Europa ins Bild gerückt

Traute Petersen führt anschaulich in die Kulturgeschichte des Kontinents ein

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In dem Bildband "Europa. Eine Kulturgeschichte in Bildern" macht sich die Historikerin Traute Petersen auf eine ikonografische Spurensuche. Was sie dabei zu Tage fördert, ist erstaunlich. Die Verdeutlichung der Entwicklungsphasen und wichtigsten Themen europäischer Kulturgeschichte anhand von charakteristischen Bildern ist nicht nur originell, sondern entpuppt sich als sehr eindrücklich und nachvollziehbar, weil maßgebliche Ideen, die in ihrer Entstehungs- und Wirkungsgeschichte sonst Gegenstand abstrakter Untersuchungen sind, sehr anschaulich in der bildenden Kunst des Kontinents nachgewiesen werden. Die Autorin analysiert dazu bedeutende Bilder, Skulpturen und Bauwerke als Manifestationen europäischen Gedankenguts und erläutert sie in leicht zugänglichen Texten. So ergibt sich ein lehrreiches und unterhaltsames Buch, das erfreulich unakademisch über Europa informiert, ohne jedoch auf einen hilfreichen Apparat mit Literaturangaben und Register zu verzichten.

Im einzelnen nimmt sich die Autorin vor, den europäischen Geist ausgehend von den drei Fundamenten des europäischen Hauses (griechische Kultur und Philosophie, römisches Recht und Staatsverständnis, christliche Ethik und Spiritualität) zu erschließen. Europa hat ihrer Ansicht nach fünf Pfeiler: 1. die Ablehnung der Allein- und Fremdherrschaft, die bis in den Tod reicht, wie Francisco de Goyas "Erschießung der Aufständischen" verdeutlicht, 2. die Machtbegrenzung und -kontrolle, die sonst rechtsphilosophisch und demokratietheoretisch mit Lockes Gewaltenteilung und mit Montesquieus Diktum "le pouvoir arrêt le pouvoir" verbunden, hier hingegen von der Autorin an mehreren Abbildungen von Parlamenten und der darauf klar erkennbaren Sitzordnung erläutert wird, 3. das Gleichgewicht der Kräfte (dessen Versagen Honoré Daumiers "Equilibre Européen" treffend versinnbildlicht), 4. die Idee der Freiheit (deren selbstzerstörerische Kraft - ein Thema, das aktueller kaum sein könnte - von Jean Baptiste Regnaults "Freiheit oder Tod" eingefangen wird) und 5. die Herrschaft des Rechts (Hier bleibt allerdings unklar, warum sich die Autorin bei dieser fünften tragenden Säule Europas auf mittelalterliche Darstellungen beschränkt).

Sodann widmet sich Peterson der Dialektik Europas, der ein dichotomisches Menschenbild zugrunde liegt. Steht der Mensch des Abendlandes in seinem Selbstverständnis zwischen Imago Dei und natura vitiata, so setzt sich auch Europa kulturell zwischen die Stühle: zwischen Begegnung und Trennung, Abgrenzung und Assimilation, Renaissancen und Revolutionen, Vernunft und Unvernunft. Immer wieder rückt dabei die Rolle der Religion in den Mittelpunkt. Schön, dass die Autorin sie auf beide Seiten der europäischen Medaille geprägt sieht und ihr nicht nur das Böse, Grauenvolle, Irrationale und Rückständige anhängt, sondern ihren Beitrag zu Fortschritt ("Papst Gregor in der Schreibstube", Elfenbeinschnitzerei, 10. Jh.) und Freiheit (Anton von Werner: "Luther vor Kaiser Karl V.") herausstellt.

Es ist klar, dass ein Bildband mit 144 Seiten und 55 besprochenen Bildern europäische Kultur der letzten 2500 Jahre nicht vollständig erfassen kann. Die Autorin verweist selbst darauf und markiert die Lücken insbesondere im Bereich der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Was man allerdings darüber hinaus noch vermisst, das sind die aktuellen Verortungen Europas in der zeitgenössischen Kunst. Das jüngste von der Autorin vorgestellte Werk stammt aus dem Jahre 1937. Dabei ist es gerade die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, die Europa institutionell entstehen lässt, in Anbindung an kulturelle und historische Traditionen. Man darf also vermuten, dass auch die zeitgenössische europäische Kunst den Zustand des kontinentalen Denkens und Fühlens spiegelt. Auch ganz aktuelle Probleme wie die Krise des europäischen Sozialstaatsmodells, der adäquate Umgang der europäischen Demokratie mit Herausforderungen wie Migration, Terrorismus und Neo-Faschismus oder auch Europas Selbstverständnis hinsichtlich seiner Grenzen und seiner Rolle in der globalisierten Welt sucht man in dem Band vergeblich, könnte es aber durchaus in Bildern und Skulpturen unserer Zeit finden.

Doch trotz dieser Einschränkungen ist das Buch lesens- und sehenswert, denn es wird in der Tat ermöglicht, Europa aus der Kunst heraus zu verstehen, und diese Deutungsleistung kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Europa-Laien werden dabei viel lernen können und Fachleute werden Bezüge zum eigenen Forschungsgebiet entdecken und ihre Vorträge zu historischen, juristischen oder politikwissenschaftlichen Europa-Themen künftig mit Traute Petersens künstlerischer Sicht auf kontinentale Kernkonzepte aufzulockern wissen. Denn womit lassen sich die Quellen des Verfassungsrechts anschaulicher illustrieren als mit Jean Jaques Le Barbiers Gemälde "Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte", wie lässt sich besser in die Problematik von Menschenbild und Menschenwürde einführen als mit Michelangelos "Die Erschaffung Adams", was führt das Grauen von Religions- und Kulturkämpfen einprägsamer vor Augen als die Bildzeugnisse europäischer Schlachten und Massaker wie François Dubois' "Bartholomäusnacht", was die Gefahr des Eurozentrismus treffender als Theodor de Brys "Kolumbus in der Neuen Welt"? Insoweit rücken Traute Petersens Analysen Europa ins rechte Bild und sorgen für den "Aha-Effekt" europäischer Selbsterkenntnis.


Titelbild

Traute Petersen: Europa. Eine Kulturgeschichte in Bildern.
Primus Verlag, Darmstadt 2006.
144 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3896785621

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