"Juden in Deutschland" oder "deutsche Juden"?

Über jüdische Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Durchweg betrachten wir die Geschichte der Juden in Deutschland unter dem Aspekt der Shoah, also des Massenmordes der Nazis an den Juden, und übersehen dabei, wie lange Juden schon in diesem Land lebten. Gerade das deutsche Kultur-, Geistes- und Wirtschaftsleben wurde entscheidend durch die in Deutschland lebenden Juden geprägt.

Man denke nur an Größen wie Albert Einstein, Walter Rathenau und an die vielen jüdischen Dichter und Schriftsteller wie Heinrich Heine, Walter Benjamin, Manès Sperber oder Hilde Domin. Schon vor zweitausend Jahren lebten jüdische Menschen in deutschen Städten und Gemeinden. Auch bemühten sich Juden seit der Aufklärung, insbesondere seit dem Wirken von Moses Mendelssohn (1729-1786), gläubige Juden und staatsbewusste Deutsche zugleich zu sein.

Aber von Anfang an gab es dagegen Widerstände, sowohl auf jüdischer als auch auf nichtjüdischer Seite. Heinrich Heine hat es selbst schmerzlich erfahren, was es heißt, als Jude in einer nichtjüdischen Umgebung zu leben. Er fühlte sich als Deutscher und Jude und musste erkennen, dass es in Deutschland nicht möglich ist, beides zu sein, "dass die Welt selbst", wie sein eigenes Herz, dadurch "mitten entzweigerissen ist." In der Weimarer Republik schien dieses Ziel endlich erreicht zu sein, was sich alsbald, spätestens seit dem Aufkommen des Nationalsozialismus, als Illusion herausstellte.

Wie aber ist die Situation heute? Kann man nach den vielen Ungeheuerlichkeiten, die Nazis an Juden verübt haben, schon wieder ohne weiteres von deutschen Juden sprechen? Unmittelbar nach dem Krieg, als die ersten Juden wieder in Deutschland ansässig wurden, sprach man lange Zeit nur "von Juden in Deutschland". Immerhin glaubten nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes Juden in aller Welt, dass die zweitausendjährige Geschichte der Juden in Deutschland mit dem Naziterror unwiderruflich ihr Ende gefunden habe.

Diese Ansicht wird durch zwei kürzlich erschienene Bücher, durch den von Ingke Brodersen und Rüdiger Dammann herausgebenen Band "Zerrissene Herzen. Die Geschichte der Juden in Deutschland" und den von Susanne Schönborn betreuten Sammelband "Zwischen Erinnerung und Neubeginn. Zur deutsch-jüdischen Geschichte nach 1945" glänzend widerlegt. Denn spätestens seit der Einwanderung von etwa hunderttausend Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion nach Deutschland kann von jüdischen "Liquidationsgemeinden" und einem Epilog der deutsch-jüdischen Geschichte nicht mehr die Rede sein.

Der Band "Zerrissene Herzen" erzählt von den Anfängen des Judentums, von König David und seinem Sohn Salomon, von Gottes Bund mit Abraham und anderen Geschichten, die wir aus der Bibel kennen, vom Tempelbau und der Vertreibung der Juden aus ihrem Land nach der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 nach Christi, von der Entstehung des Christentums sowie vom christlichen und jüdischen Mittelalter mit all seinen judenfeindlichen Übergriffen, die schon zur Zeit der Kreuzzüge eingesetzt hatten und immer wieder aufflackerten. Viele Entwicklungen im 15. und 16. Jahrhundert bereiteten der engen und starren Welt des Mittelalters dann ein Ende. Von Schutz- und Hofjuden ist nun die Rede, aber auch von Händlern und Hausierern und erfolgreichen Geschäftsleuten.

