Im virtuellen Freischärlerkampf

Jochen Böhler analysiert die Verbrechen deutscher Soldaten in Polen im September/Oktober 1939

Von Armin NolzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin Nolzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 5. September 1939 marschierte das Infanterie-Regiment (IR) 9, die Eliteeinheit der Potsdamer Garnison, die in der Tradition der Garderegimenter der Königlich-Preußischen Armee stand, wenige Kilometer südlich von Bromberg (Bydgoszcz) in Richtung Schwetz (Swiecie). Am Rande einer kleinen Ortschaft geriet das Regiment, das im Operationsgebiet der 4. Armee der Heeresgruppe Nord agierte, kurzzeitig unter Beschuss, besetzte den Ort aber kampflos und ohne Verluste. Wenig später stieß eine deutsche Feldgendarmerie-Einheit hinzu, und ein Leutnant verkündete dem überraschten Zugführer eines Bataillons des IR 9: "Wir müssen hier aufräumen".

Kurz darauf ließ er von dreißig verhafteten jungen Männern 15 erschießen, weil sie angeblich auf deutsche Soldaten gefeuert hätten. Auf die Nachfrage, wie er seine Exekutionsopfer überhaupt ausgewählt habe, antwortete der Leutnant lakonisch, er habe sie antreten lassen und gefragt, wer unter ihnen katholisch und wer evangelisch sei. Die Katholiken, die daraufhin nach rechts heraustraten, seien für ihn Polen gewesen und wurden sofort erschossen. Die auf der linken Seite versammelten 15 Protestanten, so die Argumentation des Leutnants, müssten natürlich als "Volksdeutsche" gelten.

Diese bizarre Episode, die Jochen Böhler, Mitarbeiter des Deutschen Historischen Instituts in Warschau, in seiner Studie über die Verbrechen deutscher Soldaten in Polen im September 1939 schildert, war bei weitem kein Einzelfall. Allenthalben wurden wahllos Zivilisten erschossen - und zwar von Einheiten des Heeres, den im rückwärtigen Heeresgebiet operierenden Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes der SS, vom Volksdeutschen Selbstschutz, einer paramilitärischen Miliz einheimischer Volksdeutscher sowie von Angehörigen der Geheimen Feldpolizei. Mit den Heeresgruppen Nord und Süd drangen im Morgengrauen des 1. September 1939 insgesamt 1,5 Millionen Soldaten auf polnisches Territorium vor. Als die Wehrmacht am 25. Oktober 1939 die "vollziehende Gewalt" abgab und das besetzte Gebiet komplett unter Zivilverwaltung gestellt wurde, waren als Folge von Artilleriebeschuss und Luftangriffen mehr als 10.000 Polen ums Leben gekommen. Weiterhin schätzt Böhler, dass 3.000 polnische Soldaten abseits der Kampfhandlungen starben. Zusätzlich ermittelte er 714 Exekutionen, bei denen über 16.000 polnische Zivilisten hingerichtet wurden.

Der Autor konzentriert sich ausschließlich auf gewaltsame Übergriffe von Wehrmacht-Angehörigen, die außerhalb des eigentlichen Kampfgeschehens stattfanden. Er schildert Exekutionen, Plünderungen, Vergewaltigungen, Drangsalierungen polnischer Kriegsgefangener und - ein immer wiederkehrendes Phänomen - die Geiselnahme polnischer Juden, die mit deren Vertreibung ins sowjetisch besetzte Gebiet östlich der Demarkationslinie oder mit deren umstandsloser Ermordung endete. Auf der Basis deutscher Militärakten, den Ermittlungsverfahren, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland und Polen stattfanden, und den Zeugenaussagen polnischer Opfer, die ihren Häschern entronnen waren, reiht er auf 200 Textseiten ein Verbrechen deutscher Soldaten ans andere. Für jedes Operationsgebiet der Wehrmacht in Polen zeichnet Böhler ausnahmslos dasselbe Bild. Ein schneller Vormarsch, wenige Kampfhandlungen mit der polnischen Armee, die Festsetzung ziviler Geiseln, die völkerrechtswidrige Trennung von Kriegsgefangenen nach Polen und Juden, Brandschatzungen in polnischen Dörfern und Massenerschießungen so genannter Freischärler. Die Opfer waren polnische Priester, Männer im wehrfähigen Alter, Frauen, Kinder und die bei deutschen Soldaten offensichtlich so verhassten "Ostjuden", die aufgrund ihrer Tracht leicht identifiziert werden konnten.

