigerung hat dazu geführt, dass Identifikation und Empathie als Bestandteile literarischer Kommunikation von ihnen auch als Untersuchungsgegenstand wenig beachtet wurden. Dazu hat die in der Literaturwissenschaft jahrzehntelange Diskreditierung des deutschen Wortes "Einfühlung" beigetragen. Um 1900 war "Einfühlung" in den avancierten Ästhetik-, Literatur- und Kunsttheorien noch eine fundamentale, mit hohem Prestige besetzte Kategorie. Georg Braungart hat die "Einfühlungsästhetik" in seiner Habilitationsschrift "Leibhafter Sinn" (1995) als das damals "meistdiskutierte Modell der Ästhetik" wiederentdeckt und an den Schriften des seinerzeit renommierten, doch heute (zu Unrecht) fast vergessenen Ästhetikers und Spiel-Theoretikers Karl Groos exemplarisch rekonstruiert. Simone Winkos für die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung grundlegende Habilitationsschrift "Kodierte Gefühle" über Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900 befasst sich im Kapitel über die "Einfühlungsästhetik" von Theodor Lipps und Johannes Volkelt mit dem Problemfeld. Seit den 'neusachlichen' 1920er-Jahren gerieten der Begriff "Einfühlung" und die mit ihm bezeichneten Formen der Wahrnehmung in avancierten Kunstprogrammen und kunstwissenschaftlichen Theorien nachhaltig in Misskredit, konnten sich aber im Umkreis geisteswissenschaftlicher Traditionen bis in die 1960er-Jahre hinein behaupten. Während "Einfühlung" in der Literaturwissenschaft danach allenfalls als Phänomen eines unprofessionellen Umgangs mit Kunst akzeptiert, doch als bloß intuitive und methodisch unkontrollierbare Erkenntnisleistung aus dem Terrain wissenschaftlicher Rationalität ausgeschlossen wurde, war jener Neologismus, mit dem der amerikanische Psychologe E. B. Titchener das deutsche Wort 1909 ins Englische übertrug ("empathy"), in der Psychologie und in den Sozialwissenschaften fest etabliert.
Der in den 1870er-Jahren von Robert Vischer und seinem Vater Friedrich Theodor Vischer in die psychologische Ästhetik eingeführte Begriff "Einfühlung" meinte zunächst, wie sich in dem neuen, von Achim Trebeß herausgegebenen "Metzler Lexikon Ästhetik" nachlesen lässt, das Phänomen, dass die visuelle Wahrnehmung unbelebten Objekten Gefühle zuweisen kann und diese damit, ähnlich wie bei der Verwendung der rhetorischen Figur der Personifikation ("Die Weiden trauern."), gleichsam beseelt. In einem der jüngsten und innovativsten Beiträge zur literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung hat Katja Mellmann diesem Phänomen neue Aufmerksamkeit zugewendet (vgl. auch Mellmanns Beitrag in dieser Ausgabe von literaturkritik.de). Sie knüpft dabei an verhaltensbiologische Beobachtungen von Konrad Lorenz an, dass wir Naturobjekte häufig mit den gleichen mentalen Schemata wahrnehmen wie die physiognomischen Ausdrucksformen menschlicher Gefühle, also beispielsweise einen See lächeln sehen oder den Gewitterwolken Zorn zuschreiben. Dieser Wahrnehmungsmechanismus funktioniert, wie Mellmann vermutet, nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten, die den Attrappen-Versuchen in der Verhaltensforschung zugrunde liegen. "Attrappen" fungieren in solchen Versuchsanordnungen als künstliche Ersatzobjekte für natürliche Objekte. Mit Attrappen werden verhaltens- und emotionsauslösende Merkmalskonfigurationen von Reizquellen mit dem Ziel getestet, diejenigen Merkmale und Merkmalsschemata zu bestimmen, die für die Stimulation bestimmter Reaktionen konstitutiv sind. Auch Sprache und Literatur, die natürliche Reizquellen durch symbolische oder fiktive Repräsentationen ersetzen, lassen sich in diesem Sinne als Attrappen begreifen, die die gleichen Emotionen wie reale Reizkonfigurationen evozieren können. Wie Naturphänomene können Texte aufgrund isomorpher Merkmale von uns "beseelt" werden, indem wir ihnen Emotionen zuschreiben, die wiederum Emotionen in uns auslösen. Am Ende ihres Aufsatzes "Literatur als emotionale Attrappe. Eine evolutionspsychologische Lösung des 'paradox of fiction'" (in dem Band "Heuristiken der Literaturwissenschaft"), der wesentliche konzeptuelle Bestandteile ihrer in Kürze erscheinenden Dissertation über literarische Emotionalisierungsphänomene in der Literatur des 18. Jahrhunderts vorformuliert (vgl. die Informationen dazu in dieser Ausgabe), steht ein Hinweis auf die "inzwischen zu Recht verabschiedete" Einfühlungsästhetik. Der Aufsatz lässt sich jedoch durchaus als Aktualisierung und Ausbau der psychologischen Ästhetik aus der Zeit um 1900 lesen. Sogar die evolutionsbiologische Fundierung teilt er mit den einfühlungsästhetischen Theorien des Darwinisten Karl Groos.
In der Einfühlungsästhetik galt der "Akt der Seelenleihung" (F. Th. Vischer), von Johannes Volkelt als "intuitive Beseelung des Objects" umschrieben und später in der Psychologie als "Projektion" von eigenen Gefühlen auf andere(s) analysiert, zunächst primär als Bestandteil oder Bedingung der Produktion von Kunst. Erst später wurde er zur Beschreibung auch der Wahrnehmung von Kunst und schließlich der Wahrnehmung von Emotionen in anderen Menschen verwendet. In den 1990er-Jahren hat eine italienische Forschergruppe von Neurophysiologen eine nachhaltiges Aufsehen erregende Zufallsentdeckung gemacht. Erst kürzlich wieder, im Oktober-Heft 2006, berichtete die Zeitschrift "Gehirn & Geist" einer breiteren Öffentlichkeit von dieser Entdeckung und ihren Konsequenzen. In Parma hatten die Neurowissenschaftler Giacomo Rizzolatti, Vittorio Gallese und Leonardo Fogassi Experimente zur Bewegungsplanung im Säugetierhirn durchgeführt. Sie untersuchten im unteren Teil des prämotorischen Cortex, in dem Handlungen geplant und initiiert werden, die neuronalen Aktivitäten eines Äffchens, während es nach Nahrungsmitteln oder Spielzeug griff. In einer Untersuchungspause, in der das Gehirn des Äffchens jedoch weiter an das Messgerät angeschlossen blieb, griff Fogassi selbst nach einer Rosine. Das Äffchen beobachtete ihn dabei. Und dann ereignete sich etwas, was die Experimentatoren verblüffte: Das Messgerät zeigte zum Teil ganz ähnliche neuronale Aktivitäten an wie vorher, als das Äffchen den Arm nach den Rosinen ausgestreckt hatte. Es scheint also, so ließ sich aus wiederholten Beobachtungen dieses Phänomens schließen, im Gehirn Neuronen oder neuronale Netze zu geben, die in ihren eigenen Aktivitäten bei der Beobachtung von Verhaltensweisen anderer die Aktivitäten von Neuronen in fremden Gehirnen gleichsam nachahmen oder "spiegeln". Sie wurden daher "Spiegelneuronen" ("mirror neurons") genannt. Damit scheinen nicht zuletzt die neuronalen Entsprechungen von Empathie entdeckt worden zu sein (vgl. den Beitrag von Joachim Bauer in dieser Ausgabe von literaturkritik.de). Jedenfalls verschaffen die Veröffentlichungen über Spiegelneuronen der Empathie-Forschung zusätzliche Dignität. Vermutlich zeigen Spiegelneuronen sogar eine ähnliche Aktivität, wenn Verhaltensweisen anderer nicht beobachtet, sondern durch sprachliche Stimulationen imaginiert werden. Was jemand fühlt, wenn er eine geliebte Person unverhofft wiedersieht und sie umarmt, wenn er ein Szenerio beobachtet, in der dies einem anderen widerfährt, oder wenn er sich die gleiche Szene in der Fantasie ausmalt, weil sie ihm von jemandem erzählt wird, dürfte jeweils ähnlich sein. Welcher Erkenntnisgewinn damit erzielt wird, wenn solche Ähnlichkeit der Empfindungen neurologisch tatsächlich identifizierbar wären, sei dahingestellt. In der Literaturwissenschaft könnte jedenfalls das Prestige solcher naturwissenschaftlichen Bestätigungen von Empathie-Erfahrungen zu einer Rehabilitation des Begriffs "Einfühlung" führen. Differenzierende Überlegungen zu Phänomenen der Einfühlung wurden allerdings schon ohne den Rekurs auf Spiegelneuronen vorgenommen. So macht etwa Katja Mellmann am Beispiel von Angst geltend, dass in der Rezeption fiktionaler Texte oder Filme Emotionsprogramme aktiviert werden, die ohne von Emotionen in der Realität initiierte Verhaltenskonsequenzen ablaufen. Der bedrohte Protagonist eines Textes ergreift vielleicht die Flucht, Leser, die die Bedrohung mitempfinden, bleiben dennoch im Sessel sitzen. Simone Winko wiederum hat gezeigt, dass zu den von ihr untersuchten Codierungen von Gefühlen in der Literatur auch Signale gehören, die anzeigen, ob literarisch dargestellte Gefühle vom Rezipienten nur distanziert verstanden oder reflektiert nachvollzogen oder distanzlos übernommen werden sollen.
