Auf neuen Pfaden

T. C. Boyle versucht sich mit seinem neuen Roman "Talk Talk" als Thrillerautor

Von Horst SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Horst Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer aufgrund des Titels von T. C. Boyles neuem Roman "Talk Talk" erwartet, es handele sich bei dem fast 400 Seiten umfassenden Buch, das Dirk van Gunsteren mit großem sprachlichen Einfühlungsvermögen nahezu kongenial aus dem Amerikanischen ins Deutsche übersetzt hat, um eine Geschichte aus der Welt der Talkshows, täuscht sich. "Talk Talk" ist vielmehr ein Ausdruck der "Amerikanischen Gebärdensprache" (American Sign Language, ASL) und bedeutet ein entspanntes Gespräch mittels Gebärden unter Gehörlosen.

Eine Gehörlose ist eine der drei Hauptfiguren des Romans. Dr. Dana Halter heißt die junge Frau, die an einem kalifornischen College für Gehörlose Literatur unterrichtet, an einem Roman arbeitet und wie aus heiterem Himmel - bzw. wie es treffend bei Boyle heißt: "wie aus einem Roman von Kafka" - eines Morgens auf dem Weg zum Zahnarzt von der Polizei festgenommen wird. Sie hat zwar nur ein Stoppschild überfahren, doch werden ihr laut Polizeicomputer jede Menge schwere Delikte vom Autodiebstahl über Drogenmissbrauch bis hin zum Angriff mit einer tödlichen Waffe zur Last gelegt.

Erst nach Tagen und einem für die bis dahin völlig Unbescholtene entwürdigenden Aufenthalt im Gefängnis stellt sich heraus, dass Dana Halter Opfer eines Betrügers geworden ist, der ihre Identität angenommen hat. Da Polizei und Justiz nur wenig unternehmen, um den Menschen festzunehmen, der Danas Leben durcheinander gewirbelt hat, macht sie sich mit ihrem Freund Bridger Martin, einem jungen Computerspezialisten aus dem Filmgeschäft, auf die Suche nach dem Mann, der auf ihre Kosten und unter ihrer Identität ein Leben in Saus und Braus führt.

Peck Wilson, der Bösewicht des Romans, ist der dritte Hauptprotagonist von "Talk Talk". Er ist ein Krimineller des 21. Jahrhunderts, der die moderne Informations- und Konsumgesellschaft gleichermaßen clever wie skrupellos für seine Interessen zu nutzen weiß. Selten hat T. C. Boyle in seinen vielen Romanen einen ähnlich unsympathischen und widerwärtigen Charakter porträtiert.

In der für ihn typischen Erzählmanier verschränkt Boyle auch in "Talk Talk" mehrere Handlungsstränge ineinander. Abwechselnd erzählt er die Geschichte aus der Perspektive von Dana, Bridger und Peck. Der Leser erfährt Stück für Stück Einzelheiten aus dem Vorleben der Protagonisten und erlangt Einblicke in deren Denk- und Handlungsweisen. Wenn es am spannendsten wird, wechselt Boyle in bester Thriller-Tradition die Erzählperspektive. Am Ende kommt es schließlich zwischen den Protagonisten zum vorhersehbaren Showdown, dessen Ende hier nicht verraten werden soll.

Boyle schüttet in den besten Passagen von "Talk Talk" seinen ganzen Spott und Hohn über eine Gesellschaft aus, in der nur Materielles zu zählen scheint. Wie man in den Besitz akademischer Titel, toller Häuser, schneller Autos, dicker Bankkontos und schöner Frauen gelangt, ist für einen gewissenlosen und egomanischen Hochstapler wie Peck Wilson zweitrangig. Für einen Kriminellen seiner Art, einen Identitätsdieb, heiligt letztlich der Scheck die Mittel.

Positive Gegenfigur zum vom blanken Materialismus und einem schon psychopathischen Geltungsbedürfnis angetriebenen Peck Wilson ist Dana Halter, die in ihrer Verletzbarkeit, mit ihrer Gehörlosigkeit und ihrem unbedingten Glauben an Gerechtigkeit wie eine moderne Jeanne d'Arc oder ein Don Quijote unserer Zeit wirkt.

Als Thriller ist Boyles neuer Roman leidlich spannend und unterhaltsam. Jedoch kann man von einem Autor seines Kalibers weniger holzschnittartige Romanfiguren erwarten. Einzig Bridger Martin, der Freund von Dana, ist ohne allzu viele Klischees gezeichnet. Er ist es denn auch, dem schließlich die meisten Sympathien des Lesers gelten dürften. Viele Passagen in T. C. Boyles neuem Roman wirken zudem geschwätzig und überflüssig, zum Beispiel die Schilderungen Peck Wilsons beim Kochen oder die Auflistungen seiner Einkäufe.

"Talk Talk" ist ein spannender Unterhaltungsroman. Hohe Literatur ist das Buch allerdings nicht. Und Kultpotential wie andere Romane Boyles, zum Beispiel "Wassermusik", "Willkommen in Wellville" oder "Drop City", hat sein jüngstes Werk wohl auch nicht. Thriller sind nicht unbedingt das Metier des manischen Vielschreibers und Literaturprofessors T. C. Boyle. Vielleicht wäre er besser beraten gewesen, wenn er den Stoff von "Talk Talk" zu einer Erzählung komprimiert hätte.


Titelbild

T. C. Boyle: Talk Talk. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren.
Carl Hanser Verlag, München 2006.
395 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3446207589

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