"Man braucht zu verschiedenen Zeiten verschiedene Übersetzungen"

B. K. Tragelehns "zeitgemäße" Neuübersetzung von Shakespeares "Der Sturm"

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Traditionell gilt "The Tempest" als das letzte Stück Shakespeares und wird als sein literarisches Vermächtnis, als Quintessenz seines dramatischen Schaffens oder auch als enigmatischer Abschiedskommentar rezipiert. Selbst die wenig romantische Feststellung der Literaturhistoriker, dass der englische Nationaldichter in der Folge noch an weiteren Stücken zumindest mitarbeitete, vermochte den Nimbus, der das Stück umgibt, nicht nachhaltig zu schädigen. Uraufgeführt (wahrscheinlich) am 1. November 1611, ist "Der Sturm" ein Stück über rechtmäßige und angemaßte Macht, schwarze und weiße Magie, Wissensdurst und Forscherdrang, über die Schattenseiten der aufkeimenden Kolonialbestrebungen, Fremdheit und Unterdrückung, aber auch über die Macht der Sprache und der Liebe. Nach John Fords "Schade, dass sie eine Hure war", Shakespeares "Was Ihr wollt" und dem "Wechselbalg" von Thomas Middleton und William Rowley legten die Herausgeber und Übersetzer C. M. und B. K. Tragelehn mit "Der Sturm" nun kürzlich das vierte Stück in ihrer momentan auf 18 Dramen angelegten Reihe "Alt Englisches Theater Neu" vor.

B. K. Tragelehns "Sturm" ist ein praxiserprobter Bühnentext: Die hier veröffentlichte Version fußt auf einer bereits 1977 erstellten Übersetzung, die in der Folge an zahlreichen Theatern gespielt und sukzessive weiter bearbeitet wurde. Das herausragendste Merkmal der Übersetzung ist zweifelsohne ihre Direktheit. Fern ab von jeglichen Manierismen übersetzt Tragelehn den Shakespeare'schen Text mit einer scheinbar mühelosen Präzision: "We are such stuff / As dreams are made on and our little life / Is rounded with a sleep" gerät bei ihm weder zum "Wir sind aus solchem Zeug / wie das zu Träumen, und unser kleines Leben / ist umringt von Schlaf" Wielands noch zum Fried'schen "Wir / Sind solcher Stoff, aus dem Träume gemacht sind, / Und unser kleines Leben rundet Schlaf ab"; stattdessen formuliert Tragelehn mit einer (fast) unanfechtbaren Texttreue: "Wir sind ein Stoff / Aus dem man Träume macht. Das kleine Leben / Rundet ein Schlaf." Dass dabei zuweilen (aus primär metrischen Gründen) auch das eine oder andere Wort auf der übersetzerischen Strecke bleibt, ist in Einzelfällen durchaus bedauerlich - wie etwa bei Mirandas "O brave new world / That has such people in't!", das zu "O neue Welt / Die solche Menschen hat" verkürzt wird -, lässt sich aber wohl kaum völlig vermeiden. Obgleich eine solche Direktheit der Übersetzung gerade bei einem Drama Shakespeares auch Anlass zu allerlei Befürchtungen geben kann, bleibt Tragelehns Sprache doch stets so moderat, dass selbst die zartbesaitetsten Theaterbesucher wohl keine Probleme mit der textuellen Gestaltung gehabt haben dürften. Beim Lesen eher verwirrend ist die Vielzahl von Klammern, die der Übersetzer jedoch aus der Textgestaltung des First Folio übernahm und die ihm als Indiz für einen Gestuswechsel der Charaktere gelten. Weitaus befremdlicher - da unbegründet - ist allerdings die Tatsache, dass der gesamte Band recht unentschlossen zwischen neuer und alter Orthografie schwankt, so dass sich das traditionelle "daß" in trauter Eintracht mit dem Heyse'schen "dass" findet.

Neben dem eigentlichen Dramentext wartet der Band auch mit einem großzügigen Anhang auf: Dieser bietet sowohl bio- als auch bibliografische Angaben zu Shakespeare, einen Überblick über mögliche Quellen für "Der Sturm", Informationen zur Textüberlieferung, einen ausführlichen Zeilenkommentar, sowie Noten für die diversen Lieder des Stücks. Unter der Rubrik "Quellen" werden Montaignes Traktat "Von den Menschenfressern" und der sogenannte "Strachey-Brief" dargeboten, in dem ein elisabethanischer Edelmann von einem spektakulären Schiffbruch vor den Bermudas berichtet. Als "Materialien" folgen T. S. Eliots "Shakespeare und der Stoizismus Senecas" (auch wenn dieser im Inhaltsverzeichnis als "Senca" firmiert), eine (Teil-) Übersetzung von W. H. Audens "Die See und der Spiegel", Robert Weimanns "Die Kunst der Weltaneignung" und ein aus verschiedenen Gesprächen und Briefen zusammengestelltes "Dossier" zu deutschen Shakespeare-Übersetzungen.

Der Nutzen der Kommentare wird - trotz ihrer vorbildhaften Genauigkeit - jedoch maßgeblich durch die Tatsache geschmälert, dass man (aus unerfindlichen Gründen) darauf verzichtet hat, den Dramentext mit einer Vers- beziehungsweise Zeilenzählung zu versehen, wodurch das Auffinden der entsprechenden Stellen schnell zum literarischen Sudoku gerät. Einmal erfolgreich lokalisiert, offerieren die Erläuterungen neben vielen hilfreichen Stellenkommentaren auch aufschlussreiche Informationen zu möglichen Übersetzungsalternativen.