Literaturwissenschaftliche Emotionsforschung
In der Literaturwissenschaft trägt das zunehmende Interesse an der Emotionsforschung dem lange Zeit von ihr ignorierten Sachverhalt Rechnung, dass literarische Kommunikation in der Regel ein hochgradig emotionales Geschehen ist. In neueren Beiträgen zur literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung gleichen sich die Befunde zur Vernachlässigung von Emotionen in der eigenen Wissenschaft, wenn auch mit unterschiedlicher historischer Genauigkeit. In einer 2003 erschienenen Monografie über das "Pathos" als eine "vergessene Kategorie der Poetik" konstatiert Rainer Dachselt: "Seit der Antike galt als Hauptsache und wesentliche Qualität der Poesie die starke emotionale Wirkung, das Pathos. Die (natürlich vorhandenen) intellektuellen und ethischen Aspekte der Dichtung wurden meist nur betont, um sie gegen theologische und philosophische Angriffe zu verteidigen. Im 20. Jahrhundert dagegen hat sich der Akzent in Kritik, Poetik und Literaturwissenschaft eindeutig auf die intellektuellen, reflektierenden, nicht emotionalen Aspekte der Dichtung (und der Kunst im allgemeinen) verschoben." Das trifft allenfalls tendenziell zu. In den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts waren, wie gesagt, Begriffe wie 'Einfühlung', 'Erlebnis' und 'Pathos' (ein Schlüsselbegriff im Umkreis des Expressionismus) in Kunsttheorien und -programmen von zentraler Bedeutung. Im Namen einer 'Neuen Sachlichkeit' und jener "Verhaltenslehren der Kälte", wie sie Helmut Lethen beschrieben hat, verloren die Begriffe und die mit ihnen verbundenen Konzepte seit den 1920er-Jahren an Prestige.
In einer Literaturwissenschaft, die die emotionalen Anteile am Prozess literarischer Kommunikation nicht mehr ignoriert, sondern sie thematisiert oder sogar analysiert, folgt der Umgang mit diesen Anteilen divergierenden Tendenzen und hat bislang einige symptomatische Lücken hinterlassen. Denn sie tendiert entweder dazu, in ihrer philologisch versierten Fixierung auf Texte die Analyse von Emotionen realer Autoren und Leser auszuklammern, oder sie vernachlässigt in der Analyse dieser Emotionen die Analyse der Texte, durch die Emotionen ausgedrückt und hervorgerufen werden. Und zuweilen führt die Wiederentdeckung der emotionalen Anteile in der Rezeption von Kunst und Literatur auch dazu, wissenschaftliche Ansprüche bei ihrer Beschreibung zurückzuweisen.
Emotionsanalytische Defizite
In lebens- und existenzphilosophischen Traditionen werden emotionale Erfahrungen, deren kognitiver Gehalt inzwischen eigentlich in allen Varianten der Emotionsforschung beachtet wird, heute zum Teil immer noch gegen das Verstehen von Sinn ausgespielt. Ein jüngeres Beispiel dafür ist der in Hans Ulrich Gumbrechts Essay "Diesseits der Hermeneutik" emphatisch eingesetzter Begriff der 'Präsenz'. Er meint Formen unmittelbaren und intensiven Erlebens in der Rezeption von Kunst (oder bei der Wahrnehmung von Sportveranstaltungen). Emotionen entziehen sich nach solchen Konzepten, die sich der Emotionsforschung gegenüber ignorant verhalten, wissenschaftlichen Rationalitäts- und Intersubjektivitätsansprüchen. Worüber man nicht vernünftig sprechen oder schreiben kann, darüber sollte man demnach als Wissenschaftler schweigen. Oder sich, so eine Konsequenz von Gumbrecht (vgl. seine 2006 in der FAZ erschienenen Artikel über Stimmungen), allenfalls essayistisch äußern. Roland Barthes hatte schon in den 1970er-Jahren erklärt, die "Lust am Text" könne "sich niemals erklären". Über die Anarchie der Gefühle, über die Lust wie über den Schmerz, das Entsetzen oder den Ekel, so die in diesem Umkreis gängige Vorstellung, lässt sich nicht geordnet forschen. Dem entsprach bereits die existenzialistisch geprägte Literaturwissenschaft zwischen Kriegsende und den frühen 1960er-Jahren. Deren Versuche zu begreifen, was einen an literarischen Texten ergreift, artikulierte sich oft in einer literaturwissenschaftlichen Sprache, die bei ihren Lesern die gleiche emotionale Wirkung zu reproduzieren suchte, die von den untersuchten literarischen Texten evoziert wird. Nach Emil Staigers damals einflussreichem Programm einer "Kunst der Interpretation" (1956) ließ sich der literaturwissenschaftliche Umgang mit Dichtung nicht systematisch betreiben und erlernen. Er basierte vielmehr auf Begabung und einem "reichen und empfindsamen Herz." Rationalitätsstandards wurden in diesem antipsychologischen Konzept von Literaturwissenschaft zurückgewiesen: "Das Kriterium des Gefühls", erklärte Staiger, "wird auch das Kriterium der Wissenschaftlichkeit sein".
Textanalytische Defizite
Mit ganz konträrem Rationalitätsanspruch und Sprachverhalten gehen Konzepte der empirischen und emotionspsychologisch fundierten Literaturwissenschaft mit emotionalen Anteilen an literarischen Kommunikationsprozessen um. Man muss im Vergleich zu Gumbrechts diffusen, theoriemüden, existenzphilosophisch geprägten Ausführungen über Stimmungen (www.faz.net/stimmungen) nur einige wenige Sätze zum Begriff und Phänomen der Stimmung in der Habilitationsschrift von Simone Winko oder in dem Band "Heuristiken der Literaturwissenschaft" lesen, um den Kontrast sofort wahrzunehmen. Nadine van Holt und Norbert Groeben berufen sich hier in einem Aufsatz über emotionales Erleben beim Lesen auf analytische Unterscheidungen zwischen Emotionen und Stimmungen in der Emotionspsychologie: "In der Emotionspsychologie werden Stimmungen üblicherweise von Emotionen durch folgende Merkmale abgegrenzt: Stimmungen sind als schwächer, weniger variabel, länger andauernd und eher ohne konkreten Auslöser charakterisiert. Analog dazu wird unter allgemeiner Stimmungserfahrung beim Lesen ein eher längerdauerndes und nicht an einzelne Figuren oder Textmerkmale gebundenes Erleben verstanden."
