Ernst - selbst im Spiel
Ein Band der "Kritischen Nietzsche Gesamtausgabe" mit Aufzeichnungen des Primaners
Von Jochen Strobel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie erste Abteilung der "Kritischen Nietzsche-Ausgabe" stellt in ihren jetzt vollständigen fünf Bänden die selbstständigeren Arbeiten des Schülers und Studenten Nietzsche vor, beginnend mit Aufzeichnungen des Achtjährigen 1852 und endend mit Texten des Studenten, der noch vor seiner Promotion als Professor nach Basel berufen wird. Der vorliegende dritte Band umfasst die beiden letzten Schuljahre, von 1862 bis zum Abitur 1864. Trotz der akribisch durchgehaltenen, die Ordnung des Nachlasses im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv beachtenden Abfolge der Manuskripte und trotz der Vielzahl der Einzeltexte ist doch die Einheitlichkeit des Textkorpus nicht zu verkennen. Dieser Autor setzt sich über die engen Vorschriften des Schulalltags souverän hinweg, macht aus Schulaufsätzen kleine Abhandlungen und versucht sich als Dichter und als Komponist. In ihrer Summe zeugen die Texte vom immensen Fleiß eines zudem hoch begabten Schülers, sind sie die Resultate eines selbst verordneten Bildungsprogramms. Die vorliegenden knapp 500 Druckseiten aus knapp zwei Jahren bilden allerdings nur eine Auswahl des Originelleren; auf weitere Arbeiten wird der noch ausstehende Nachbericht verweisen.
Nietzsches Schwester wird es wohl zu verdanken sein, dass uns der vollständige Kindheits- und Jugendnachlass eines bedeutenden Autors des 19. Jahrhunderts vorliegt. Doch gibt das Material nicht nur Lesestoff für Bildungshistoriker her. Vieles in dem Band ist auch für den durchschnittlichen Nietzsche-Leser von Interesse, Tagebuchartiges und Autobiografisches, die Lektürelisten, die auf die immense Schul- und Ferienlektüre deuten, die Übersichten der auf dem Klavier gespielten und der selbst komponierten Stücke. Die Gedichte des Achtzehnjährigen sind allerdings noch epigonal. Aus Lachmanns Edition des Nibelungenlieds bedient er sich ausgiebig, die teils mittelhochdeutschen Exzerpte werden der künftigen Wagner-Begeisterung vorgearbeitet haben. Noch recht bemüht klingen erste Versuche des künftigen Aphoristikers: "Ich habe dir und mir vergeben und vergessen; Weh! Du hast dich und mich vergessen und vergeben."
Zahlreiche autobiografische Texte des Pfortenser Schülers Friedrich Wilhelm Nietzsche entwickeln bereits Ansätze jener Lust der Selbstbeobachtung, die zweieinhalb Jahrzehnte später in der Arbeit "Ecce homo" kulminieren sollte. Der Achtzehnjährige schätzt sich so ein: "Ernst, leicht Extremen zuneigend, ich möchte sagen, leidenschaftlich ernst, in der Vielseitigkeit der Verhältnisse, in Trauer und Freude, selbst im Spiel". Die Hintergründe dieser Ernsthaftigkeit sieht er in den frühen Schicksalsschlägen, die er erdulden musste. So schildert er die Schrecken des Abschieds aus dem Geburtsort Röcken, nachdem Vater und Bruder kurz nacheinander gestorben waren. Schon zu dieser Zeit gilt: Kein Schreibakt ohne selbstreflexive Prüfung auf seine Bedingungen hin. Nicht außergewöhnliche Erlebnisse sollen eine Biografie ausmachen, sondern die Schilderung kleiner, wiederkehrender Erlebnisse und innerer Vorgänge. Doch da stutzt der Primaner und fügt hinzu: "Vielleicht wird es Zeit, selbst die Zügel der Ereignisse zu ergreifen und in das Leben hinauszutreten."
Als 1862 Otto von Bismarck preußischer Ministerpräsident wird, gehört die bei Bad Kösen an der Saale gelegene Landesschule Schulpforta längst zu Preußen. Nietzsche, der mit Mutter und Schwester nach dem Tod des Vaters ins benachbarte Naumburg gezogen war, verbrachte sechs Jahre an der Eliteschule, von 1858 bis zum Abitur 1864. Dass dies die Zeit eines wachsenden Nationalismus war (den der Philosoph später verabscheute), ist ablesbar an allerhand Aufsätzen zur Vaterlandsliebe.
Am Ende des Bandes steht dann die so genannte Valediktionsarbeit des Abiturienten, die dem spätantiken Elegiker Theognis gewidmet ist und die späteren philologischen Interessen also bereits erkennen lässt. Vorangestellt ist dem lateinischen Aufsatz unter anderem ein Curriculum vitae, das nicht nur von der Königstreue, sondern auch wiederum von Ernst und Eifer des angehenden Gelehrten zeugt: "Jetzt, wo ich im Begriff bin, auf die Universität zu gehen, halte ich mir als unverbrüchliche Gesetze für mein ferneres wissenschaftliches Leben vor: die Neigung zu einem verflachenden Vielwissen zu bekämpfen, sodann meinen Hang, das Einzelne auf seine tiefsten und weitesten Gründe zurückzuführen, noch zu fördern."
Der junge Nietzsche hatte wohl die zu seiner Zeit bestmögliche Schulausbildung erhalten. Die Voraussetzungen für eine einmalige intellektuelle Karriere waren damit geschaffen, bald nach dem Abitur wechselte Nietzsche zum Studium nach Bonn.