Kritisches zur Kameradschaft
Thomas Kühne analysiert die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges
Von Torsten Mergen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs gibt Texte in der deutschen Kultur, die haben eine bewegte Rezeptionsgeschichte. Wer ohne Probleme die folgenden Liedzeilen identifizieren und einem bestimmten Autor zuordnen kann, der muss für heutige Verhältnisse atypisch sozialisiert und gebildet sein: "Ich hatt' einen Kameraden, / einen bessern find'st du nit. / [...] Die Trommel schlug zum Streite, / er ging an meiner Seite / In gleichem Schritt und Tritt, / In gleichem Schritt und Tritt. / [...] Eine Kugel kam geflogen. / Gilt's mir oder gilt es dir? / [...] Ihn hat es weggerissen. / Er liegt zu meinen Füssen / Als wär's ein Stück von mir." Diese teils narzistisch anmutenden und teils martialisch gedeuteten Zeilen wurden zur Zeit des Freiheitskampfes gegen die Napoleonische Gewaltherrschaft gedichtet von Ludwig Uhland. Mit dem "Lied vom guten Kameraden" schuf er einen Text, der den Status einer hymnischen Verklärung des kriegerischen Solidaritätsgefühls in Einklang bringt mit dem Deutungspotenzial des Soldatentodes im Kampf gegen einen Feind.
130 Jahre nach der Entstehung des Uhland-Liedes werden rund siebzehn Millionen Wehrmachtssoldaten "in gleichem Schritt und Tritt" Europa erobern, zerstören, verlieren und dabei bis zum tragischen Ende ihrer Führung und ihrem Führer Adolf Hitler Gefolgschaft leisten. In der 2006 erschienenen Habilitationsschrift "Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert" versucht der inzwischen in Worcester (Massachusetts) lehrende Historiker Thomas Kühne, den Ursachen für die unbedingte Gehorsamsbereitschaft der deutschen Soldaten nachzuspüren. Kühnes soziologisch-mentalitätsgeschichtliche Methodik geht dabei von der Beobachtung aus, dass "es jedoch im Zweiten Weltkrieg nicht einmal Ansätze kollektiven Protests oder kollektiver Verweigerung auf breiterer sozialer Basis [gab]. Der Zusammenhalt der Wehrmacht und ihre militärische Effizienz blieben bis zur Kapitulation ungebrochen. Warum?"
Dass eine simple Antwort auf diese Frage nicht gegeben werden kann, leuchtet auf den ersten Blick ein. Daher analysiert Kühne erschöpfend die Semantik und die Realität der "Kameradschaft" in ihrer diachronen Dimension. Eine konstitutive Sinneinheit sieht er verbunden mit dem Leitdaten 1918 und 1939, die er unter der Formel "Vom Streit der Kameradschaft zum Staat der Kameraden" im ersten Teil seiner Arbeit vorstellt. Im zweiten Teil wendet er sich seinem eigentlichen Untersuchungsfeld zu, er behandelt "Kriegerische Volksgemeinschaft und verbrecherischer Krieg 1939-1945", um abschließend im dritten Teil bis in die aktuelle Zeitgeschichte vorzustoßen: "Vom guten Kameraden zur bösen Kameradschaft 1945-1995". In allen Teilen greift Kühne auf zeitgenössische Texte zurück, die meistens von seinerzeit renommierten Autoren stammen und die man sich sowohl über ein ausführliches Literaturverzeichnis als auch ein sehr hilfreiches Autorenregister erschließen kann.
Bereits im ersten Teil der Studie muss man als Leser den Hut ziehen. Gelingt es dem Verfasser doch, die Wandlungsfähigkeit der menschlichen Konstruktion von Kameradschaft auf wenigen Seiten aufzuzeigen. Autoren wie Flex, Schauwecker, Beumelburg, Zöberlein und Jünger, die von Kühne als Repräsentanten des rechten Lagers identifiziert werden, aber auch die so genannte Linke, vertreten unter anderem durch Remarque, Renn, Scharrer, Bröger und Zweig, tragen dazu bei, die Frontkameradschaft des Ersten Weltkrieges zu verherrlichen, denn beide Gruppen scheinen paradoxerweise ein dialektisch süffisantes Ziel besessen zu haben: die "neue Welt" mit dem "neuen Menschen". "Wollte der Pazifismus die zivile Welt reinigen von der des Militärs, so wollte der Bellizismus die Welt befreien vom bürgerlichen Sekuritätsdenken." Entsprechend bleibe für die ganze politische Bandbreite zu konstatieren, dass an einem Kameradschaftsmythos gearbeitet wurde, der einem primären Ziel diente: politisch-agitatorisch instrumentalisiert zu werden.
