Metamorphosis, Metanoia, Katabasis

Béla Hamvas' Denken in seiner Essaysammlung "Kierkegaard in Sizilien"

Von Klaus BonnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Bonn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Rekurs auf Descartes' "Discours de la méthode" hatte vor gut einem halben Jahrhundert Theodor W. Adorno über das eigentümliche Vermögen des Essays gehandelt, dass er "das Ideal der clara et distincta perceptio und der zweifelsfreien Gewissheit" sanft herausfordere. Der Essay konterkariere die begrifflichen Ordnungsmodelle der modernen Wissenschaft und das, was sie gemeinhin als wahr erachten. Dem innersten Formgesetz nach, so Adorno, verschreibe sich der Essay der "Ketzerei", da er durch seinen "Verstoß gegen die Orthodoxie des Gedankens" gerade das sichtbar mache, was zu vertuschen insgeheim den Zweck der Geltungsmacht des schlecht Allgemeinen ausrichte.

Béla Hamvas (1897-1968), ein entfernter Zeitgenosse Adornos, wenn auch nicht uneingeschränkt sein Verwandter im Geiste, hat die Repression solcher Macht für seine "ketzerische" Arbeit unter der kommunistischen Herrschaft Ungarns nach dem Zweiten Weltkrieg erdulden müssen. Sein Werk wurde verboten und der ungarischen Öffentlichkeit erst allmählich nach seinem Tod zugänglich gemacht. Mit "Kierkegaard in Sizilien" liegt nun eine repräsentative Auswahl seiner Essays aus dem umfangreichen Nachlass auf Deutsch vor, besorgt von László Földényi, der selbst einem deutschen Lesepublikum mit Büchern zur Melancholie, über Kleist und Caspar David Friedrich bekannt sein dürfte. Bedauernswert ist, dass bibliographische Angaben zu den einzelnen Versuchen fehlen. Auch Földényis Einleitung sagt nichts darüber. Hinweise auf die Entstehungszeiten oder wenigstens eine Notiz über die Schwierigkeit, Daten zu ermitteln, hätten hilfreich sein können, um so etwas wie eine Entwicklungslinie in Hamvas' Denken und Schreiben nachzuziehen. Wer den Versuch unternimmt, die Texte geistesgeschichtlich einzuordnen, wird auf jene antirationalistischen Strömungen der philosophischen Moderne gegen Ende des 19. Jahrhunderts stoßen, die gewöhnlich unter dem Namen der 'Lebensphilosophie' im engeren Sinne firmieren.

Vorrangig ist an den Einfluss Nietzsches zu denken, an Bergson, Georg Simmel und vielleicht an Freud. Im weiteren Sinne stehen für Hamvas Goethe, Burton, Kierkegaard, die Präraffaeliten, die französischen Moralisten, vor allem aber der Brahmanismus und der Taoismus, die europäische Mystik und die Orphik für ein Denken und Tun im Dienste des rechten Lebens ein. Das nämlich ist die zentrale Frage, um die Hamvas' Überlegungen ständig kreisen, die Frage nach dem rechten Leben in einer Zeit, die der fundamentalen Verlogenheit, Täuschung und Verdummung anheimgefallen ist.

Hamvas' Buch darf so als eine noch immer zeitgemäße Einübung in Sachen Lebensklugheit gelten. Durchaus könnte man von "Seinsvergessenheit" sprechen, die Hamvas allenthalben diagnostiziert. Von der "Zwangsjackenlogik der ambitionierten Welt", von einem "Tätigkeitswahn" oder der "Wirklichkeitsblindheit" ist die Rede. Auffälliges formales Kriterium für Hamvas' Essayistik ist, dass er um sein zentrales Anliegen herum Gegensatzpaare anordnet, sie gleichsam zentripetal zur Entfaltung bringt, wobei dann die Übergänge von einer Seinsqualität zur anderen sich als Wegmarken existenzieller Bedeutsamkeit abzeichnen. Beispiele für solche Paare sind Gemeinschaft und Einsamkeit, das Titanische und das Asketische, die "ursprüngliche Ordnung" und das System, die dem Lebenshunger frönende "Libido-Kunst" auf der einen und die Ausformungen der "orphischen" wie der "magischen" Kunst auf der anderen Seite.