Daneben findet Tragelehn noch den nötigen Raum für einen Seitenhieb gegen einen offenbar allzu renitenten Rezensenten, dessen Gehör es scheinbar an der nötigen Musikalität gemangelt haben muss, um die Übersetzung in gebührender Weise würdigen zu können. Doch nicht nur den Kritikern traut Tragelehn nicht so ganz über den intellektuellen Weg: Selbst beim Publikum (dem Theater- wie dem Lesepublikum) und auch bei den Schauspielern muss man wohl, wie der Übersetzer feststellt, mittlerweile Abstriche machen. Wer assoziiere denn schließlich mit "Ariel" noch etwas anderes als fleckenlose Reinheit, und wer kenne noch die Unterschiede zwischen Vergils und Petrarcas Dido?

Das Publikum, so Tragelehns etwas moralinsaures Resümee, ist eben nicht mehr das, was es vor 400 Jahren noch war: Hatten die Zuschauer der Spätrenaissance noch einen gewaltigen Wissensvorsprung zumindest gegenüber den tumberen Charakteren des Stücks, so kann man mittlerweile eben nur noch das Menschenmögliche fordern: "Heute kann man immerhin erreichen, daß das Publikum denkt, die sind auch nicht klüger als wir."

Für so begrenzt hält er gar den geistigen Horizont der Rezipienten, dass er selbst die derogative Bedeutung des Wortes "Kahn" im Deutschen erklären zu müssen vermeint und wenig später vorsichtshalber noch genau ausführt, was ein "Einhorn" eigentlich ist ("ein wild lebendes Tier in Pferdegestalt, meist weiß, mit einem langen Horn auf der Stirn"). Endgültig in die Schranken verwiesen werden die mythologisch wie mental unbedarften Leser schließlich, wenn Tragelehn anlässlich des Gesprächs zwischen Prospero und Ferdinand (IV.i.) ausführt, dass es sich dabei um "eine Unterhaltung unter gebildeten Leuten" handele, und er den darob andächtig erstarrten Rezipienten en passant noch eine Lektion in der Benutzung von Synonymen erteilt: "Die Bildung zeigt sich darin, daß das überlieferte Gut nicht Redeschmuck bleibt, Floskel, sondern gebraucht wird, das heißt in das eigene Denken integriert ist, angeeignet." Als "patronizing" würde man diese Attitüde im Englischen wohl bezeichnen - "oberlehrerhaft" träfe es im Deutschen.

Weitaus konstruktiver ist hingegen Tragelehns Hinweis auf die Relativität einer jeden Interpretation von Kunstwerken. "Jede Zeit konstruiert ihren Shakespeare" konstatiert er und beruft sich dabei zunächst auf T. S. Eliot, der in seinem 1927 gehaltenen Vortrag "Shakespeare und der Stoizismus Senecas" die Vorstellung von der einen, richtigen Sichtweise auf das Werk des Dramatikers vehement zurückwies: "wenn wir nie richtig denken können, ist es besser, wenn wir von Zeit zu Zeit unsere Art und Weise Unrecht zu haben ändern."

Jede Zeit braucht folglich ihren "eigenen", je unterschiedlich defizitären Shakespeare, und Tragelehn legt in der Folge insbesondere anhand der Transkripte zweier Gespräche, die er und Heiner Müller in den Jahren 1975 und 1989 mit westdeutschen Journalisten führten, seine spezifische "Art und Weise Unrecht zu haben" dar. Der Übersetzer demonstriert dabei eindrucksvoll, dass er sowohl Marx als auch Engels sorgsam studiert hat; der elisabethanische Dramatiker gerät allerdings zunehmend unter die ideologischen Räder des Histomats: Für Tragelehn war Shakespeare primär ein Künstler einer Umbruchzeit - der Zeit des Scheiterns der "bürgerlich-kapitalistische[n] Disziplinierung" - und seine eigenen Übersetzungen versteht er als eingebettet in den historischen "Prozess der Entwicklung einer sozialistischen Nationalliteratur", entstanden zu einem Zeitpunkt, als es galt (oder wohl noch immer gilt?), "die Klassengesellschaft aufzuheben." Nur im Kontext des neuen Versdramas der DDR, so der an Brecht und Müller geschulte Tragelehn, sei der hohe Grad an "Realismus" seiner Shakespeare-Übersetzungen denkbar gewesen - westdeutsche Übersetzer seien noch viel zu sehr den bourgeoisen Sprach- und Denkmustern verhaftet gewesen, als dass sie ein vergleichbares Resultat hätten erreichen können.

Über die tatsächliche "Aktualität" des ideologischen Überbaus, mit dem Tragelehn seine Übersetzung versehen zu müssen meinte, lässt sich ebenso streiten wie über die generelle Notwendigkeit und den Nutzen einer solchen weltanschaulichen Einbettung. Unstrittig ist allerdings die Qualität der Übersetzung selbst: Tragelehns "Der Sturm" erreicht einen Grad an Texttreue, Direktheit und metrischer Präzision, der im deutschen Sprachraum momentan seinesgleichen sucht.


Titelbild

William Shakespeare: Der Sturm.
Übersetzt aus dem Englischen von B. K. Tragelehn.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
278 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-10: 3878778783

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