Vom Denken über Bilder

Bernd Stiegler schreibt eine Theoriegeschichte der Fotografie

Von Jan GerstnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Gerstner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Während seit dem Aufkommen der digitalen Fotografie allerorten der "Tod der Fotografie" ausgerufen wird, scheint die theoretische Auseinandersetzung mit der analogen Fotografie in den letzten Jahren eher noch an Interesse gewonnen zu haben. Es ist, als ob die alte Fotografie als angeblich authentisches Bild der Wirklichkeit im Moment ihres Verschwindens noch einmal die Beschäftigung mit ihrer Geschichte herausfordert. So ist neben neuen Bänden der letzten Jahre, die zur Auseinandersetzung mit dem fotografischen Bild im "postfotografischen Zeitalter" anregen, auch die von Wolfgang Kemp, beziehungsweise Hubertus von Amelunxen herausgegebene Anthologie zur "Theorie der Fotografie" neu aufgelegt worden. Wer sich bisher einen geschichtlichen Überblick über die theoretische Bestimmung der Fotografie verschaffen wollte, musste sich durch diese vier Bücher (oder in der Neuauflage den einen sehr dicken Band) durcharbeiten.

Nun liegt mit Bernd Stieglers "Theoriegeschichte der Photographie" eine neue, gründliche Aufarbeitung der Fotografietheorie vor. Auch Stiegler geht gleich zu Beginn seines Buches auf das gegenwärtige Interesse an der Fotografie im Licht der Wandlung von einem analogen zu einem digitalen Medium ein. Unter Berufung auf Walter Benjamins "Kleine Geschichte der Photographie" schreibt er, der theoriegeschichtliche Ansatz könne dazu beitragen, "nicht nur die gegenwärtige Umbruchssituation historisch wie theoretisch präziser und auch nüchterner zu fassen, sondern auch die Photographietheorie wiederzuentdecken, die sich zuletzt auf einige wenige kanonisierte Positionen zu beschränken schien."

Beide Vorhaben gelingen Stiegler tatsächlich. Über eine Orientierung an den 'großen Namen' der Fotografietheorie, zu denen neben dem erwähnten Benjamin zumindest noch Roland Barthes und Susan Sontag zu zählen wären, geht er weit hinaus. Der im Zitat beklagten Beschränkung der Fotografietheorie setzt er ein möglichst breites Spektrum von diskursiven Zugriffen auf die Fotografie entgegen, innerhalb dessen sich die Kontinuitäten und Brüche zwischen den jeweiligen Theorien klar abzeichnen.

Gleich zu Beginn steht dementsprechend der Hinweis, "daß es die Photographie nicht gibt und die Geschichte der Photographie nur als Vielfalt höchst unterschiedlicher kultureller Praktiken, ästhetischer Diskurse und theoretischer Entwürfe geschrieben werden kann." So stellt Stiegler unter anderem der Entwicklung der künstlerischen Fotografie ihre Rolle in der physiologischen Wahrnehmungstheorie des 19. Jahrhunderts an die Seite und zeigt, wie weit es sich hierbei nicht allein um divergierende Zugänge handelt, sondern inwiefern Debatten aus der Physiologie in die Kunstfotografie der Jahrhundertwende hereinspielten. Entgegen der weit verbreiteten Einschätzung der letzteren als bloße Geschmacksverirrung weist Stiegler auf die Heterogenität der ästhetischen Positionen innerhalb jener Bewegung und auf manche Berührungspunkte mit dem,Neuen Sehen' der zwanziger Jahre hin. Mit den Versuchen des 'Neuen Sehens', die Wahrnehmung an der Fotografie den Bedingungen der Moderne entsprechend zu schulen, findet sich schließlich ein besonders emphatischer Fotografiebegriff, den Stiegler sehr ausführlich in seinen Ausprägungen bei Fotografen wie Moholy-Nagy, Hausmann, Rodtschenko und anderen darstellt, aber auch auf die Rolle der neuentstehenden Pressefotografie eingeht. Bedauerlich ist hier vielleicht, dass der Fotografie des Surrealismus so wenig Platz eingeräumt wurde. Stiegler begründet dies zwar mit dem Fehlen einer expliziten Theorie der Fotografie in der surrealistischen Bewegung, zeigt allerdings bei seiner Behandlung der Pressefotografie anhand des Einsatzes von Bildern in der einem 'undogmatischen' Surrealismus nahestehenden Zeitschrift "Documents" selbst, dass theoretische Aussagen sich auch aus bestimmten Einsätzen der Fotografie gewinnen lassen. Angesichts der Bedeutung des Surrealismus für Walter Benjamin, den Stiegler ebenfalls im Kontext des Neuen Sehens behandelt, hätten hier vielleicht weitergehende Aussagen getroffen werden können.

