Der Reiz der fliegenden Gedärme

Arnhild Kantelhardts "Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen"

Von Wolfgang HaanRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Haan

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In unserer reizüberfluteten Welt bekommen wir jeden Tag in den Nachrichtensendungen genug Horrorbilder geliefert, die eigentlich für ein ganzes Leben reichen: verhungernde Kinder in Afrika, Bürgerkriegsopfer in Afghanistan, tote Soldaten im Irak. Um die Realität zu übertreffen, so glauben zumindest heutige Schriftsteller, Autoren, Drehbuchschreiber und Filmregisseure, muss man noch einen drauf setzen. Und so sägen sich zur Freude der Zuschauer Hauptdarsteller schon mal einen Fuß ab (SAW) oder lassen sich ihr eigenes Hirn als gebratene Delikatesse servieren (Hannibal). Neue Filme werden reißerisch angekündigt wie beispielsweise auf dem Cover des als renommiert geltenden DVD-Magazins DVD Vision, Ausgabe 11/2006: "Härter, blutiger, spannender" ("The Hills have eyes") oder "Garantiert nichts für PlayStation-Kids" ("Silent Hill Code 1").

Der Gerstenberg Verlag beweist mit seinem großformatigen und großzügig ausgestatteten Hausbuch der Gespenster- und Gruselgeschichten "Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen", dass alleine Fantasiefähigkeit, eine Geschichte voller Suspence und adäquate Illustrationen vollkommen ausreichen, um wohlige Schauer und nachhaltiges Gruseln auszulösen. Damit steht dieses Buch in der Tradition von Friedrich Wilhelm Murnaus "Nosferatu" (1922), Paul Wegeners "Der Golem" (1914) und Hitchcocks "Psycho" (1960). Diese Filme führten als Neuerungen teils surrealistische Effekte ein, welche nur durch den neuartigen Einsatz von Licht, Schatten und Kamerawinkel erreicht und bis heute immer wieder kopiert, aber nicht übertroffen werden.

Danach gefragt, welcher klassische Autor das Horrorgenre erfunden hat, würden wohl viele Bram Stoker und "Dracula" (1897) antworten. Doch die Wurzeln reichen viel weiter zurück. Unter Liebhabern der anfänglich "Schauergeschichten" genannten Literaturgattung gilt heute allgemein Horace Walpole mit seinem Roman "The Castle of Otranto", geschrieben 1764, als Erfinder. Das dieses Frühwerk in der Sammlung des Gerstenberg Verlages nicht enthalten ist, ist durchaus sinnvoll. Die vorhandenen 23 Geschichten liegen alle in ungekürzter, möglichst werkgetreuer Version vor und die fast 250 Jahre alte Geschichte ist für heutige Verhältnisse verdreht und schwierig lesbar geschrieben. Andere klassische Autoren sind jedoch erwartungsgemäß enthalten. Beispielsweise E.T.A. Hoffmann, die Gebrüder Grimm oder Charles Dickens. Überrascht wird der Leser dadurch, dass in der Sammlung auch viele Autoren enthalten sind, die als Meister in anderen Literaturgattungen gelten. Da wären beispielsweise Kurzgeschichten von Agatha Christie, Rudyard Kipling, Anton Cechov oder Otfried Preußler.

Einen ungewöhnlichen, aber vom ersten Augenblick an faszinierenden Anblick bieten die teils surreal anmutenden Bilder von Kat Menschik, die durchgehend zu begeistern wissen. Fast ausschließlich verwendet sie einen relativ schmalen, doch die volle Breite der Seite in Anspruch nehmenden Grafikausschnitt, der an das Format der alten Cinemascope-Filme erinnert. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um eine Totale oder ein Close-Up handelt. Ihre Farbkompositionen sind aufeinander abgestimmt. Braun, rot, blau und Grau-Weiß-Schattierungen dominieren die Zeichnungen. Grelle Farben findet man nie. Genrebedingt sind die Farben abgetönt, die Stimmung oft sinister, bedrohlich und unheilverkündend, obwohl man als Leser oder Betrachter noch gar nicht weiß, wovon sie eigentlich ausgeht. Unbestritten besteht zwischen Geschichte und Illustration eine phänomenale, fast zwingende Kongruenz, die bei Büchern dieses Genres bisher als fast Einzigartig gelten darf. Dieser Eindruck wird sowohl durch das Hochformat des Bandes als auch durch die verschiedentlich in den Text eingefügten, briefmarkengroßen Zeichnungen abgerundet. Diese Wirken wie ein plötzliches Wetterleuchten, das einzelne Sätze, Gegenstände oder Gefühlsregungen für einen Augenblick aus der Dunkelheit des Textes hebt. Verschwindet (durch weiterlesen) dieses gleißende, aufblitzende Licht, bleibt ein Unwohlsein, das den Leser zusätzlich erschreckt oder verwirrt.