Woraus erklären sich die Massenverbrechen deutscher Soldaten, bedenkt man, dass die Wehrmachtführung bei Beginn des "Polenfeldzuges" das Völkerrecht nicht ausdrücklich suspendiert hatte, wie es beim Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 der Fall sein sollte? Böhler differenziert zwischen den mittel- und langfristigen mentalen Prägungen der am "Polenfeldzug" beteiligten Soldaten und situativen Aspekten. Er betont, dass sich deutsche Soldaten als überlegene "Herrenmenschen" und Vorkämpfer der deutschen Kultur fühlten und belegt dies anhand des Diskurses über "Schmutz" und "Sauberkeit", wie er sich in ihren Feldpostbriefen manifestiert. Überzeugend zeichnet Böhler den unverhohlenen Antisemitismus vieler Soldaten nach, der nicht zuletzt auch aus ihrer Sozialisation in den paramilitärischen Formationen der NSDAP vor 1939 resultierte.

Im Mittelpunkt seiner Argumentation steht eine kollektive "Freischärler-Psychose", die sich in den ersten Tagen des deutschen Vordringens auf polnisches Gebiet entwickelte und vom Autor mit ähnlichen Phänomenen verglichen wird, die im August 1914 beim Einmarsch der kaiserlichen Armee in Belgien aufgetreten waren. Auch in Polen 25 Jahre später bildeten sich viele Soldaten ein, dass hinter jeder Hecke ein Partisan lauere, und diese Wahnvorstellung führte zu einer immensen Nervosität, die manches Mal einen gegenseitigen Beschuss zur Folge hatte.

Keinen Zweifel lässt Böhler daran, dass die imaginierte Bedrohung durch Partisanen nicht der Realität entsprach. Die deutschen Soldaten fanden weder Waffen, geschweige denn ergriffen sie bewaffnete Zivilisten. Sie erschossen präventiv diejenigen Personen, die man als "lichtscheues Gesindel" ansah, und rechtfertigten dies nachträglich mit einer vermeintlichen Partisanengefahr. Nicht ein einziges Beispiel eines Hinterhaltes, aus dem deutsche Soldaten beschossen wurden, hat Böhler ausfindig gemacht. Er bezeichnet das Vorgehen der Wehrmacht in Polen im September/Oktober 1939 daher nicht zu Unrecht als "virtuellen Freischärlerkampf".

Böhlers minuziöse Studie, die erstmals alle erreichbaren Dokumente sowie die reichhaltige polnischsprachige Literatur zu einer Gesamtschau vereinigt, ist beispielhaft. Sie zeigt, wie Antisemitismus, ein Gefühl kultureller Überlegenheit und die kollektive "Freischärler-Psychose" deutscher Soldaten in unkontrollierte Gewalttaten mündete, deren Opfer, wie im Eingangsbeispiel gezeigt, oft je nach Laune der Exekutoren auswählt wurden. Bisweilen verallgemeinert Böhler seine Einzelfälle aber zu stark, sodass die quantitative Dimension einiger Verbrechen, vor allen Dingen der Vergewaltigungen, möglicherweise überschätzt wird. Dennoch kann kein Zweifel daran bestehen, dass die massive Gewaltanwendung deutscher Soldaten in Polen eine Vorstufe jenes Vernichtungskrieges bildete, den die Wehrmacht eineinhalb Jahre später gegen die Sowjetunion begann. Den "Polenfeldzug" als integralen Bestandteil einer verbrecherischen Kriegsführung des NS-Regimes ins Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt zu haben, darin besteht das wahrlich nicht geringe Verdienst dieser Studie. Die Bundeszentrale für Politische Bildung ist dafür zu beglückwünschen, dass sie dieses Buch mittlerweile in ihr Programm aufgenommen hat. So wird es verdientermaßen einen breiten Leserkreis finden.


Titelbild

Jochen Böhler: Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
280 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-10: 3596163072

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