Back to the Seventies?
Über Jost Hermands durchaus merkwürdige Kulturgeschichte
Von Klaus Hübner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSelten wohl ist der Widerspruch zwischen wunderschöner äußerer Gestalt eines Buches und seinem Inhalt so auffällig wie bei jener "Deutschen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts", die der 1930 geborene Germanist und Kulturhistoriker Jost Hermand, viele Jahre hindurch Professor an der University of Wisconsin und Honorarprofessor an der Berliner Humboldt-Universität, vor kurzem vorgelegt hat. Hermand schließt an seine Bücher "Stilkunst um 1900" (1967) und "Expressionismus" (1975) sowie an die gemeinsam mit Frank Trommler verfasste Darstellung "Die Kultur der Weimarer Republik" (1978) an. Er hat diese Studien jedoch nicht nur erweitert und aktualisiert, sondern ein eigenständiges neues Werk geschaffen. Sein großzügig und klug illustriertes, herstellerisch absolut perfektes Buch liegt bestens in der Hand - und verursacht dennoch bald heftigste Bauchschmerzen. Am Verlag liegt das nicht.
Das Vorwort beschäftigt sich, sozusagen im Schnelldurchgang von der Spätzeit des Wilhelminismus bis heute, mit den "Wandlungen deutscher Kulturkonzepte im 20. Jahrhundert". Ergebnis: Unter "Kultur" verstünden die meisten Deutschen heute, anders als etwa in der ersten Jahrhunderthälfte oder noch in der Frühphase der DDR, "nichts spezifisch Erhebendes, Normschaffendes oder Ästhetisch-Vollendetes mehr" - sie gebrauchten den Begriff "immer stärker auf der Ebene ihres persönlichen Lebens- und Konsumverhaltens". Die gesellschaftliche Entwicklung habe enorme technische, auf steigenden Komfort drängende Fortschritte mit sich gebracht, aber auch zu einem unübersehbaren "Verlust ästhetischer und gesellschaftskritischer Alternativvorstellungen" geführt - was "manche Kulturkritiker und Kulturkritikerinnen", und womöglich meint der Verfasser nicht zuletzt auch sich selbst, "zusehends melancholisch" stimme. Diesem Befund kann man sich in seiner Allgemeinheit sicherlich getrost anschließen - zwingend aber ist er durchaus nicht, eher eine Einstimmung auf das Folgende.
In einer "Kulturgeschichte" geht es um die Formen und Inhalte von Literatur, Musik, Malerei, Film, Bildhauerei und Architektur, um deren gesellschaftliche Kontexte und wechselseitige Zusammenhänge und, wie sich in diesem Buch zeigt, noch um vieles mehr. Der Verfasser unterteilt seinen gewaltigen Stoff sinnvollerweise in sieben Großkapitel, wobei sich die "Epochengrenzen" nach den politischen Zäsuren richten. Das erste Kapitel heißt "Die letzte Phase des Zweiten Kaiserreichs (1900-1918)", handelt noch von Gründerzeit und Naturalismus, streift den wilhelminischen Goethe- und Schiller-Kult und setzt sich intensiver mit dem "Anwachsen ästhetizistisch-sezessionistischer Kunstströmungen" auseinander. In den Sezessionen hätten "allein der subjektive Faktor und der ästhetische Geschmack" gezählt, ein speziell den Impressionisten eigener, unpolitischer "Subjektivismus, der alle zwischenmenschlichen Beziehungen einem bindungslosen Egoismus opferte". Die vielfach propagierte Ungebundenheit des Bohème-Künstlers habe sich auf erotischem Gebiet am deutlichsten artikuliert, "alles Pathetische, Idealistische oder Sozial-Aufrüttelnde" sei aus der Mode gekommen - eine dekadente, "geradezu an Willkür grenzende Formlosigkeit" kennzeichne große Teile der impressionistischen Kunst. Ein "ins Kulinarische tendierender Sensualismus" aber wie im Art Nouveau oder im Jugendstil lasse naturgemäß jeglichen rebellischen Charakter vermissen, wie er der Lebensreformbewegung zumindest auf den ersten Blick hin eigen sei - wobei es dieser Bewegung primär um neue Formen des menschlichen Lebens und nicht um neue Formen der Kunst gegangen sei.
