Nietzsche in Venedig - Mit "L'Ombra di Venezia" erscheint erstmals eine von Nietzsche diktierte Aphorismensammlung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Friedrich Nietzsche Anfang 1880 seinen Freund Heinrich Köselitz alias Peter Gast in Venedig besucht, hat er einen monatelangen Krankheitsschub hinter sich. Nun packt ihn endlich wieder eine "Leidenschaft der Erkenntnis" (Nietzsche), die im Laufe eines Jahres zum nächsten Buchprojekt, "Morgenröthe", führt. Doch in Venedig diktiert er seinem Freund eine Reihe von insgesamt 262, durch Gast akribisch durchnumerierten Aphorismen, fügt eine Vorrede hinzu und schließlich den Titel "L'Ombra di Venezia". Kein Zweifel: Im Augenblick des Diktats schwebt Nietzsche ein Buch vor. In der Vorrede heißt es denn auch: "Nachdem ich so viel und dazu nicht das Erbaulichste von mir gesagt habe [...] darf ich wenigstens hoffen damit erreicht zu haben, dass meine neuesten Gedanken, welche ich im vorliegenden Buche mittheile, nicht ohne Vorsicht gelesen werden." Doch wird nichts aus dem Venezianischen Buch: Nietzsche arbeitet unentwegt an dem diktierten Text weiter, verwirft manches, fügt dann vieles in die "Morgenröthe" ein, doch mittlerweile hat sich die Textgestalt meist stark verändert.

In der Zeit der Entstehung von "L'Ombra" verändert sich Nietzsches Denken: Statt 'Geschichte' gibt es im Rahmen einer nun begonnenen Archäologie der Kultur nur noch 'Augenblicke und Ereignisse'. Die schon seit "Menschliches, Allzumenschliches" formulierte Kulturkritik wird zunehmend als Moralkritik zur Abrechnung mit Metaphysik und Religion. Zur Moralkritik gesellt sich die Vernunftkritik. Manche dieser neuen Töne der mittleren Schaffensperiode klingen erstmals in "L'Ombra" an. Doch natürlich ist Nietzsches diktiertes Buch alles andere als ein systematischer Text.

Die 262 Aphorismen, die im vorliegenden Bändchen erstmals präsentiert werden, hätte ein interessierter Leser bisher nur mühsam aus mehreren Bänden der Kritischen Nietzsche-Gesamtausgabe zusammenklauben können. Zudem finden sich dort als Lesetexte nur die Resultate von Nietzsches weiterer Überarbeitungspraxis, der diktierte "Urtext" müsste sogar aus langen Lesarten-Kolonnen im editorischen Apparat rekonstruiert werden. Dabei ist er zumindest optisch in Nietzsches Nachlass sehr wohl und auf den ersten Blick von allen späteren Bearbeitungsspuren zu unterscheiden. Köselitz' kalligrafischer Text, der aus den schier endlosen Zeichenkolonnen in den zahlreich überlieferten Notiz- und Arbeitsheften Nietzsches heraussticht, hätte längst eine eigene, gut lesbare Ausgabe verdient gehabt. Nun liegt sie vor, durch ein vor allem entstehungsgeschichtliches Nachwort ergänzt, streng nach der Handschrift ediert und mit einer Konkordanz versehen, die es dem Leser möglich macht, auch die Kritische Ausgabe zum Vergleich heranzuziehen.

Es erscheint damit aus dem Nachlass ein fast 'unbekannter' Nietzsche-Text, zu dessen unbefangener Lektüre der Autor vielleicht mit einem seiner Aphorismen selbst einlädt: "Wie! man müsse ein Werk so und nur so auffassen, wie die Zeit, die es hervorbrachte? Es giebt mehr sich zu freuen, mehr zu erstaunen, mehr zu lernen, wenn man es gerade nicht so auffasst."

J. S.

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Friedrich Nietzsche: L'Ombra di Venezia.
Herausgegeben von Jochen Strobel unter Mitarbeit von Falko Heimer.
Thelem Universitätsverlag, Dresden 2006.
144 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 3937672990

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