Wie die lebens- und existenzphilosophisch geprägten haben empirische Literaturwissenschaftler reale Autoren und vor allem reale Leser von literarischen Texten im Blick. Denn zu ihrem Gegenstand erklärt empirische Literaturwissenschaft ausdrücklich das auf Literatur bezogene Handeln von Personen, das empirischer Beobachtung zugänglich ist. Literarische Texte sind in dieser Perspektive als Untersuchungsobjekt theoretisch und empirisch insofern relevant, als sie Resultate von literarischen Produktionshandlungen oder stimulierende Wahrnehmungsobjekte in Rezeptionshandlungen sind. In der theoretischen Grundlegung einer literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung auf empirischer Basis, die Henrike F. Alfes 1995 vorgelegt hat, erhalten die textanalytisch relevanten Ausführungen über "Endkommunikate" literarischer Produktionshandlungen und textuelle "Rezeptions-Stimuli" allerdings nur geringes Gewicht. In der Praxis empirischer Literaturwissenschaft haben Textanalysen ebenfalls einen nur marginalen Stellenwert. Nadine van Holt und Norbert Groeben unterscheiden bei ihren Untersuchungen über "Einflußfaktoren für emotionales Erleben beim Lesen" zwischen "text- und leserseitigen Faktoren". Bei den leserseitigen Faktoren sei die "Rezeptionshaltung" des Lesers für den "Einfluß auf das emotionale Leseerleben" der wichtigste. Und diese Rezeptionshaltung könne ein und demselben Text gegenüber, abhängig von persönlichen Neigungen oder situativ bedingter Gestimmtheit, variieren. Ob ein Leser dazu neigt, sich mit den dargestellten Emotionen literarischer Figuren emphatisch zu identifizieren oder ihnen gegenüber die Position eines emotional nicht oder nur schwach beteiligten Beobachters einzunehmen, und ob ein Leser sich eher mit "Fiktions-Emotionen" durch inhaltliche Textelemente affizieren lässt oder mit "Artefakt-Emotionen" auf poetologische Qualitäten eines Textes reagiert, ist gewiss auch von seiner Persönlichkeitsstruktur oder von äußeren Umständen abhängig. Aber ebenso gewiss ist es, dass dem Leser bestimmte Rezeptionshaltungen durch Eigenschaften der Texte selbst nahegelegt werden.
Auf solche "textseitigen" Einflussfaktoren gehen Holt/Groeben jedoch nur beiläufig ein, beschränken sich dabei auf Hinweise zu textuellen "Foregrounding"-Phänomenen, bei denen die von der Alltagssprache abweichende poetische Sprachverwendung ihre eigene Machart in den Vordergrund der Aufmerksamkeitslenkung stellt, und erkennen am Ende selbst, dass empirische Untersuchungen auf der Basis eines solchen "Foregrounding"-Konzepts bisher zu allgemein geblieben sind, um das emotionale Wirkungspotenzial der vielen unterschiedlichen literarischen Techniken der Emotionalisierung zu untersuchen.
In dem Band "Heuristiken der Literaturwissenschaft" steht noch ein anderer Aufsatz, der die textanalytischen Defizite empirischer Rezeptionsforschung exemplarisch vor Augen führen kann. Julia Abel und Ralf Stürmer berichten hier unter dem Titel "Aristoteles im Test" über ihre experimentellen Untersuchungen zur Wirkung von Tragödien. Empirisch überprüft haben sie ihre Hypothese, dass die Rezeption einer Tragödie, vermittelt über eine empathetische Identifikation mit dem Protagonisten, ein psychophysiologisches System mit bestimmten Funktionen aktiviert. Die Aufgabe dieses von dem Neuropsychologen Jeffrey A. Gray sogenannten "Behavioral Inhibition Systems" besteht "in der Hemmung aktuellen Verhaltens bei gleichzeitiger Steigerung der Bereitschaft zur Aufnahme von Informationen aus der Umwelt (Aufmerksamkeitserhöhung); es wird durch Neuheitsreize und angeborene Fluchtreize aktiviert." Aus Praktikabilitätsgründen haben die Experimentatoren allerdings gar keinen Tragödientext im Hinblick auf seine emotionale Wirkung zu Testzwecken verwendet, sondern zwei verschiedene Hörversionen der Ödipus-Geschichte in enger Anlehnung an die Nacherzählung Gustav Schwabs. Der einen Gruppe von Versuchspersonen wurde eine Version präsentiert, in der Ödipus als sympathische Figur dargestellt ist ("gut", "warmherzig" usw.), der anderen eine Version mit einem "bösartigen" und "kaltherzigen" Ödipus. Über das Handlungsmuster und die Personencharakterisierung hinaus spielen spezifischere Textmerkmale in dem Test-Arrangement keine Rolle. Im Gegenteil: Die Komplexität eines Tragödientextes erweist sich für die anvisierte Art der Untersuchung als unüberwindbares Hindernis.
Philologische Textfixierung und Phobie vor realen Autoren und Lesern
Literaturwissenschaftliche Konzepte, die dominant textorientiert und zugleich an Standards wissenschaftlicher Rationalität orientiert sind, scheinen im Gegensatz zu empirischen Literaturwissenschaftlern eine geradezu phobische Scheu vor Aussagen über Emotionen realer Personen zu haben. Jedenfalls nehmen sie bei ihren Analysen der Zusammenhänge von Literatur und Emotionalität systematische Begrenzungen vor, die Emotionen von realen Autoren und Lesern mehr oder weniger konsequent ausklammern. Zwei Strategien dazu dominieren:
1. Der literaturwissenschaftliche Blick konzentriert sich auf literarische Thematisierungen und Darstellungen von Emotionen, wobei es in der Regel um Emotionen geht, die in einem Text irgendwelchen Figuren oder personifizierten Gegenständen zugeschrieben werden. Ein Beispiel dafür ist Andreas Anglets umfassende und grundlegende Monografie "Der Schrei" über Affektdarstellungen in der deutschen wie französischen Literatur und Kunst zwischen 1740 und 1900. Den Schrei untersucht diese Arbeit erklärtermaßen nicht als einen syntaktisch und semantisch deregulierten Affektausdruck realer Subjekte oder in seiner affektiven Wirkung auf diejenigen, die ihn hören, sehen oder imaginieren, sondern als zeichenhafte und ästhetisch organisierte Darstellung eines Affektes im Umfeld unterschiedlicher Präsentations- und Äußerungsformen von Emotionen.