Ausdruckstanz, Gartenstadtbewegung, Nacktkultur oder Wandervogel werden kurz abgehandelt, auch die parallelen "volkhaft-heimatverbundenen Bestrebungen" in Malerei (Fritz Mackensen oder Albin Egger-Lienz) und Literatur (Gustav Frenssens "Jörn Uhl" oder "Der Wehrwolf" von Hermann Löns). Ein "neuer Monumentalismus" habe nach 1900 nicht nur die Baukunst ergriffen, sondern auch die neuidealistische Literatur (Stefan George, Paul Ernst, Carl Spitteler), den Inszenierungsstil der Bühnen und die Musik (Max Reger, Gustav Mahler) - ein Monumentalismus, der trotz hehrer Absichten "weitgehend im Bereich des Ästhetisch-Formalen oder gar Solipsistischen befangen blieb", anders als die allerdings ebenfalls sehr uneinheitlichen werkbetont-sachlichen Tendenzen beim Bauhaus oder im Werkbund. Nicht minder widersprüchlich als diese wirkten "jene ins Rebellische vorstoßenden Kulturaktivitäten", die man als "frühexpressionistisch" zu bezeichnen sich angewöhnt hat. Hier seien "ins Fessellose drängende Phantasien" und künstlerische "Wutausbrüche" gegen die spießige Umwelt zu verzeichnen, denen man "einen möglichst hemmungslosen Ausdruck" zu verleihen gesucht habe. Die Sprache der frühexpressionistischen Lyriker etwa habe sich "ständig im Bereich des Schreihaften, Stammelnden oder Geballten" bewegt und sich keinen Schockeffekt entgehen lassen. Wogegen sie waren, lasse sich rasch sagen - wofür sie aber über ihren Aktionismus hinaus eintraten, sei schwierig zu bestimmen, und auf eine "bestimmte kulturpolitische Gesamtlinie" könne man sie nicht festlegen. Soweit das erste Kapitel.
Spätestens hier muss die Information über die Inhalte dieser "Kulturgeschichte" unterbrochen und Grundlegendes zu Hermands Darstellungsweise angemerkt werden. "Sprache und Parteilichkeit" dieses Autors versetzten den Leser "in die Atmosphäre der siebziger und frühen achtziger Jahre: eine Art nostalgisches Klassentreffen". Das schrieb Andrea Gnam in einer in der Zeitschrift "Literaturen" (Nr. 7-8/2006) publizierten Besprechung von Jost Hermands ebenfalls 2006 erschienener Aufsatzsammlung "Freundschaft. Zur Geschichte einer sozialen Bindung", und genau das gilt auch für seine hier verhandelte Kulturgeschichte. "Hermands offen linke, ja marxistische Engagiertheit ist sympathisch, sorgt aber auch für enorme Vergröberung", bemerkt Wilhelm Trapp in der "Süddeutschen Zeitung" (13. Juni 2006) zum "Freundschafts"-Band, und auch das scheint genau auf die "Deutsche Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts" gemünzt zu sein. Man ist erst einmal verblüfft über einen Wissenschaftsjargon, der sich doch - offenbar nicht überall - ab 1980 peu à peu selbst erledigt zu haben schien. Man ist verblüfft über die sehr häufigen und erkennbar bedenkenlos eingestreuten Bezugnahmen auf eine grobschlächtige Soziologie marxistischer Provenienz, in der es von "Herrschenden", "großbürgerlichen Schichten", "Vertretern restaurativer Ideologievorstellungen" und "ins Manipulativ-Massenhafte zielenden Tendenzen", auch von "breiten Massen" und sich ins "gesellschaftliche Niemandsland" verirrenden Künstlern nur so wimmelt. Verblüfft und letztlich verärgert ist man schließlich über das dürftige Stilregister des Autors, der mit endlos wiederholten Wörtchen wie "infolgedessen", "demzufolge", "notwendig" oder "daher" sowie mit der scheinbar spezifizierenden Floskel "und zwar" argumentative Kohärenz und Folgerichtigkeit auch dort suggeriert, wo davon nun wirklich nicht mehr die Rede sein kann. Kurzum: Eine merkwürdige Studie, die der kulturhistorischen Entwicklung bis ins 21. Jahrhundert hinein mit der akademischen, manchmal nur halbakademischen Begrifflichkeit der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts beizukommen sucht.
