Vom Ideogramm zum Hypertext

Das Konkursbuch "Schreiben" versammelt Werkstattberichte, Essays, Kulturgeschichte und fiktionale Texte übers Texten

Von Ulrike SchuffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Schuff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Schreiben ist leicht. Man muss nur die falschen Wörter weglassen", lautet eine ebenso brillante wie bodenständige Antwort auf die berüchtigte Frage an Schriftstellerinnen und Schriftsteller nach dem Warum, Wie oder Wofür des Schreibens. Ebenso pointiert - und pragmatisch - wie Mark Twain, von dem dieses Zitat stammt, bezeichnete Dorothy Parker Schreiben als "die Kunst, den Hintern auf dem Stuhl zu lassen".

Antworten, die genauso zutreffen wie sie sich in ihrer herben Lakonie einer Auskunft verweigern, weshalb sie vermutlich auch so gerne und oft von Schreibenden zitiert werden. Denn die Frage "Warum schreiben Sie?", die sich unter Autorinnen und Autoren nicht gerade großer Beliebtheit erfreut, ist, so die Berliner Schriftstellerin Felicitas Hoppe, nicht überflüssig, sondern schwer zu beantworten. Unter anderem deshalb, so Hoppe in ihrem Essay "Blinde Hühner", weil sie die Undurchsichtigkeit des Schreibens auf naive Weise in helles Licht rückt. Eine Undurchsichtigkeit, die Leserinnen und Leser im "Konkursbuch 44" mit dem schlichten Titel "Schreiben" erkunden können. Über 40 Autorinnen und Autoren beantworten die Frage "Seit wann und warum schreiben Sie?" auf unterschiedliche Art, nähern sich dem Thema in autobiografischer Selbstauskunft, essayistisch, fiktional erzählend, in Gedicht- und Briefform, beleuchten unterschiedliche Varianten des Schreibens, neben dem Dichten und Erzählen zum Beispiel das journalistische Schreiben, das Verfassen von Unterhaltungsliteratur, das Weblog als Kunstform oder den Hypertext.

Es geht - in den autobiografischen Annäherungen - um Schreiblust und Schreibqual, um Disziplin, ums Nichtschreiben (zum Beispiel um die Lust, ungeschriebene Romane zu verfassen), um Schreiben als Sucht oder als Rettungsanker und immer wieder um die Frage, warum man, obwohl man vom Schreiben nicht leben kann, ohne das Schreiben nicht leben kann. Erinnerungen an das Schreibenlernen, die Schiefertafel, das Tagebuch, die erste Schreibmaschine, der erste PC, die Faszination von Schreibwarenläden und Papierhandlungen wechseln ab mit Werkstattberichten, der Sucht und Suche nach Worten, dem richtigen Ausdruck, dem Ringen um die Form.

Wie verbringen Schriftsteller ihren Tag? Wie schaffen sie es, den Hintern auf dem Stuhl zu lassen? Wie schreibt es sich in einer fremden Sprache, und was passiert, wenn man - wie deutschsprachige Juden in Israel in den Anfangsjahren des Exils - in der eigenen Sprache nicht mehr schreiben kann? Was haben die Romane von Charles Dickens mit den Links im Internet gemein, und wieso ist ein Roman noch immer das spannendste Interface in andere Welten? Was haben japanische Ideogramme mit dem merkwürdigen Eigenleben von Buchstaben zu tun und was macht ein Weblog zur Kunst? Fragen, auf die "Schreiben" spannende, eigenwillige, witzige und ernsthafte Antworten liefert.

Die beiden Herausgeberinnen Claudia Gehrke und Regina Nössler, die im Vorwort mit untergründigem Entsetzen davon berichten, wie viele Menschen - nämlich "ganze Heerscharen" - schreiben, "und zwar keineswegs Postkarten oder Tagebuch, sondern vermeintlich literarische Texte", haben ein abwechslungsreiches Lesebuch zusammengestellt, mit schönen Illustrationen und zahlreichen Schreibtischfotos der Autorinnen und Autoren. Wem die autobiografischen Selbstauskünfte mitunter zu langatmig werden, kann einfach weiterblättern zur Geschichte der Zensur oder einer kulturhistorischen Abhandlung über die Geschichte des Tintenkillers bis ins erste Jahrtausend vor Christus folgen.

"Schreiben" ist keine Anleitung zum kreativen Schreiben, wartet nicht mit Tipps auf, wie man einen Roman, eine Kurzgeschichte, einen Bestseller schreibt. Und macht doch Lust auf das Schreiben - oder doch zumindest auf das Lesen. Wie war das mit Dickens und der Familienzusammenführung verwaister Datenpakete? Oder - nach so vielen Jahren - vielleicht doch noch einmal zu Marie Luise Kaschnitz greifen? Oder den Links zu den literarischen Weblogs folgen...


Titelbild

Claudia Gehrke / Regina Nössler (Hg.): Konkursbuch 44 "Schreiben".
Konkursbuchverlag, Tübingen 2006.
296 Seiten, 15,50 EUR.
ISBN-10: 3887692446

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