2. Der literatur- und kulturwissenschaftliche Blick konzentriert sich auf die historische Rekonstruktion kultureller Bewertungen und Repräsentationsformen diverser Emotionen. Was Literatur-, Kunst-, Religions- und Wissenschaftshistoriker im Blick auf das 16. und 17. Jahrhundert dazu gegenwärtig an transdisziplinärer Arbeit leisten, lässt sich an der 2005 erschienenen und von Johann Anselm Steiger herausgegebenen Dokumentation des Kongresses "Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit" ablesen, der 2003 in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel stattfand. Die beiden umfangreichen Bände bestätigen mit ihren perspektivenreichen Untersuchungen erneut die maßgebliche Bedeutung der Frühe-Neuzeit-Forschung für die Entwicklung der Kulturwissenschaften in den letzten Jahrzehnten - auch auf dem Feld der Emotionsforschung. "Zorn, Wein und Weiber verderben unsere Leiber." Unter diesem Titel-Zitat zeigt der in Würzburg lehrende Medizinhistoriker Michael Stolberg in einem der über fünfzig Beiträge, wie Affektbewertungen mit bestimmten Krankheitsvorstellungen verbunden wurden. Viele andere Beiträge untersuchen gattungs- und medienspezifische Repräsentationsformen von Emotionen. Seit Niklas Luhmanns "Liebe als Passion" (1982) mit dem Untertitel "Zur Codierung von Intimität" bedient sich die literatur-, sozial- und kulturwissenschaftliche Emotionsforschung in solchen Zusammenhängen gerne auch des 'Code`-Begriffs und untersucht unter diesem Begriff das Zeichensystem, mit dem in einer Kultur Emotionen ausgedrückt, benannt und Informationen über sie vermittelt werden. Die Kunstwissenschaften konnten bei ähnlichen Interessenrichtungen auf Aby Warburgs Begriff der 'Pathosformeln' aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts zurückgreifen. Warburg, der - worauf Norbert Meuter in seiner instruktiven "Anthropologie des Ausdrucks" (2006) hinweist - Charles Darwins "Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Tieren" kannte, bezeichnete mit 'Pathosformeln' in seiner 1929 verfassten Einleitung zum "Bilderatlas MNEMOSYNE" (2000 im Rahmen der "Gesammelten Schriften" von Martin Warnke herausgegeben) ein Repertoire von gebärdensprachlichen "Ausdrucksformen des maximalen inneren Ergriffenseins". Zu Erinnerungszeichen für archaische Erregungen durch die bildende Kunst und Literatur der Antike fixiert, adaptierte und transformierte man sie nach Warburg später in unterschiedlicher Weise. Die Literaturwissenschaft geht seit einigen Jahren mit bemerkenswerter Häufigkeit dem Begriff und Phänomen 'Pathos' nach und hat damit eine Art 'literaturwissenschaftliche Pathologie' etabliert. Peter Stüchelis Arbeit "Poetisches Pathos" bei Friedrich Nietzsche und im deutschen Expressionismus, Martin Dönekes umfangreiche Untersuchung "Pathos, Ausdruck und Bewegung" über die Ästhetik des Weimarer Klassizismus oder Rainer Dachselts Typologie literarischer Formen des Pathetischen von der Antike bis zu Peter Handke - sie alle beziehen sich auch auf Warburg, am exponiertesten allerdings Ulrich Ports "Pathosformeln. Die Tragödie und die Geschichte exaltierter Affekte (1755-1888)". In dem Band "Kinogefühle" rekurriert der Medienwissenschaftler Karl Sierek auf Warburgs ästhetische Pathologie.
Der vielfach erhebliche Erkenntniswert solcher auf Texte, Formeln und Codes fixierten Perspektiven und Forschungsansätze soll hier nicht in Frage gestellt werden, doch sie alle weichen der Analyse der Emotionen oder der Emotionalisierung realer Personen, die mit Literatur und Kunst umgehen, aus und verstricken sich dabei oft in charakteristische sprachliche Dilemmata. Simone Winkos bislang maßgeblicher Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung verbleibt wiederholt bei der vagen Formulierung "Emotionen in Texten". Burkhard Meyer-Sickendieks ambitionierter Versuch, literaturwissenschaftliche Gattungstypologien affekttheoretisch zu fundieren, indem einzelnen Gattungen einzelne für sie konstitutive Affekte zugeordnet werden, verwendet schon in den ersten Sätzen mehrfach die Formulierung "Affekte der Literatur". Literarische Texte können selbst jedoch nun einmal keine Affekte haben. Affekte können in ihnen benannt, thematisiert oder als Befindlichkeiten von Figuren dargestellt, von Autoren als eigene Befindlichkeit mit literarischen Texten ausgedrückt oder bei Lesern durch literarische Texte hervorgerufen oder hervorzurufen versucht werden. In dominant textorientierten Beiträgen zur literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung wird häufig nicht präzisiert, wessen Emotionen gemeint sind, wenn von Emotionen im Text die Rede ist. Die "Affektpoetik", erklärt Meyer-Sickendiek, frage nicht "nach den im Rezipienten ausgelösten Affekten, wie dies im rhetorischen Prinzip des 'movere' gedacht ist." Sie gehe vielmehr "im produktions- und werkästhetischen Sinn der Frage nach, inwiefern die den literarischen Text prägenden affektuellen Regungen für eine literarische Gattung konstitutiv sind." Wessen "affektuelle Regungen" sind gemeint? Die des Autors, die fiktiver Figuren? Oder nicht doch auch die bei Rezipienten erwarteten oder tatsächlich evozierten?
Nach den im Medium von Texten vollzogenen Autorabsichten der Emotionalisierung oder nach den tatsächlich durch Texte evozierten Emotionen beim Lesen wird bislang nur in Ansätzen geforscht.
Rhetoriktheorie und Emotionsforschung
Simone Winko unterscheidet in ihrem klar strukturierten Bericht zur literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung produktions-, rezeptions-, text- und kontextbezogene Ansätze. In dem Abschnitt "Rezeptionsbezogene Ansätze" geht der Bericht knapp auf die Affektenlehre der Rhetorik ein. Lehren und Theorien der Rhetorik umfassen jedoch alle von Winko beschriebenen "Ansätze". Sie sind, wie Winko selbst bemerkt, nicht nur auf die Affekte der Rezipienten bezogen, sondern auch auf Autoren, die sie hervorrufen wollen, auf die textuellen Techniken, die dazu am besten geeignet erscheinen, sowie auf die situationsspezifischen Kontexte, in die Redner oder Autoren zusammen mit ihren Rezipienten involviert sind. In der gegenwärtigen Rhetorikforschung dominiert freilich, wie Winko mit Recht anmerkt, eine historisch-rekonstruierende Untersuchungsperspektive. Für eine literaturwissenschaftliche Text- und Emotionsforschung wäre hingegen eine systematische Weiterentwicklung älterer Einsichten der Rhetoriktheorie von erheblichem Gewinn. Denn sie könnte alle Bestandteile emotionaler Kommunikation im Medium literarischer Texte in den Blick bekommen - als Analyse der beim Schreiben mehr oder weniger bewusst eingesetzten literarischen Emotionalisierungstechniken sowie ihrer potenziellen und realen Effekte beim Lesen. Eine von Rhetoriktheorien belehrte, kommunikationsanalytisch orientierte Emotionsforschung könnte sogar dazu geeignet sein, einige Perspektivenverengungen natur- und sozialwissenschaftlicher Emotionsforschungen aufzuheben.
Nach einer von zahllosen Definitionen des Begriffs 'Emotion', die selbst schon zum Gegenstand der Emotionsforschung geworden sind (vgl. den Überblick der Herausgeber in dem genannten Handbuch "Emotionspsychologie"), sind Emotionen "körperlich-seelische Reaktionen, durch die ein Umweltereignis aufgenommen, verarbeitet, klassifiziert und interpretiert wird, wobei eine Bewertung stattfindet." (Thomas Hülshoff) Beim Lesen ist das "Umweltereignis" der literarische Text bzw. eine einzelne Textstelle im Kontext des vorher Gelesenen. Mit diesem Umweltereignis hat es im Falle von literarischen Texten allerdings eine besondere Bewandtnis.
Im Unterschied etwa zu dem in der Emotionsforschung, schon von Charles Darwin, immer wieder gerne angeführten Beispiel einer Schlange, deren Präsenz oder plötzliches Auftauchen beim wahrnehmenden Subjekt die emotionale Reaktion mit den Namen Angst, Schrecken, Entsetzen oder Panik auslöst, sind Texte als Umweltereignisse Artefakte, deren künstliche bzw. künstlerische Machart darauf angelegt ist, beim wahrnehmenden Subjekt bestimmte Emotionen hervorzurufen, und denen sich der Wahrnehmende willentlich aussetzt oder entzieht. Sie gleichen darin ein wenig künstlich arrangierten Reizkonfigurationen, mit denen empirische Emotionspsychologen ihre Versuchspersonen testen. Autoren entwickeln, so ließe sich dieser Vergleich weiter ausführen, bei ihren textuellen Arrangements Hypothesen über wahrscheinliche emotionale Reaktionen ihrer Rezipienten. Ihre Texte sind, worauf Begriffe wie Trauer- oder Lustspiel verweisen, mehr oder weniger bewusst vorgenommene Inszenierungen eines Spiels mit den Emotionen der Leser.