Gesteigert wird diese Propagandafähigkeit von den nationalsozialistischen Machthabern, die die Exklusivität des soldatischen Kameradschaftsgefühls betont hätten: "Kameradschaft leitete nun eine Kultur der Scham an, in der das Denken, Fühlen und Handeln in Kategorien individueller Lebensführung und persönlicher Verantwortung abgelöst war vom Diktat einer Moral, die nur erlaubte, was dem physischen Erhalt, dem sozialen Leben und dem Prestige der eigenen Gruppe dienlich war."
Entsprechend deutet Kühne im zweiten Teil seiner Studie anhand verschiedener biografischer Einzelschicksale die Konsequenzen der abstrakten Kameradschaftskonstruktion für die individuellen Handlungsmöglichkeiten. Verweigerung, Individualität und Defätismus sind in der Gruppe der Frontkämpfer nicht oder nur noch unter der Drohung des Ausschlusses aus der Gemeinschaft - informell durch die soziale Ächtung, formal durch die militärrechtliche Verfolgung - möglich. Dass damit Abschiedsschmerz von einer Familie, Sehnsucht nach bürgerlicher Ruhe und sozialer Sicherheit nur teilweise zu erklären sind, weiß der Verfasser. Daher forscht er nach der Motivation, auch im Angesicht der drohenden Niederlage weiterhin seine Pflicht zu erfüllen, denn: "Man ist nicht mehr Herr über sich selbst. 'Stur heil' tappt man so mit. Gefühllos, ohne zu denken." Diese Automatisierung der Gefolgschaft, gekoppelt mit einer weitgehenden Entindividualisierung stellt nach Kühne das Erklärungsmuster für das kollektive Verweigern von Widerstand dar. "Wer mit den anderen handelte, genoss ihren physischen, sozialen und moralischen Schutz. Diese Grammatik der Kameradschaft befolgten auch die am Judenmord und an anderen Verbrechen beteiligten Männer."
Dass das Konstrukt der Kameradschaft nach dem Zweiten Weltkrieg eine ambivalente Entwicklung durchmachte, erstaunt wenig. Kühne zeigt zunächst, dass Lagerfreundschaft, Veteranenzirkel und Familientreffen an die Stelle von Lagerkameradschaft, Veteranenbewegung und Männerbund getreten sind. Kurzum: Die militärische Primärerfahrung wurde privatisiert, um schließlich zunehmend stigmatisiert zu werden.
Abschließend muss man nach den Ausführungen von Kühne einem Einleitungszitat aus dem "Stern" zustimmen: " 'Kameradschaft' - das ist 'ein Begriff wie aus einer anderen Welt'". Mit vielen Belegen aus Literatur und Kultur, mit vielen semantisch präzisen Analysen, mit vielen historischen Phänomenen von Kameradschaft verdeutlicht die kritische und gewissenhafte Studie, welche Folgen die bedingungslose Unterordnung eines Kollektivs unter die Gemeinschaft hatte. Allerdings - und das bleibt als kritische Rückfrage an ein Buch, das sehr stark dem akademischen Duktus verhaftet ist und sich dieses spannenden Themas sprachlich leserfreundlicher hätte annehmen können - darf Kühne nicht beanspruchen, eine letzte Antwort auf die Frage nach dem Warum gegeben haben. Denn sein Ansatz ist, bei aller Breite des vorgestellten Materials, beschränkt auf ein gesellschaftliches Konstrukt. Wie bei allen (soziologischen) Konstrukten erklärt Kühnes Analyse von "Kameradschaft" viele, aber nicht die letzten Gründe für Wehrmachtsverbrechen und Widerstandsverweigerung der Deutschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Um so beruhigender - vielleicht aber auch vordergründiger - ist Kühnes einleuchtendes Fazit: "Kameradschaft ist in der zivilen Welt zum Un-Wort verkommen."