Dass man in den weiteren sechs Großkapiteln über "Die Weimarer Republik (1919-1933)", "Die Ära des Nationalsozialismus und des Exils (1933-1945)", "Die Besatzungszeit (1945-1949)", "Die ehemalige Bundesrepublik Deutschland (1949-1990)", "Die Deutsche Demokratische Republik (1949-1990)" und "Die neue Bundesrepublik (1990-2000)" auch manch Anregendes findet, sei nicht verschwiegen. Vor allem die Ausführungen über Kultur und Kunst der Nazi-Zeit führen die enormen Kenntnisse des Verfassers oft eindrucksvoll vor Augen und legen sie auch wenigstens einigermaßen differenziert dar - mit dem Ergebnis übrigens, dass vieles, was zwischen 1933 und 1945 in Deutschland geschaffen wurde, "im Nachhinein ausgesprochen traditionell, unterhaltsam, ja geradezu harmlos" wirke und "auch heute noch aufgeführt, gezeigt, gespielt oder vorgeführt" werden könnte, ohne dass man spezifisch "Nationalsozialistisches" darin sehen oder hören würde. Selbstverständlich ist es bei einer derart groß angelegten Studie einigermaßen müßig aufzuzählen, wer oder was darin gar keinen Platz gefunden hat - und außerdem würde das den Umfang dieser Rezension erheblich erweitern. Man erfährt, dem Genre "Kulturgeschichte" gemäß, durchgängig eher Allgemeines, über das zu disputieren sich oft lohnte, lägen die Voraussetzungen für Hermands fast immer arg vergröbernde Bewertungen und Urteile offen zutage.
Ein Beispiel: Das unmittelbar politische Engagement einiger Expressionisten, etwa in der Münchner Räterepublik, erweise sich, "unter eine kritische Lupe genommen", oft als "subjektiv ehrlich, aber objektiv verfehlt". Ja schon, möchte man sagen, aber was heißt hier "objektiv verfehlt"? Dass Gustav Landauer oder Ernst Toller Künstler waren und keine kleinen Lenins? Dass man den Aufstieg Hitlers nicht verhindern konnte? Dass die Arbeiter mit der "Menschheitsdämmerung" so wenig anfangen konnten wie die meisten Expressionisten mit den Arbeitern? Es ist klar, dass ein rascher Parcours durch die Kulturgeschichte nicht viel Raum für Differenzierungen bietet - aber was besagt es, wenn sich die "Anhänger der Neuen Sachlichkeit" vehement für Sport, Technik oder ungebundene Erotik interessierten und nichts dagegen hatten, "diese Bedürfnisse im Rahmen einer weitgehend auf dem Prinzip von Angebot und Nachfrage beruhenden Freizeit- und Vergnügungsindustrie zu befriedigen"? Ist das ein Vorwurf? Bei Hermand wohl doch. Denn solche Bedürfnisbefriedigung habe letztlich dazu geführt, dass die Neue Sachlichkeit politisch wie kulturell ein "Zwittergebilde" geblieben sei, "das einen besonders guten Einblick in die notwendigen Widersprüche einer fast ausschließlich mit kommerziellen Mitteln angestrebten Demokratisierung erlaubt". Bereits die große Zeit der Döblin, Remarque, Keun oder Fallada habe einen ästhetischen Pluralismus etabliert, "in dem zwangsläufig die Tendenz ins Nivellierte einer freizeitorientierten Massenproduktion tonangebend wurde". Und nach dem 14. Oktober 1929 sei eigentlich sowieso alles zu spät gewesen. Das ahnte man im Grunde schon. Stimmt es auch?