Literaturwissenschaftliche Emotionsforschung kann unter diesem Aspekt eine paradigmatische Korrektur an einem vielfach beobachtbaren Defizit der Emotionsforschung in anderen Disziplinen vornehmen. Emotionen werden, auch in der oben zitierten Definition von Hülshoff, in der Regel als psychophysische Reaktionen auf Umweltreize definiert. Sie sind aber nicht nur Reaktionen (deren Passivität semantisch dem Wort 'Passionen' inhärent ist), sondern auch Aktionen, die ihrerseits die soziale Umwelt zu Re-Aktionen herausfordern. Sie sind für diese Umwelt, soweit sie ihrerseits emotionalisierbar ist, selbst Ereignisse, die als emotionalisierende Stimuli fungieren. Emotionen motivieren nicht nur das eigene Verhalten, sondern auch das Verhalten anderer, an die ihre Äußerungsformen adressiert sind.
Der darwinistische Emotionsforscher Paul Ekman, auf den auch die "Anthropologie des Ausdrucks" von Norbert Meuler immer wieder zurückgreift, konstatiert in seiner Einführung zu der von ihm edierten Kritischen Ausgabe von Darwins "Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Tieren", dass Darwin den kommunikativen Wert der Ausdrucksformen von Emotionen ignoriert habe. Das gilt für weite Teile natur- und kulturwissenschaftlicher Emotionsforschung noch heute. Arbeiten, die wie Nicole M. Wilks stark psychoanalytisch und semiotisch orientierter "Entwurf einer leiborientierten Kommunikationstheorie" Emotionen als Bestandteil von Kommunikationsprozessen im Blick haben, bleiben Ausnahmen. Emotionen sind jedoch, hält man sich an die kognitionswissenschaftliche Terminologie, nicht nur Programme der Informationsverarbeitung, sondern auch Programme der Informationsvergabe an andere. Man lächelt nicht nur als Reaktion auf ein erfreuliches Umweltereignis, sondern auch, um andere zum Lächeln zu veranlassen, man hat und zeigt Angst nicht nur als Reaktion auf ein als gefährlich eingeschätztes Objekt der Wahrnehmung, sondern auch, um anderen eine Gefahr zu signalisieren oder sie zu helfenden Reaktionen zu veranlassen. Man ist traurig und weint auch deshalb, weil man Trost erhalten möchte. Ebenso sind Wut oder Ärger nicht nur Reaktionen auf Ereignisse, die den eigenen Erwartungen und Wünschen zuwiderlaufen, sondern Botschaften an andere, sich so zu verhalten, dass die Ursachen für die Wut entfallen, aggressive Androhungen möglicher Folgen für die Verursacher der Wut oder Signale der Bereitschaft, mit anderen, die ähnliche Wut empfinden, gemeinsam gegen Wutursachen vorzugehen. Emotionen und Signale der Emotionalisiertheit werden mehr oder weniger kontrolliert eingesetzt, um andere zu emotionalisieren und zu motivieren, sich in gewünschter Weise zu verhalten. Emotionalisierung anderer kann zugleich Motivationalisierung anderer sein.
Emotionen zu haben und zu zeigen gehört also zum Inventar eines breiten Spektrums von Emotionalisierungstechniken, von Mitteln, bei anderen Emotionen zu evozieren. Vielleicht kann Literatur, ähnlich wie Musik, bildende Kunst oder Film, als besonders komplexe Kulturtechnik der Emotionalisierung begriffen werden. Der sich verschiedenen Künsten widmende Band "Affekte. Analysen ästhetisch-medialer Prozesse" (herausgegeben von Antje Krause-Wahl u.a.) hat solches im Blick. Die Einleitung von Mieke Bal propagiert hier eine Perspektive, in der die für Kunst zentrale Bedeutung von Repräsentation zurückgestellt wird, "um das Drängen von Kunst, die BetrachterInnen emotional einzubinden, in den Blick zu nehmen." Literarische Kulturtechniken der Emotionalisierung zu analysieren erfordert eine zweifache, miteinander kombinierbare Begrifflichkeit, Methodik und Theorie: eine textanalytische und eine emotionsanalytische zugleich. Rhetoriktheorien haben sie in vielfältigen Ansätzen seit Jahrhunderten im Blick, auch noch da, wo sie sich selbst oder wo vehemente Rhetorikgegner sie radikal in Frage stellen.
Rhetorisches und erlebnisästhetisches Modell emotionaler Kommunikation
Einem mit dem Begriff 'Rhetorik' eng assoziierten Modell zufolge, das die Krise der Rhetorik und die Kritik an ihr im 18. Jahrhundert überlebt hat, sind Texte eine Kombination kalkuliert eingesetzter und erlernbarer Techniken zur Emotionalisierung des Rezipienten. Seit der Antike enthalten Schriften zur Rhetorik, meist in einer Mischung von deskriptiven Aussagen über vorhandene Texte (exempla) und präskriptiven Aussagen in Form von Anleitungen zur Herstellung neuer Texte, mehr oder weniger elaborierte Theorien über den Zusammenhang von Emotionalisierungsabsichten, Textmerkmalen, die zu ihrer Realisierung geeignet erscheinen, und faktischen Emotionen realer Rezipienten. Emotionalisierung durch mündliche Rede oder schriftlich fixierte Texte wird dabei meist dem Ziel untergeordnet, die Einstellung der Rezipienten zu bestimmten Personen oder Sachverhalten und damit auch ihr Verhalten zu beeinflussen. Die Theorien betreffen ganz unterschiedliche emotionale Effekte und Textmerkmale: verschiedene Affektarten wie Zorn, Hass, Mitleid oder Freude, verschiedene Dosierungen der Affektintensität (Affektsteigerung und Affektdämpfung), die mögliche Platzierung von Emotionalisierungstechniken im Text (am Anfang, am Ende, im Wechsel mit anderen und in bestimmten Abständen) oder die diversen Techniken selbst, u.a. die Wahl der Textgattung und (damit verbunden) der Stilebene (hoher, mittlerer, niedriger Stil) und des Personals (oft sozial hierarchisiert), den 'Redeschmuck' (ornatus) und die Gegenstände der Rede (res). Je nach Rede- bzw. Schreibabsicht sollen unterschiedliche rhetorische Figuren und Tropen den Hörer oder Leser belehren (docere), unterhalten und erfreuen (delectare) oder ernsthaft erschüttern (movere).
Im 18. Jahrhundert gewinnt in kritischer Abwendung von Traditionen der Rhetorik und ihres Umgangs mit Emotionen ein Gegenmodell emotionaler Kommunikation an Dominanz. Man kann es als "erlebnisästhetisches" bezeichnen, weil es postuliert, dass Emotionen von Rednern und Autoren nicht nur nachgeahmt und auf der Basis bewährter Regeln hervorgerufen, sondern selbst faktisch erlebt werden und nur da, wo sie von den Rezipienten als vom Autor selbst erlebte wahrgenommen werden, optimale Wirksamkeit entfalten. Das erlebnisästhetische Modell konnte das rhetorische jedoch nie ganz ablösen, fungierte zum Teil als Perfektionierung des rhetorischen Modells und griff Bestandteile der Rhetoriktheorie auf, die die Aufrichtigkeit und andere Qualitäten der Person des Redners betreffen. Dem erlebnisästhetischen Modell zufolge sind Texte eher spontaner und individueller, um die tradierten Regeln der Rhetorik unbekümmerter Ausdruck der Emotionen des Autors, die beim Lesen nachvollzogen werden. Sie erscheinen wirksamer als bewusst angewendete rhetorische Techniken, weil sie als 'natürlicher' und daher glaubwürdiger wahrgenommen werden. Was die Rhetorik unter dem Begriff 'dissimilatio artis' empfohlen hatte, das Verbergen der Künstlichkeit emotionaler Expressivität, wird hier überboten durch die Forderung nach emotionaler Authentizität des Redners oder Autors, die nichts mehr zu verbergen hat. Goethes Faust-Figur beruft sich auf dieses Modell, wenn sie den Schüler Wagner mit den Worten belehrt: "Doch werdet ihr nie Herz zu Herzen schaffen,/ Wenn es euch nicht von Herzen geht."