Doch nicht die Lesung ist grauenvoll, sondern die erzählten Geschichten sind gruselig. Auf den zwei CDs des Hörbuches sind insgesamt 10 der 23 Geschichten der Buchvorlage enthalten. Die Hörbuchausstattung und die Sprecher Barbara Müsse und Bernd Stephan bemühen sich redlich, an das Gruselniveau der Buchvorlage heranzureichen - und Scheitern. Allein die Illustrationen von Kat Menschik vermitteln solch subversiven Horror, wie sie kein noch so begabter Sprecher auf einem Hörbuch vermitteln kann. Es sei denn, man hört sich das Hörbuch als einziger Gast in einem windumtosten, zugigen, verlassenen Gemäuer, vor dem langsam verlöschenden Kamin sitzend, die Szenerie nur beleuchtet von flackerndem Kerzenlicht, an - und plötzlich hört man draußen im Flur ein Geräusch.

Als eigenständiges Medium, ohne vergleichende Betrachtungen, kann das Hörbuch natürlich schon auf Grund der professionellen Sprecher überzeugen. Beide ziehen den Hörer in ihren Bann, beide beginnen die Geschichten fast beiläufig, so, als fragte man nach dem Wetter. Doch schnell mischt sich ein drängenderer Ton ein, schwillt die Lautstärke der Stimmen von flüsternd bis überschnappend, schwankt die Sprechgeschwindigkeit von beruhigend bis panisch-holpernd. Manchmal, bei längeren Kunstpausen, hält man selbst den Atem an und neigt lauschend den Kopf, ob man nicht doch das erlösende Geräusch oder nahende Hilfe hört. Nur um dann von der drängenden Stimme in die Gegenwart zurückgezogen zu werden - verloren in eigenen Ängste und Befürchtungen.

Man merkt der Produktion des Gerstenberg Verlages an, dass es sich nicht um die Produktion einer Serie, sondern um ein Unikat handelt. Denn die Sorgfalt, die Sprecher und Verlag bezüglich der gestalterischen Ausformung und Auswahl haben walten lassen, kann man getrost als ungewöhnlich aufwändig betrachten. Daraus resultiert eine Ausnahmestellung und führt hoffentlich, für den Hörer, zu einem Umdenken auch bei Produktionen anderer Hörbuchverlage. Denn dort erscheinen Genre-Hörbücher häufig in vierteljährlichen Abständen mit offenbar willkürlich zusammengestellten Geschichten unterschiedlichst begabter Autoren und Sprecher.

Für Eltern, die sich nach der Lektüre der vorliegenden Rezension fragen, ob diese Gruselgeschichten für Kinder geeignet sind, sei einfach aus dem ausführlichen und erklärenden Vorwort Hausbuch der Gespenster- und Gruselgeschichten zitiert, dem sich der Rezenent übrigens als Vater einer 8-jährigen Tochter, mit der wir gemeinsam das Buch gelesen haben, nur anschließen kann (mit freundlicher Genehmigung des Verlages):

"Die meisten dieser Geschichten dieser Sammlung sind nicht explizit für Kinder geschrieben, und nicht alle sind für Kinder jeden Alters und für besonders sensible Kinder geeignet - deshalb sollten sie erwachsene Vorleser vorher lesen.

Dennoch gilt: Kinder sind für gute Gruselgeschichten selbst empfänglicher als Erwachsene, denn sie sind noch offen für alles Unerhörte und Ungesehene. Eine Unterscheidung zwischen Spukgeschichten für Kinder und für Erwachsene greift ins Leere. Entschärfte, harmlose Gruselgeschichten verfehlen ihre Wirkung. Die geheimnisvollen Szenerien, die die Klassiker des Genres für uns entfalten, entsprechen vor allem der berechtigten Sehnsucht von Kindern und jungen Menschen, über den Rand unserer scheinbar geheimnisvollen Alltagswelt hinauszuschauen."


Titelbild

Arnhild Kantelhardt (Hg.): Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen.
Jumbo Verlag, Hamburg 2006.
138 Minuten, 17,95 EUR.
ISBN-10: 3833716258

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