Ein Buch mit Peinlichkeiten

Matthias Luserke-Jaquis Buch über Friedrich Schiller

Von Gerhart PickerodtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhart Pickerodt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Schiller-Jahr 2005 hat eine Fülle von Literatur zum Jubilar hervorgebracht, die zum Teil sogar den Charakter von Bestsellern trug, denkt man etwa an die populären Werke Rüdiger Safranskis ("Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus", 2004) oder Norbert Oellers' ("Schiller. Elend der Geschichte, Glanz der Kunst", 2005).

Hier nun gilt es ein weiteres Schiller-Buch aus dem Jahr 2005 anzuzeigen, dem als Bestandteil der UTB-Reihe im akademischen Milieu vielleicht eine Popularität eigener Art zukommen wird. Jedenfalls erwartet man Präzision und Zuverlässigkeit.

Bereits das Cover verspricht "eindrückliche Textanalysen" - wahrscheinlich konnte sich der Verlag sich entscheiden, ob er "eindringliche" oder "eindrucksvolle" sagen wollte, und so wählte er das Ungetüm -, und des weiteren soll der Leser durch Schiller und das vorliegende Buch erfahren, was der Mensch ist. Der Verfasser möchte zu einer "intensiven Lektüre des schillerschen Werks" einladen, "das ein ums andre Mal zeigt, welche Bedeutung der Mensch für die Literatur und welchen Nutzen die Literatur für den Menschen hat." So kurz und schlüssig ist der enge Zusammenhang von Gegenstand und Nutzen der Literatur in der jüngeren Vergangenheit selten formuliert worden! Auf solche Weise wird eine hochgespannte Lesererwartung erzeugt, die noch gesteigert wird durch das ohne falsche Bescheidenheit vorgebrachte Versprechen des Verfassers, sein Buch enthalte "eine Vielzahl neuer Detailbeobachtungen zu Schillers Werken." Es sei "aus einer langen, gründlichen Auseinandersetzung mit den Quellen und der Forschungsliteratur entstanden." Wehe, so scheint der Selbstrezensent sagen zu wollen, wer dem zu widersprechen wagte!

Dennoch ist Widerspruch nötig, weil das Buch den hochfahrenden Ansprüchen keineswegs durchgängig zu entsprechen vermag, weder im Hinblick auf die Zuverlässigkeit von Sachaussagen noch im Hinblick auf interpretatorische Verfahrensweisen oder methodische Überzeugungskraft. Die Schwächen des Bandes sollen hier exemplarisch belegt werden, insbesondere an dem Kapitel zu "Don Karlos".

Zunächst zum Methodischen: Am Ende des Kapitels heißt es zur Frage nach der Einheit des Stückes: "Schiller argumentiert anthropologisch, seine Kritiker und Interpreten - bis heute - hingegen poetologisch, also form- und strukturanalytisch." Da Schiller indessen keine anthropologische Abhandlung geschrieben hat, sondern ein Drama, wird niemand eine strukturanalytische Argumentation beiseite schieben können, auch der Autor Schiller nicht, der im übrigen in seinen "Briefen über Don Karlos" durchaus strukturelle Überlegungen angestellt hat. Der konstruierte Gegensatz "anthropologisch" - "poetologisch" ist demnach, bezogen auf poetische Texte, gänzlich unsinnig.

Schlimmer noch als derartige methodische Missgriffe sind Missverständnisse des Textes, die keinem Proseminaristen zu konzedieren sind, umso weniger einem Verfasser, der sich des gründlichen Studiums der Quellen, also der Texte, rühmt. In der 22. Szene des vierten Aktes wird der vom Oberpostmeister Raimond von Taxis abgefangene Brief Posas nach Brüssel dem König überbracht. Luserke-Jaqui kreidet Schiller an, die Szene sei einerseits "redundant", andererseits "widersprüchlich". Posa hätte doch wissen müssen, dass der Brief aufgrund der Loyalität des Postmeisters zum König diesem ausgehändigt würde. Und der Verfasser gibt Schiller treuherzig den Rat, Posa hätte besser daran getan, sich - "wie in solchen Fällen üblich" - eines geheimen Boten zu bedienen. Was dem Verfasser dabei entgangen ist und was er zur Not bei Kindler hätte nachlesen können: Posa intendierte, dass der Brief abgefangen würde, weil er sich für Karlos opfern zu müssen glaubte. Ein weiteres Beispiel für ein mangelhaftes Textverständnis ist der Satz: "Don Karlos ist im fünften Akt inzwischen auf Veranlassung Posas inhaftiert worden." Dass Karlos aber bereits in der 16. Szene des vierten Aktes inhaftiert wurde, darauf mag das "inzwischen" verweisen. Gleichwohl verfehlt der eigentümlich verschwommene Satz das Faktum, dass im fünften Akt Posa bereits wieder bei Karlos ist und ihm den Grund für sein Handeln erklärt. Für einen angeblichen Bruch in Posas Charakter, der im vierten Akt sich seinem Wahrheitsanspruch aus dem dritten Akt entgegen verhalte, macht der Verfasser zumindest probeweise eine "dramaturgische Inkonsequenz" Schillers verantwortlich, "da der Vorabdruck des Don Karlos nach dem dritten Akt abbrach." Der Vorabdruck bricht indessen nicht nach dem dritten Akt ab, sondern vor der zehnten Szene des dritten Aktes also vor der Unterredung zwischen dem König und Posa. Zumindest kann also der "Vorabdruck" - gemeint ist das Thalia-Fragment - nicht als Begründung für einen angeblichen Charakterbruch Posas herangezogen werden. Alle diese Beispiele sind nicht etwa strittige Interpretationsfragen, sondern ganz schlichte Defizite der Textlektüre, die deswegen so ärgerlich sind, weil der Verfasser sie zur Kritik an Schillers dramaturgischer Verfahrensweise nutzen zu dürfen glaubt.