Das zweite Modell löst das erste jedoch nicht ab. Beide koexistieren und konkurrieren miteinander. Noch im 19. und 20. Jahrhundert bekennen sich Autoren wie Edgar Allan Poe oder Franz Kafka zu kalkulierten Techniken der Emotionalisierung. Edgar Allan Poe berichtete über die Entstehung seines Gedichtes "Der Rabe": "Da ich also das Schöne als mein Gebiet betrachte, richtete sich meine nächste Frage auf die Tonart ihrer vollkommensten Repräsentation - und alle Erfahrung lehrt, daß diese Tonart eine der Trauer ist. Schönheit jeglicher Art bewegt in ihrer höchsten Entfaltung die empfindsame Seele unvermeidlich zu Tränen. Melancholie ist daher die rechtmäßigste aller poetischen Tonarten." Der melancholischste Gegenstand sei der Tod, besonders "der Tod einer schönen und geliebten Frau". Er ist "fraglos der dichterischste Gegenstand auf Erden - und ebenso zweifellos ist der geeignetste Mund für einen solchen Gegenstand der eines Liebenden, der die Geliebte durch den Tod verlor." Die Trauer des Liebenden und der Tod einer schönen Frau werden hier für den Autor zu Bestandteilen seines emotional kalten Kalküls beim Schreiben. Autoren lassen ihre Figuren sterben oder am Tod einer geliebten Person leiden, um die Lesenden in einen irgendwie beglückenden Zustand schöner Traurigkeit zu versetzen.
Ähnlich bewusst wie Edgar Allan Poe versuchte Kafka, glaubt man seinen eigenen Auskünften, Effekte der Rührung zu erzielen. In der Entstehungszeit des "Proceß"-Romans notierte er in sein Tagebuch, dass "die guten und stark überzeugenden Stellen" seiner bisherigen Werke immer davon handeln, "daß jemand stirbt, daß es ihm sehr schwer wird, daß darin für ihn ein Unrecht und wenigstens eine Härte liegt und daß das für den Leser wenigstens meiner Meinung nach rührend wird. Für mich aber, der ich glaube auf dem Sterbebett zufrieden sein zu können, sind solche Schilderungen im geheimen ein Spiel, ich freue mich ja in dem Sterbenden zu sterben, nütze daher mit Berechnung die auf den Tod gesammelte Aufmerksamkeit des Lesers aus, bin bei klarerem Verstande als er, von dem ich annehme, daß er auf dem Sterbebett klagen wird [...]. Es ist so, wie ich der Mutter gegenüber immer über Leiden mich beklagte, die beiweitem nicht so groß waren wie die Klage glauben ließ. Gegenüber der Mutter brauchte ich allerdings nicht soviel Kunstaufwand wie gegenüber dem Leser."
Schon in der antiken Rhetorik und Poetik artikulierten sich allerdings Vorbehalte gegenüber der Wirksamkeit kalkuliert eingesetzter, lehr- und erlernbarer Emotionalisierungstechniken. Horaz gab in seiner "Ars poetica" eine berühmt gewordene Empfehlung, auf die man sich, wie der Kunsthistoriker Thomas Kirchner in einem instruktiven Beitrag zu dem Sammelband "Pathos, Affekt, Gefühl" ausführt, im 18. Jahrhundert immer wieder berief und die in der bildenden Kunst, in der Literatur und vor allem in der Schauspielkunst die Entwicklung von autosuggestiven Psychotechniken zur Selbstemotionalisierung des Künstlers forcierte - mit dem Ziel, die Emotionalisierung der Rezipienten zu optimieren: "Willst du, dass ich weine, so traure erst einmal selbst" ("Si vis me flere, dolendum est/ Primum ipsi tibi"). Jean-Baptiste Du Bos, der mit seinen "Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture" ("Kritische Betrachtungen über die Poesie und Malerei", 1719) zum wohl einflussreichsten Pionier einer psychologischen und protoempirischen Ästhetik wurde, die im 18. Jahrhundert die emotionale Wirkung zur zentralen Funktion der Künste erklärte, beschrieb die Fähigkeit, "die anderen Menschen nach Belieben zu bewegen", so: "diese kommt hauptsächlich dadurch zustande, dass man selbst von den Gefühlen bewegt und durchdrungen erscheint, die man bei ihnen hervorbringen will [...]. Es ist ein Gefühl des anderen, das uns bewegt." Wo dem Künstler solche Gefühle fehlen, muss er sie in sich selbst zumindest so weit stimulieren, dass er von ihnen durchdrungen "erscheint". Und wenn es ihm sogar vergönnt ist, durch entsprechende äußere Umstände oder perfektionierte Techniken der Selbstemotionalisierung von ihnen durchdrungen zu sein, ist seine Emotionalisierungskunst geniehaft über die Beachtung rhetorischer Regeln der Emotionalisierung erhaben.
Friedrich Schiller warnte freilich schon gut zehn Jahre vor dem Ende des Jahrhunderts in seiner Rezension "Über Bürgers Gedichte": "ein Dichter nehme sich ja in Acht, mitten im Schmerz den Schmerz zu besingen." In seinem Postulat, mit zeitlicher und ästhetischer Distanz zu eigenen Emotionen und "niemals unter der gegenwärtigen Herrschaft des Affects" zu dichten, knüpfte er partiell an von Kirchner rekonstruierte Vorstellungen des 16. und 17. Jahrhunderts an, wonach diejenigen, die Affekte anderer lenken, seien es Herrscher, Prediger, Redner oder Dichter, nicht selbst Sklaven eigener Affekte sein dürfen.
Über die historisch divergierenden Vorstellungen zum rhetorischen und rhetorikkritischen Umgang mit Affekten wurden in jüngerer Zeit etliche erhellende Arbeiten publiziert. Schon der Titel eines unlängst erschienenen Sammelbandes, "Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert" (herausgegeben von Claudia Benthien und Steffen Martus), kennzeichnet dabei das uns heute paradox erscheinende Phänomen, dass Aufrichtigkeit im Ausdruck von Emotionen als eine Kunst, also als etwas künstlich Inszeniertes angesehen werden könnte. Wie sich das darauffolgende Jahrhundert permanent mit solchen Paradoxien auseinandersetzte, kann man bei der Lektüre von Dietmar Tills glänzenden und im Hinblick auf eine rhetorische Affektenlehre grundlegenden "Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorien im 17. und 18. Jahrhundert" (so der Untertitel seiner 2004 erschienenen Dissertation zum Thema) bis in feinste Verästelungen der Debatten über eine "antirhetorische Natur-Rhetorik" oder über Programme einer "Kunstlosen Kunst" hinein eingehend verfolgen. Im Blick auf Lessings Theorie der affektiven Tragödienwirkung, die bei aller Kritik an der Rhetorik dieser doch in wesentlichen Aspekten verbunden bleibt und zugleich die erkenntniskritische Emotionsphilosophie der Aufklärung adaptiert, bewegt sich eine die zahlreichen Untersuchungen zu diesem Thema in wichtigen Aspekten ergänzende und präzisierende Dissertation Thomas Martinec auf dem gleichen Forschungsfeld und formuliert zum Teil ähnliche Ergebnisse.
Neben der Rhetorik und Poetik ist es im 18. Jahrhundert die philosophische und psychologische Ästhetik, die an der intensiven Auseinandersetzung mit den emotionalen Bestandteilen der Kommunikation im Medium der Künste beteiligt ist. Und sie ist es vor allem, die nachdrücklich auf die unterschiedlichen Sinnesorgane aufmerksam gemacht hat, die von den Künsten angesprochen werden und über die die medienspezifische Emotionalisierung der sehenden, hörenden, riechenden, schmeckenden oder tastenden Rezipienten erfolgt. Was dazu beispielsweise Ulrike Zeuch in ihrer 2000 erschienen Habilitationsschrift "Umkehr der Sinneshierarchie" zur Aufwertung des Tastsinns seit der Frühen Neuzeit und zu den Debatten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts zur angemessenen Einschätzung der diversen Sinne bei der Wahrnehmung menschlicher Schönheit ausgeführt hat, darf eine literatur- und kunstwissenschaftliche Emotionsforschung nicht ignorieren.