Um das zu erläutern, sei der Versuch gewagt, hier soweit als möglich die Grundzüge des Hamvas'schen Denkens aus den vorliegenden Essays heraus zu destillieren.

Das menschliche Dasein ist vollkommen hoffnungslos; das Leben hat an sich selbst weder ein Ziel noch Bedeutung, es ist ohne Sinn. Die Wahrhaftigkeit der menschlichen Existenz bemisst sich am Bewusstsein der Erdenbewohner für die Sünde. Der Mensch weiß um die "ursprüngliche Ordnung", so Hamvas, die vor dem Sündenfall bestanden hat - und es ist dieses Wissen, das im Christentum genauso Bestand hat wie in der Orphik, der Kabbala, den vedischen Religionen oder im Tao. Dieses Wissen wachzuhalten ist die Aufgabe der Tradition; verfällt sie, entstehen die Systeme und Ideologien, Verflechtungen und Auswüchse des Illusionären. Aus dem Widerstreit zwischen Wirklichkeit, also dem Unverfälschten, und Illusion entsteht schließlich das, was Hamvas das "Paradox des Seins" nennt.

Die paradoxe Logik äußert sich etwa in folgendem Sachverhalt: "Die Welt meint, wahr sei, was viele sagen. Sind zum Beispiel alle verrückt, meint sie, daß derjenige, der nüchtern ist, so verrückt sei, daß man ihn verprügeln müsse." (Schon bei Giacomo Leopardi, der keine Erwähnung bei Hamvas findet, war zu lesen: "Wenn alle hinken, glaubt jeder, er gehe richtig"). Man könnte diese Paradoxie eine Grundbefindlichkeit heißen, gerade bei denjenigen, die Stellung beziehen wider das schlecht Allgemeine der Gesellschaft, in der sie leben, allerdings nicht in der Pose des Protestlers oder Revolutionärs. Hamvas wendet sich vorrangig dem Leben und Tun des Künstlers zu. Wer indes gegen den Tätigkeitsdrang des Revoluzzers nach dem Vorbild Oscar Wildes eine ästhetische Existenz zu führen gesinnt ist, der ist eigentlich nur ein Schaumschläger, ein verkommener Egoist.

"In der Kunst", schreibt Hamvas, "geht es nicht in erster Linie um die Ablehnung des sozialen Alltags, sondern darum, daß sich der Künstler im Gegensatz zum sozialen Alltag auf ein hyperexistentes Sein beruft." Die Aufgabe der Kunst besteht eingedenk jener "ursprünglichen Ordnung", von der die Menschen bei ihren Irrgängen sich im Lauf der Jahrhunderte entfernt haben. Doch auch im alltäglichen Leben gilt das Gebot der aufmerkenden Wachsamkeit, in aller Nüchternheit, ohne Langeweile, mit einem Sinn für Teilnahme und Bewunderung. Sich jedoch fernzuhalten von den alltäglichen Wirrungen, der verachteten Gemeinschaft, um in der Einsamkeit nur für sich zu sein, setzt das Individuum der "Gefahr des Autismus" aus, die Hamvas vorab im Titelessay an Kierkegaards Reise nach Sizilien vorführt. Wer aus Abneigung wider das schlecht Allgemeine nurmehr in sich selbst haust, irrt noch einmal im Besonderen. Man muss auch aus sich herausgehen können, offen sein etwa für eine "magische Metamorphose" des Reisens. (Heidegger hätte vermutlich von der "Offenheit für das Geheimnis" bei gleichzeitiger "Gelassenheit zu den Dingen" gesprochen).

