Die Verfehlung der Welt

In seinem Prosaband "Zimmer zum Hof" erweist sich Jürg Amann einmal mehr als grandioser Kurzerzähler. Pointiert und sprachlich präzise lotet er die Tiefen menschlichen Irrtums und die Brüchigkeit unserer Wahrnehmungsweisen aus

Von Anno BechteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anno Bechte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Undurchdringbare, Absurde, ja nahezu Unerklärliche literarisch fassbar zu machen, ist eines der Hauptthemen innerhalb des Amann'schen Œuvres überhaupt. Von diesem Bedürfnis geprägt sind auch die acht Erzählungen in "Zimmer zum Hof". Dabei driftet Jürg Amann thematisch jedoch keinesfalls in das für die deutschsprachige Literatur so typische "Schreiben über das Schreiben" - verstanden als ein "Schreiben über das Unbeschreibbare" - ab. Vielmehr ist seine Literatur geprägt von einer bizarren Form der Welthaltigkeit, die weder der Welt im realistischen Sinne noch einer schwer zu durchdringenden Innerlichkeit frönt.

Realität erscheint bei Amann immer als ein von seinen jeweiligen Vermittlungsbedingungen determinierter Prozess der Übertragung. Geschehen ist niemals direkt, wobei die Einschätzung desselben nicht nur am seidenen Faden der je eigenen Interpretation hängt, sondern oftmals bestimmt wird durch das, was im Rahmen der Vermittlung verzerrt, verfremdet oder einfach nur unbestimmt bleibt. Dass es dabei im übertragenen Sinne "um Alles" geht, steht doch der Glaube an eine relative Stringenz und Deutbarkeit weltlichen Geschehens auf dem Spiel, zeigt sich innerhalb der Erzählungen oftmals dadurch an, dass das Erfassen beziehungsweise Verfehlen einer bestimmten Situation durch die Protagonisten buchstäblich über Leben und Tod entscheidet. So erscheint in der titelgebenden Erzählung "Zimmer zum Hof" das Geschehen im Freud'schen Spannungsfeld von Eros und Thanatos, wobei die Verwechselung des ersten Prinzips mit dem letzteren tödliche Folgen zeitigt.

Abstrakt formuliert leiden alle Amann'schen Helden an der Doppelbödigkeit der Welt und der in ihr enthaltenen Zeichen. Es geschieht nur selten, dass diese Mittler untrüglicher Botschaften sind, wie in der Erzählung "Die Sortiererin"; die meiste Zeit changieren sie zwischen den Menschen und es scheint fast, als seien sie völlig inhaltsleer; als machten sie erst die Versuche der Betroffenen, ihnen eine Botschaft zuzuordnen, zu heilvoll-unheilvollen Bedeutungsträgern. Immer aber zeitigen sie ein Moment der Verwechslung, ein Moment des In-der-Schwebe-Seins, das stets auch auf den Leser übergreift und den Erzählungen einen fast schon kriminalistischen Effekt beimischt.

Die missglückenden Versuche der Protagonisten, Halt in einer Welt der Bilder und Verweisungen zu finden, und ihr Ausgeliefertsein an die Täuschungen vorgefertigter Wahrnehmungsweisen greifen auf den Leser über und verleiten ihn dazu, sich vorschnellen Schlüssen hinzugeben: Der Absender der anonymen Schreiben in der Erzählung "Ein paar Briefe"? Eine Verehrerin, so scheint es. Der Reisende nach Norden? Ein verwahrloster Landstreicher, denkt man schnell. Der Gesprächspartner in "Ein Rollstuhlstück"? Die Ehefrau, meint man zu wissen. Dass es dann aber doch ganz anders kommt, ist überraschend und schlüssig zugleich - und manchmal fast verwegen.

Die Art und Weise, wie Amann Erwartungen fehlleitet und seine Erzählungen auf ungeahnte Pointen hin zuspitzt, ohne dabei konstruiert oder Effekt heischend zu wirken, ist nahezu einmalig in der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur. Seine Meisterschaft gründet jedoch nicht allein in der Pointiertheit seiner Texte. Der Komplexität der behandelten Themen steht eine sprachliche Verknappung und Kürze entgegen, die dem Leser dennoch niemals das Gefühl vermittelt, dass hier irgendetwas unterschlagen worden oder schlicht zu kurz gekommen sei.


Titelbild

Jürg Amann: Zimmer zum Hof. Erzählungen.
Haymon Verlag, Innsbruck 2006.
79 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3852185114

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