Wenn man diese Arbeiten zur Rhetorik, Poetik und Ästhetik nicht nur als historische Rekonstruktionen von Vergangenem liest, sondern das Rekonstruierte in der Weise ernst nimmt, dass man ihm Anregungen zur Entwicklung eines systematischen Konzepts gegenwärtiger literaturwissenschaftlicher Emotionsforschung entnimmt, so wird eines ganz deutlich: Dieses Konzept darf nicht nur Texte und nicht nur Personen, die sie machen, und nicht nur solche, die sie rezipieren, im Blick haben, sondern muss den gesamten Prozess literarischer Kommunikation berücksichtigen.
Emotionalisierende Textmerkmale und ihre Funktionsmechanismen
Simone Winko hat in ihrer Habilitationsschrift "Kodierte Gefühle" ein systematisiertes Beschreibungsprogramm mit dem Anspruch vorgelegt, "tendenziell alle Vorkommnisse von Emotionen auf allen 'Ebenen' lyrischer Texte [zu] erfassen." (vgl. auch Winkos Beitrag in dieser Ausgabe von literaturkritik.de) Die Systematik ist zu weiten Teilen auch auf Beschreibungen anderer Texttypen, insbesondere erzählender, übertragbar und umfasst in der literarisch dargestellten Welt die Emotionen der Figuren oder personifizierten Dinge, die sprachliche Präsentation (u.a. semantisch, lautlich, syntaktisch; in rhetorischen Figuren und Tropen) von Emotionen, die narrative Zuordnung von Emotionen zu diversen Instanzen im Text, emotionsrelevante Perspektivierungen des Dargestellten und die Selektion, Verteilung und Gewichtung dargestellter Emotionen im Text. Formulierungen wie "Vorkommnisse von Emotionen", "emotionaler Gehalt" von Texten oder (vielfach) "Emotionen im Text" bleiben allerdings vage und fallen hinter viele Präzisierungsleistungen des Buches immer wieder zurück. Solche Präzisierungen erreicht es zum Beispiel da, wo es "Ziele der Emotionsgestaltung" beschreibt und dabei auf die Autoren und Leser literarischer Texte zu sprechen kommt. Hier skizziert Winko ein Modell emotionaler Kommunikation im Medium literarischer Texte, das tragfähig ist: "Autoren und zumindest zeitgenössische Leser teilen ein Wissen darüber, wie Emotionen verlaufen, in welchen Situationen sie entstehen und wie sie angemessen auszudrücken sind, und über dieses gemeinsame Wissen funktioniert das Kodieren wie das Dekodieren auch der indirekten Formen literarischer (ebenso wie nicht-literarischer) Gestaltung von Emotionen." Dieses Funktionieren muss, wie Winko hinzufügt, den Autoren und Lesern keineswegs bewusst sein: "Die Emotionsstruktur eines Textes kann unbeabsichtigt hervorgebracht worden sein, und Leser können emotionale Muster an Gedichte herantragen, die deren Verfasser nie im Sinn hatte. Dennoch spielt das Kode-Wissen für beide Tätigkeiten eine wichtige Rolle."
Das "Kode-Wissen" über Emotionen, das Autoren und Lesern partiell gemeinsam ist und dadurch emotionale Kommunikation erst ermöglicht, umfasst nach Winko unter anderem das Wissen über "prototypisch emotionale Handlungen und Situationen". Zu den literarischen Basistechniken der Emotionalisierung gehört es wohl in der Tat, dass Autoren ihre Leser solche Situationen imaginieren und in der Fantasie durchspielen lassen, die (aufgrund von Erinnerungen an vergleichbare Situationen in der eigenen Lebensgeschichte, von erlernten oder auch von instinktiv verankerten Reaktionsmustern) oft reflexartig und automatisiert bestimmte Emotionen auslösen, allerdings weitgehend ohne die mit ihnen verbundenen Verhaltensmustern. Im Märchen "Hänsel und Gretel" sind das zum Beispiel typische Angstsituationen: Trennung von den Eltern, Verirren im dunklen Wald, Konfrontation mit Hunger oder der Gefahr, gefressen zu werden, und dergleichen. Oder das ist nach Poes 'Rezept' der Tod einer schönen Geliebten. In einem eher individualpsychologischen Theoriezusammenhang steht Ronald de Sousas von der Psychoanalyse angeregtes Konzept des 'Schlüsselszenarios' ('paradigm scenario'). In paradigmatischen Szenarien, die individuell variieren, doch aufgrund biologischer und kultureller Bedingtheiten auch Gemeinsamkeiten aufweisen, werden in der Lebensgeschichte einer Person typische Präferenzen für Objekte von Gefühlen und typische emotionale Reaktionsweisen erworben und später in ähnlichen Szenarien wiederholt. Dem Konzept de Sousas entnimmt Burkhard Meyer-Sickendiek einen zentralen Baustein seiner "Affektpoetik", indem er jeder literarischen Gattung ein Schlüsselszenario und eine mit ihm fest assoziierte Emotion zuordnet. Konstitutiv für die Elegie zum Beispiel ist nach diesem Konzept das Abschiedsszenario mit der Emotion 'Trauer', für die Tragödie das Konfliktszenario zwischen individuellem Handeln und sozialem Gesetz mit der Emotion 'Schuld' oder für das (deutsche) Märchen die Konfrontation mit einer Gegenwelt außerhalb der vertrauten Umgebung mit der Emotion 'Angst'.
Ein narratologisches Emotionskonzept, das ebenfalls auf derartige Szenarien zurückgreift und das für literaturwissenschaftliche Emotionsforschungen schon deshalb attraktiv ist, weil narratologische Textanalysen zu den Kernkompetenzen der Literaturwissenschaft zählen, entwirft, u.a. angeregt von Martha C. Nussbaum, eine Monografie von Christiane Voss über "Narrative Emotionen" und veranschaulicht es am Beispiel der Eifersucht. Das Pendant zum Begriff des 'Schlüsselszenarios' ist hier der des 'Narrativs'. Die heterogenen Einzelkomponenten (kognitive, physiologische, expressive, hedonistische) von in sich komplexen Emotionen werden im emotionalen Bewusstsein und Erleben menschlicher Subjekte nicht als Reaktionen auf isolierbare Reize begriffen, sondern schon immer narrativ synthetisiert, d.h. "durch Assoziation und zeitliche Verknüpfung in ein chronologisches Sinnganzes gebracht". Sie werden weiterhin in nachträglichen Aufarbeitungen und Reflexionen im Rahmen alltäglicher oder therapeutischer Situationen oder in Autobiografien in "Metanarrationen" integriert. Durch Erzählungen, Gegenerzählungen und Umerzählungen werden Emotionen verschieden interpretiert und in ihrer Wertigkeit verändert. Doch bestimmte Bestandteile der Narration bleiben konstant. "Jeder Emotionstyp ist über ein paradigmatisches Narrativ von thematisch gebundenen plastischen Eindrücken, Gefühlen, Verhaltensweisen und Vorstellungen konstituiert. Narrativ charakterisierbar ist jedes emotionale Szenario, [...] insofern es sich dabei um eine Verkettung von Ereignissen und Erlebnissen handelt, die um einen mehr oder weniger dramatisch bewerteten Mittelpunkt angeordnet sind, der das jeweilige Grundthema der emotionalen Situation angibt." Das Grundthema zum Beispiel bei Eifersuchtsgefühlen ist "der vermeintliche Verlust der exklusiven Zuwendung eines begehrten Menschen." Andere zentrale Themen emotionaler "Settings" beinhalten "eine Verletzung, einen Gewinn, eine Wunschbefriedigung oder einen Verlust, eine Selbstwerterhöhung oder anderes". Aufgrund ihrer eigenen narrativen Struktur sind Emotionen so hervorragend ansprechbar durch narrative Medien wie Literatur und Film. Deren Narrationen fiktiver emotionstypischer Szenarios gehören wiederum, neben den Wahrnehmungen realer Szenarios, zu den Faktoren, die unsere eigene narrative Strukturierung von Emotionen im realen Leben prägen. Dass auch die Psychoanalyse, für die das 'szenische Verstehen' schon lange von zentraler Bedeutung ist, inzwischen narratologische Konzepte zur Analyse autobiografischer Patientenerzählungen aufgreift und dabei nicht zuletzt deren emotionalisierendes Potenzial untersucht, liegt nahe. "In today's clinical practice", konstatiert Tilmann Habermas, "the scene (Argelander) in the sense of a rudimentary story is the centrally organizing entity of our understanding. Parts of the scene are drive-related desires, obligations and anxieties, as well as actions and corresponding representations of self and others." ("Who speaks? Who looks? Who feels? Point of view in autobiographical narratives". In: International Journal of Psychoanalysis 87, 2006) Habermas bezieht in seine narratologischen und emotionsanalytischen Untersuchungen von drei Patientenerzählungen vor allem Aspekte der Erzählperspektivik mit ein.