Auf der Ebene der Text-Interpretation finden sich gehäufte Banalitäten, so wenn es anlässlich des Disputs zwischen dem König und Posa heißt, Philipp habe die Wendung des Gesprächs "offensichtlich" nicht erwartet: "Das zeigt auch, wie weit Philipp II. tatsächlich als Repräsentant einer absolutistischen Monarchie von derartigen republikanischen Überlegungen entfernt ist." Abgesehen nun davon, dass Posa keine "Überlegungen" anstellt, sondern Grundsätze ausspricht: Wie komisch wäre es, wenn ausgerechnet der König republikanischem Gedankengut des 18. Jahrhunderts nahe stünde! Darf man also tatsächlich, ohne sich lächerlich zu machen, darauf verweisen, dass König Philipp dem Republikanismus fern steht? Im selben Zusammenhang verweist der Verfasser aufgrund der Posa-Aufforderung an den König ("Stellen Sie der Menschheit / Verlornen Adel wieder her.") darauf, Posa vereine in seinem "politischen Denken" "einen republikanischen und einen monarchistischen Ansatz." Selbst wenn man den Begriff "Adel" wörtlich nähme, ließe sich daraus kein "monarchistischer Ansatz" herleiten, eher im Gegenteil. Posa gebraucht jedoch den Begriff metaphorisch im Sinne von "Würde", in dem Sinn also, dass die Monarchie die Menschenwürde unterdrückt hat. Wo hier beim Kritiker der Monarchie ein monarchistischer Ansatz liegen soll, weiß der Verfasser allein.

Das Bild der Karlos-Interpretation erfährt seine besonderen Akzente durch Kalauer wie diesen: "Der König erkennt seine Ohnmacht und fällt in Ohnmacht." Oder die Formulierung: "Das Drama führt vor Augen, es gibt keine Freiheit ohne den Menschen." Da es nicht um Freiheit im Tierreich geht, führt das Drama dem gründlichen Schiller-Forscher zufolge nichts vor Augen, was nicht bereits im Begriff der Freiheit gesetzt wäre: eine anthropologische Grundeinsicht, ungetrübt von intellektueller Anstrengung! Oder: "Der 'Falkenblick der Liebe' (V. 1213) [...] erweist sich in der Wirklichkeit des Liebens als ausgesprochen kuhäugig." Eine kühne Kritik an Schiller, ähnlich den dramaturgischen Besserwissereien. Ansonsten findet sich in diesem Kapitel viel Handlungsreferat, versetzt mit einem Hauch von semiotischen Dechiffrierungsversuchen.

Damit man nicht meint, es werde hier nur ein misslungenes Kapitel vorgestellt, soll noch kurz auf ein anderes Kapitel bezuggenommen werden: "Kabale und Liebe". Auch hier findet sich ein grober Irrtum in der Textwiedergabe, wenn es heißt: "Louise selbst wird erpresst, einer Vermählung mit Hofmarschall von Kalb zuzustimmen." Tatsächlich wird Louise erpresst, in einem Brief ein fingiertes Liebesverhältnis mit Kalb zu offenbaren. Der Sekretär Wurm macht der Verzweifelten dann ein verschleiertes Angebot, selbst die Ehe mit ihr einzugehen.

Rechnet man solche Fehllektüren auf das gesamte Buch hoch, so könnte der Befund, über die einzelnen Fälle hinaus, erschreckend sein. Hinzu kommt eine Sprache, der es vielfach an Präzision mangelt, die voller Banalitäten ist und nicht einen auch nur geringfügigen Ansatz zur Selbstreflexion der interpretatorischen Verfahrensweise verrät. So steht am Ende der Anzeige dieses Buches das Bekenntnis des Rezensenten, dass ihn die Lektüre nicht selten peinlich berührt hat. So darf Literaturwissenschaft sich nicht selbst destruieren. Und wem sollen die Studierenden vertrauen, wenn sie bemerken, dass ihre Lehrenden die Texte nicht mehr annähernd korrekt zu lesen vermögen?


Titelbild

Matthias Luserke-Jaqui: Friedrich Schiller.
Francke Verlag, Tübingen 2005.
458 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 382522595X

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