Innerwestdeutsche Übereinkunft

Peter Ensikat hadert mit dem gesamtdeutschen Turbokapitalismus

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Peter Ensikat war schon zu DDR-Zeiten ein im Osten, aber auch im Westen bekannter und beliebter Kabarettist, er gehörte quasi zum Reisekader und durfte im Ausland inszenieren - und er könnte uns sicherlich viel über Alltag und Zensur im Theater der DDR erzählen. Bis 2004 war er Leiter des Kabaretts "Distel", in DDR-Tagen das "Zentrale Haupstadtkabarett", mittlerweile wieder eine renommierte Institution. Von den Behörden gegängelt, "um jede Pointe kämpfen" müssend, wich er oft aufs Kindertheater aus - das Kindertheater war in der DDR "eine subventionierte Selbstverständlichkeit", wie Ensikat ausführt. Und in seinem Lebensrückblick wird hier und da deutlich, unter welch "privilegierten Bedingungen" in der DDR Theater gemacht werden konnte - diese Erfahrung konnten auch Berlin-Besucher bestätigen, wenn sie etwa ins Berliner Ensemble gingen, ein auch international renommiertes Haus.

Es ist Ensikat zuzustimmen, dass die vergleichsweise gute Spielsituation für die Bühnen auch zum Teil aus der Konkurrenz der beiden deutschen Staaten resultierte: "Im Westen verhalf ein neu erwachter Bürgerstolz mancher zerstörten Stadt zu neuen Theaterbauten oder dem Wiederaufbau der alten. Auch im Osten wurden alte Theater, Konzertsäle und Opernhäuser wieder aufgebaut und nun trotz ihrer feudalen Herkunft zu den neuen sozialistischen Errungenschaften gezählt. Kultur, so hieß eine Losung, sei jeder zweite Herzschlag unseres Lebens. Kleinbürger wie Honecker und seine in Dresden, Leipzig oder Schwerin residierenden Bezirksfürsten waren sicher in mancher Beziehung ausgemachte Kulturbanausen. Aber dass Kultur und Kunst zumindest für die Repräsentation, für das Ansehen in der Welt, unersetzlich waren, das hatten sie alle noch gelernt.

Ähnlich wie bei den echten Fürsten im realen Feudalismus, entwickelte sich zwischen den kleinen Bezirksfürsten in der feudalsozialistischen DDR sogar ein Wettbewerb darum, wer in seiner Bezirkshauptstadt die prächtigsten Kulturstätten, die besten Opern- oder Sprechtheaterensembles vorzuweisen hatte. Manche von ihnen legten sogar Wert darauf, das beste Kabarett in der eigenen Residenzstadt zu haben."

Seit der Wende, so die These, sei die gesamtdeutsche Theaterlandschaft durch Subventionsabbau gefährdet, Zitat: "Aus den zwei noch subventionierten Berliner Schaufenstern ist eine nun im Bankrott vereinigte Hauptstadt geworden."

Sein jüngstes Buch, "Das Schönste am Gedächtnis sind die Lücken", ist das dritte in einer Reihe, in der Ensikat versucht, sich die DDR von der Seele zu schreiben. Die ersten beiden Rückblicke - "Ab jetzt gebe ich nichts mehr zu" (1995) und "Was ich noch vergessen wollte" (2000) - waren noch durch ein "Zwischenbuch" flankiert worden: Dessen Titel "Hat es die DDR überhaupt gegeben?" von 1998 verrät die skeptische Grundhaltung des Verfassers, dessen Credo lautet: "Das Bild, oder besser: die Bilder, die wir uns von der Vergangenheit machen, sind ganz und gar unabhängig von allem wirklichen Geschehen."

Wer hier nicht nur einen radikalen Skeptizismus, sondern auch einen Konstruktivismus vermutet, liegt schon sehr gut: Man beginnt, sein Buch in der Voreinstellung zu lesen, es sei eine Autobiografie - aber schnell wird deutlich, wie sehr sich der Autor hier zurücknimmt, wie sehr andere Versatzstücke hineinsprechen und den Fokus vergrößern. Also muss das Buch noch ein anderes Darstellungsziel verfolgen: Es beginnt mit zwei Fotografien, deren erste den großbürgerlichen Schwiegervater Peter Ensikats zeigt - direkt neben dem letzten sächsischen König Friedrich August III. Der zweite Schnappschuss zeigt ihn selbst, wie er aus der Hand des Staatsratsvorsitzenden der DDR und Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses, Erich Honecker, den Nationalpreis der DDR überreicht bekommt. Achtzig Jahre liegen zwischen diesen beiden Aufnahmen, achtzig Jahre deutscher Geschichte, die der Verfasser nun in zwei Erzählstränge aufgliedert, um sie dann - quasi im Reißverschlussverfahren - ineinanderlaufen zu lassen.

Der ältere Strang erzählt die Geschichte vom Deutschen Kaiserreich bis in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg am Beispiel des Schwiegervaters, der kurz vor der Wende starb, sowie anhand des Leipziger Kabarettisten Hans Reimann (1889-1969), in dessen Anekdotenbüchern ("Dr. Geenij", "Macht euern Dreck alleene") der letzte sächsische König noch immer fortlebt. Reimann fungiert in diesem Buch als Beispiel für die biografischen Verwerfungen, die von den politischen und sozialen ausgelöst wurden. Ensikat macht sich nun auf die Spurensuche nach diesem Hans Reimann, der sich immer mehr zu seinem Alter Ego als (s)einem Gegenbild zu entwickeln scheint.

Der jüngere Strang dieser Doppelbiografie erzählt vom Leben in der DDR, in der sich sein Schwiegervater und auch Ensikat selbst eingerichtet haben. Im Verhältnis des Kabarettisten zu seinem Schwiegervater, einem großbürgerlichen Antikommunisten mit Vorliebe für Adel und Militär, gibt es naturgemäß zahlreiche Irritationen, aber auch Sympathien und Glücksmomente - man duldet die Skurrilität des je anderen und lernt, sich über potentielle Meinungsverschiedenheiten auszuschweigen. Das wäre übrigens auch ein vorzügliches Ehe-Konzept. Was dem einen nun der sächsische König ist, ist dem anderen der saarländische Dachdecker und Staatsratsvorsitzende - man kann sich an ihnen so wunderbar abarbeiten.

Das Buch versteht sich darüber hinaus als bittere, forciert einseitige Abrechnung mit den Schattenseiten des Kapitalismus, der nun - nach dem Untergang der DDR - vielen wie ein entfesseltes Ungeheuer vorkommt: "Der formal ausgehandelte Einigungsvertrag beruhte auf einer innerwestdeutschen Übereinkunft. Bundesinnenminister Schäuble verhandelte im Beisein von DDR-Staatssekretär Krause mit sich selbst." Eine Ansicht, die mittlerweile von vielen "Ehemaligen" der untergegangenen DDR geteilt wird.


Titelbild

Peter Ensikat: Das Schönste am Gedächtnis sind die Lücken.
Blessing Verlag, München 2005.
320 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-10: 3896672738

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