Es gibt in der Regel ein intersubjektiv geteiltes Wissen über die engen Zusammenhänge zwischen bestimmten Emotions- und Situationstypen. Worauf die Gemeinsamkeit dieses Wissens beruht, ist für die Analyse, wie und worüber im Medium literarischer Texte emotional kommuniziert wird, einigermaßen irrelevant, jedoch zur Beantwortung der Frage wichtig, warum und unter welchen Bedingungen die emotionale Kommunikation funktionieren kann und wozu solche Funktionsweisen sozial oder biologisch dienen.
Die Basistechnik literarischer Emotionalisierung durch Inszenierungen von emotionstypischen Schlüsselszenarios bzw. Narrativen funktioniert vielfach über Mechanismen der Identifikation und Empathie mit literarischen Figuren, die in das Szenario involviert sind und denen dabei oft auch noch bestimmte Emotionen ausdrücklich zugeschrieben werden, oder auch mit dem Autor, soweit er selbst den Lesern in das Szenario involviert erscheint. Und auch dann, wenn die Rezipienten die distanziertere Position des am Geschehen Anteil nehmenden Beobachters einnehmen und ihre Emotionen dabei nicht denen der Figuren entsprechen, setzt die emotionale Anteilnahme zumindest eine partielle Identifikation mit den Figuren voraus.
Literatur- und filmwissenschafltiche Kooperationsmöglichkeiten
Einen der Arbeit von Winko, wo sie an einem Modell emotionaler Kommunikation orientiert ist, ähnlichen Ansatz hat unlängst ein Aufsatz des Medien- und Filmwissenschaftlers Jens Eder in dem von Oliver Grau und Andreas Keil herausgegebenen Taschenbuch "Mediale Emotionen. Zur Lenkung von Gefühlen durch Bild und Sound" vorgestellt. Sein Modell der Analyse von "Affektlenkung im Film" versucht strukturierte Daten zu affektiven Reaktionen von Filmrezipienten mit strukturierten Daten zu filmischen Mitteln der Affektlenkung über eine "Systematik von Brückenhypothesen" miteinander in Beziehung zu setzen. Solche "Brückenhypothesen" formulieren Vermutungen, "auf welche Weise Filmstrukturen regelhaft mit [emotionalen] Zuschauerreaktionen verbunden sind." Die regelhaften Zusammenhänge seien "teils biologisch, teils soziokulturell bedingt und könnten nur durch Rückgriff auf verschiedene Wissenschaften ermittelt werden." Die Formulierung solcher Regeln gelingt in seiner exemplarischen Analyse von Leni Riefenstahls "Triumph des Willens" im Hinblick auf die Evokation von Gefühlen des Erhabenen allerdings noch nicht sonderlich überzeugend. Eder beschreibt das Angst- und Lustgemisch, wie man es aus ästhetischen Theorien zu Gefühlen des Erhabenen kennt, und erklärt, dass dabei "verschiedene Emotionssysteme des Gehirns zugleich aktiv werden." Der Aufsatz beruft sich anschließend auf einige Rezeptionszeugnisse, die darauf hinweisen, dass der Film faktisch solche Gefühle evoziert hat, und beschreibt dann die Handlungsdramaturgie und Erzählperspektive des Films im Hinblick auf ihr emotionalisierendes Potenzial. Ergänzt wird dies durch Vermutungen über Differenzen zwischen damaligen und heutigen Zuschauerreaktionen, die auf veränderte mentale Voraussetzungssysteme bei der Wahrnehmung des Filmes zurückgeführt werden. Konzise Aussagen über Regeln sind dabei nicht erkennbar.
Eine bemerkenswerte Weiterentwicklung seines Konzepts hat Jens Eder mit seinem Beitrag für den Sammelband "Kinogefühle" vorgelegt. Hier entwirft er ein komplexes Modell der emotionalen Anteilnahme an Filmfiguren. Das in jüngerer Zeit maßgeblich durch Fotis Jannidis wiederbelebte Interesse an der Analyse von Figuren in fiktiven Geschichten (vgl. literaturkritik.de 4/2006) findet hier eine für die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung wichtige Fortführung. Eder unterscheidet zwischen Zuschaueraffekten, die durch die Bewertung von Eigenschaften, die Filme den Figuren zuschreiben, hervorgerufen werden, und solchen, die durch den Nachvollzug von Affekten der Filmfiguren in einer bestimmten dargestellten Situation evoziert werden. Die Sympathie mit oder Antipathie gegen Figuren kann auf "angeborenen Auslösern", auf "gesellschaftlichen Normen und Werten" oder auf Faktoren, die auf der "individuellen Sozialisation" eines Rezipienten basieren, zurückgeführt werden. Die Gefühle der Zu- oder Abneigung bei der Wahrnehmung von Filmfiguren sind in der Rezeption eines Films relativ dauerhaft - im Unterschied zu den Emotionen, die dadurch hervorgerufen werden, dass Figuren temporär bestimmte Emotionen wie Freude, Trauer oder Angst zeigen, die sich über Mechanismen der Empathiebildung auf den Rezipienten übertragen, oder dass Figuren in Situationen präsentiert werden, die mit bestimmten Emotionen assoziiert sind und vom Zuschauer ebenfalls empathetisch nachvollogen werden.
Viele der hier entwickelten Gesichtspunkte lassen sich auch auf text- und emotionsanalytische Untersuchungen zu literarischen Figuren übertragen. Überhaupt können Literatur- und Filmwissenschaft auch im Bereich der Emotionsforschung viel voneinander lernen. Viele jüngere Publikationen zeigen, dass sie dies auch tun. Der "Emotional turn" ist vielleicht sogar ein Musterbeispiel dafür, dass der Ausdifferenzierungsprozess im Wissenschaftssystem immer wieder von Integrationsleistungen begleitet ist, die diesen zwar nicht rückgängig machen, aber dafür sorgen, dass die spezialisierten wissenschaftlichen Disziplinen sich nicht isolieren, sondern kooperationsfähig bleiben.
Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag basiert zu weiten Teilen auf dem Aufsatz "Kulturtechniken der Emotionalisierung. Beobachtungen, Reflexionen und Vorschläge zur literaturwissenschaftlichen Gefühlsforschung". Er erscheint 2007 in dem von Karl Eibl, Katja Mellmann und Rüdiger Zymner herausgegebenen Band "Im Rücken der Kulturen" (mentis Verlag). Online-Abonnenten von literaturkritik.de schickt die Redaktion auf Anfrage eine Datei des Manuskriptes.
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