Es sind diese Bewegungen der Verwandlung, der Umkehr und des Abstiegs, die das Kernstück des Hamvas'schen Denkens ausmachen. Was er unter der Umkehr versteht, erläutert Hamvas am Werk, das der Mensch erschafft. "Ein Werk zu schaffen bedeutet, eine Katharsis zu durchleben, weil man umkehrt (metanoia), der Verblendung den Rücken kehrt und der Wirklichkeit ins Auge blickt. Im Werk lebt der Mensch tiefer als in sich selbst." Das Werk dient eben nicht der Selbstbespiegelung oder dem Streben nach Erfolg. Im Werk tritt der Mensch aus sich heraus, es ereignet sich eine Verwandlung hin zum Ursprünglichen, Präexistenten.

"Die Errichtung des Werks vollzieht sich gegen den Menschen; es ist ein Zustand, in dem ich an einem geheimnisvollen Ort von jemandem (der ich bin und doch nicht bin) Antwort erhalte, nicht auf die Frage, was ich sagen soll und was ich tun soll, sondern wie ich leben soll." Bei aller Manie, die sich heutzutage um das Werk rankt, wäre seine Erhöhung letztlich im Nicht-Werk zu sehen, in der Aufhebung seiner selbst. Ein solches Überschreiten des Werks hin zum Nicht-Werk macht Hamvas beispielhaft an Beethovens letzten Quartetten kenntlich. Schon das beethoven'sche Piano der mittleren Schaffensperiode ist Hamvas ein Indiz für den Übergang, die Überwindung, wo das Paradoxe zum klanglichen Ereignis wird: in Töne gesetzte Entfesselung der Leidenschaft und ihr asketisches Niederringen. Die äußerste Form der metanoia und gleichzeitig die Spitze der Melancholie des Spätwerks wirkt in jenem "Hinüberhören" aus der Sphäre des Noch-Jetzt in die des Präexistenten. "Keine Betäubung, keine Maskerade, keine Parade mehr. Aus dem durch die ständige Todesgegenwart hochgesteigerten Dasein ist jede Schlacke herausgebrannt. Und was ist geblieben? Das Wirkliche. Das ist das Wirkliche. Der Rest war ohnehin Müll."

Mit der metanoia verschwistert ist die katabasis, der Abstieg in die Unterwelt. Es gibt nach Hamvas' Ermessen keine große Kunst, in der nicht dieser Abstieg stattgefunden hätte. Wer nichts von der Abgründigkeit, dem Dunklen, Tiefsten des Daseins weiß, hat keine Ahnung von dem Stoff, aus dem das Leben ist. Und dazu ist es nicht nötig, Künstler oder Philosoph zu sein. "Man muß nicht wie Äneas oder Dante oder Burton die Katabasis zu Ende gegangen sein, aber jemand, der nicht wenigstens einmal die Unterwelt betreten und sich dort wenigstens einmal umgesehen und sie erlebt hat, hat für andere etwas Wesentliches eigentlich nicht zu sagen."

Nichts Wesentliches zu sagen haben die meisten heutzutage. In einer Zeit des großen Palavers, der Globalisierung der Märkte, der Raffgier der Konzerne und des um sich greifenden Absicherungswahns, des Gezeters um Reformen, Renten und Rendite, mit den verschiedensten Ausprägungen an egoistischer Verblendung, täte ein Buch wie Hamvas' "Kierkegaard in Sizilien" not, doch wirklich lesen werden es ohnehin wieder die "Falschen". Das tut nichts zur Sache, ruft Harlekin, "eine der wichtigsten Figuren der menschlichen Existenz", und lacht darüber und weint zugleich. Harlekin ist der Inbegriff der paradoxen Logik des Seins und ein Ketzer par excellence, sein Gemüt getränkt in Heiterkeit, die am Busen der Melancholie sich nährt. Harlekin lacht und weint, denn er weiß: erst "wenn ich nichts bin, bin ich eine Macht."


Titelbild

Béla Hamvas: Kierkegaard in Sizilien. Essays.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Akos Doma.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2006.
276 Seiten, 28,90 EUR.
ISBN-10: 3882218762

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