Auch im Kapitel "Photographie und Gesellschaft" wäre mehr Ausführlichkeit möglich gewesen und der Versuch, die jeweiligen behandelten sozialkritischen Ansätze an dieser Stelle durch die Betrachtung von thematisch nahestehenden Filmen zu ergänzen, überzeugt nicht vollständig. Angesichts der Menge von Ansätzen, die Stiegler behandelt, sind Einschränkungen allerdings wohl kaum zu vermeiden, zumal an späterer Stelle sehr genau gesellschaftskritischere Ansätze einer Fotografiebetrachtung aus kulturwissenschaftlicher und diskursanalytischer Sicht vorgestellt werden. Hier ist es sehr interessant zu bemerken, dass im Gegensatz zu den meisten, die sich auf ihn berufen, Michel Foucault selbst die Fotografie kaum unter dem Gesichtspunkt seiner Thesen zur Disziplinargesellschaft analysiert hat, sondern vielmehr im Bezug auf den Piktoralimus der Jahrhundertwende von einem "Fest der Bilder" spricht, bei dem die starren Grenzen zwischen Malerei und Fotografie tendenziell verschwimmen. Dass Stiegler solche eher unbekannten Schriften (auch wenn es sich hier um einen mittlerweile kanonisierten Autor handelt) mit aufnimmt, macht sicherlich eines der Verdienste seines Buchs aus.

Angenehm unaufgeregt ist das letzte Kapitel, das sich dem Übergang zur Digitalfotografie widmet. Den eingangs erwähnten Aussagen vom "Tod der Fotografie" will Stiegler sich nicht anschließen. Er leugnet durchaus nicht, dass sich mit dem Aufkommen der digitalen Fotografie Grundlegendes im Bild geändert hat, weist jedoch darauf hin, dass zum Beispiel die Möglichkeiten der Bildmanipulation schon immer bestanden haben und sich damit keine neue Unsicherheit ins Reich der Bilder einschleicht. Während aber die analoge Fotografie immer noch als "Ikone des Realen" angesehen werden konnte, wird mit der digitalen Fotografie jene Authentizität in ihrer diskursiven und kulturellen Bedingtheit deutlich. Dank der theoriegeschichtlichen Perspektive kann Stiegler hier auf einen eigentümlichen Wandel in der Terminologie hinweisen: bezog sich der Begriff des Simulakrums in der Frühzeit der Fotografie noch auf ihren Status als ein getreues Ebenbild der Wirklichkeit, derer man sich im Bild versichern konnte, so steht er heute für ein Abbild ohne Urbild und zielt letztlich auf die Darstellung der gesamten Wirklichkeit als Simulation ab.

Indem er sich von solchen apokalyptischen Tönen fernhält, gelingt es Stiegler, einen guten und weiterführenden Überblick über die Theorie der Fotografie zu verschaffen, der verdeutlich, dass die Fotografie weit mehr als ein technisches oder künstlerisches Medium ist, sondern auch ein theoretischer Gegenstand, an dem sich die Frage nach Objektivität und Repräsentation, nach dem Status des Subjekts und der Grenzen zwischen Subjekt und Objekt immer wieder neu entzündet.


Titelbild

Bernd Stiegler: Theoriegeschichte der Photographie.
Wilhelm Fink Verlag, München 2006.
472 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3770542169
ISBN-13: 9783770542161

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