Dass in der BRD der fünfziger Jahre "fast alle nationalen oder sozialverantwortlichen Vorstellungen innerhalb der sich in mehrere Teilkulturen aufsplitternden Freizeitszene zusehends in den Hintergrund" traten, ahnte man womöglich auch schon, ohne es aber jemals derart umständlich ausdrücken zu können. Gewiss nahm der Trend zur Unterhaltung in der nivellierten Mittelstandsgesellschaft immer weiter zu. Inwiefern sich dabei die westdeutschen "Massenmedien" als "höchst effektive Manipulationsorgane" erwiesen, "die in ihrer Wirkung fast die Opiumfunktion älterer Religionen übertrafen", müsste man wohl näher erläutern. Auch wo und wann eigentlich die Manager der Unterhaltungsindustrie "jedes Bedürfnis nach höherer Kunst und Kultur" als "Triebverzicht, unangebrachte Sublimierung und damit Konsummuffelei" diffamiert haben, bleibt kurz vor der Abbildung eines Plattencovers mit Peter Alexander ungeklärt stehen.
Egal ob es die "Documenta" gab, die "Gruppe 47" oder die "Donaueschinger Musiktage" - das hier vermittelte Bild der frühen BRD entspricht zuverlässig dem heute kaum noch haltbaren Klischee von den furchtbaren und finsteren Zeiten vor dem Erscheinen der "Blechtrommel". Erst in den frühen sechziger Jahren habe sich Neues getan, wenngleich die meisten Beteiligten - ob Publizisten wie Anders und Haffner, Wissenschaftler wie Habermas und Brückner oder Schriftsteller wie Enzensberger und Hochhuth - die bestehende Gesellschaftsordnung doch "lediglich verbessern oder ausbauen" wollten. Lichtblicke habe es dennoch gegeben: neue Malergruppen, den "Neuen deutschen Film" nach dem Manifest von Oberhausen, einige sozial engagierte Theaterstücke von Hochhuth, Weiss, Kipphardt, Walser, Sperr und Kroetz oder auch die Reportagen von Günter Wallraff.
Die "außerparlamentarische Poprevolte" der Jahre 1967 bis 1972 allerdings habe wenig Bleibendes hinterlassen und letztlich zum "Abflauen fast aller linken Tendenzen" und einem abnehmenden Interesse an der bisherigen E-Kultur geführt - ein Trend, der sich durch die immer schrillere "Spaßkultur", die späteren "melancholischen Subjektivitätsentladungen" in Literatur oder Malerei und die "Neue Philosophie" mit ihrem Hang zur Vernunftkritik noch verstärkt habe. Alle "ins Kollektive, Engagierte, Gesellschaftliche oder gar Parteiergreifende zielenden Tendenzen" seien im "ästhetischen Supermarkt" der Unterhaltungs- und Popkultur versunken - Hermand spricht gar von einem mit der Postmoderne vollendeten "Endsieg" über alle ideologieverdächtigen Wertvorstellungen.
Und das gelte mutatis mutandis auch für die DDR, wo man nach hoffnungsvollen und hier ausnehmend positiv dargestellten Anfängen - vor allem was die "Pflege des klassischen Erbes" betrifft - seit Mitte der siebziger Jahre verstärkt auf Unterhaltung gesetzt und damit den alten Traum Johannes R. Bechers von der "Erstürmung und Inbesitznahme der Höhen der Kultur" schrittweise begraben habe. Nach der "Wende" habe "der ästhetische Schulterschluss zwischen den anpassungsbereiten Ossis und den systemintegrierten Wessis" im Großen und Ganzen erstaunlich schnell stattgefunden: Es gebe heute fast kein Kunstwerk mehr, dem man eine gesellschaftlich eingreifende Funktion zuordnen könne. Rebellion und Avantgarde seien quasi Fremdwörter in der neuen "Berliner Republik", die sich, Feuilleton-Debatten und Kunst-Events hin oder her, fest im Griff der "konzerngesteuerten Unterhaltungsindustrie" befinde.
Ein wenig verwirrt legt man das schöne Buch beiseite, nicht ohne sich noch einmal zu vergewissern, dass es wirklich im Jahr 2006 erschienen ist. Die "Deutsche Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts" ist, bei allem was man sonst noch gegen sie einwenden könnte, methodisch durch und durch veraltet und sprachlich eine mittlere Katastrophe. Die siebziger Jahre lassen grüßen. Aber die neue CD von Yusuf Islam klingt ja auch wie die LPs von Cat Stevens. Doch ist das wirklich ein Trost?
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