Die Ausführungen enden bei der Gegenwart, mit dem Fall der Mauer und dem Anwachsen der jüdischen Gemeinden durch russische Zuwanderer. Als gute Ergänzung und Fortsetzung erweist sich der Sammelband "Zwischen Erinnerung und Neubeginn" mit seinem aufschlussreichen Einblick in die aktuelle Forschung zu zentralen Themen der deutsch-jüdischen Zeitgeschichte - von 1945 bis in unsere Zeit hinein. Aus der Sicht einer jüngeren Forschergeneration werden einzelne Stationen der neuen jüdischen Geschichte ausführlich beleuchtet: die Gründung des Zentralrats der Juden in Deutschland im Jahr 1950 - eine weitere wichtige jüdische Organisation, wenn sie auch nicht so bekannt ist, die "Rabbinerkonferenz in der Bundesrepublik" -, die durch die Studentenbewegung 1968 ausgelöste neue Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Geschichte, die Wiederbelebung religiös-liberaler Traditionen im Inneren wie eine neue Offenheit im politischen Auftreten nach außen bei Juden in Deutschland in den achtziger Jahren.

Deutlich wird auch, dass die Geschichte der Juden in Deutschland seit 1945 nicht einfach eine Fortsetzung der deutsch-jüdischen Geschichte von der Berliner Aufklärung zur Weimarer Republik nach der gewaltsamen Unterbrechung durch die NS-Zeit ist, da die Überlebenden, die hier nach dem Krieg ein neues Zuhause fanden, nicht aus deutschen Städten wie Hamburg oder Frankfurt stammten, sondern aus Minsk und Pinsk.

In anderen Beiträgen - einige sind literarischen Themen gewidmet - geht es um "Displaced Writers", um die Frage "Was hat es mit der deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur auf sich?" und um russisch-jüdische Schriftsteller in Deutschland seit den 90er Jahren. Unter der Rubrik "Geschichte und Erinnerung" werden neben anderen Komplexen die Kontroversen um das Jüdische Museum Berlin abgehandelt. Das Museum ist, wie sich schließlich herauskristallisierte, durchaus keine jüdische Einrichtung, sondern ein deutsches Geschichtsmuseum.

Daneben werden Selbstverständnis und Perspektiven der in Deutschland lebenden Juden genau ausgelotet. Junge russische Juden sind sich oft erst in Deutschland ihres Judeseins bewusst geworden. Erst im Zusammenhang mit dem Migrationsprozess, schreibt Yvonne Schütze, wurde "das Judesein für die Mehrzahl der jungen russischen Juden zum Gegenstand der Selbstreflexion und Selbstdefinition."

Zusammen vermitteln beide Bände einen gelungenen Überblick über die wechselvolle Geschichte der Juden in Deutschland und eignen sich durchaus auch als Lehr- oder Schulbücher. Der Sammelband "Zwischen Erinnerung und Neubeginn" richtet sich zwar ausdrücklich an ein Fachpublikum, doch bei Licht betrachtet dürften die hier genannten Daten und aufgezeigten Zusammenhänge nicht nur Fachleuten, sondern auch jenen, die sich für das Judentum und seine Geschichte und Gegenwart interessieren, nicht ganz unbekannt sein. Aber für jüngere Leser, die über herkömmliches Schulwissen hinauskommen möchten, ist auch diese Publikation außerordentlich hilfreich, falls sie sich von der mitunter etwas umständlichen Ausdruckweise, die manche "wissenschaftlich" zu nennen pflegen, nicht abschrecken lassen, und sich nicht scheuen, den ein oder anderen Satz notfalls zweimal zu lesen, um ihn überhaupt zu verstehen.

Doch findet man auch eine Reihe anschaulicher Beiträge, in denen die aufgestellten Thesen mit aussagekräftigen Beispielen nicht unbedingt "vereindeutigt", wie es an einer Stelle heißt, aber doch plausibel werden.


Titelbild

Ingke Brodersen / Rüdiger Dammann: Zerrissene Herzen. Die Geschichte der Juden in Deutschland.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
232 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3100035208

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Titelbild

Susanne Schönborn (Hg.): Zwischen Erinnerung und Neubeginn. Zur deutsch-jüdischen Geschichte nach 1945. Mit einem Vorwort von Michael Brenner.
Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung, München 2006.
340 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-10: 3899750519

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